Ein Anders

[143] [1.]

Christ sprach O Seel! O Tochter mein

Heb auff dein Creutz/ schick dich darein/

Es kan vnd mag nicht anders sein/

Das Creutz das ich getragen hab/

Mustu vom Hals nicht werffen ab.
[144]

2.

Die Seel zum Creutz sehr langsam kam/

Als wer sie aller Glieder lam/

Vngern das Creutz sie auff sich nam/

Als wann ein Laßt zu tragen wer/

Viel hundert tausent Centner schwer.


3.

Christ sprach O Seel! es hilfft hie nicht/

Es hilfft noch sawr/ noch süß Gesicht/

Dich in das Creutz nur wacker richt/

Es muß doch sein/ dich bieg vnd bück/

Das Creutz muß dir auff deinē Rück.


4.

Die Seel darauff kein Wörtle sagt/

So gar erschrocken vnd verzagt/

Der Angstschweiß ward jhr außgejagt;

Mit einem Fuß zum Creutz zu gieng/

Vnd das mit einer Hand vmbfieng.


5.

Christ sprach: wolauff: greiff zu greiff zu/

Gehertzt das Creutz angreiffen thu:

Berg auff/ Berg ab/ ohn Rast vnd Rhu/

Durch lauter Dörn vnd Distel geh/

Still nirgend steh/ nit vmb dich seh.


6.

Die Seel sprach: O Herr Jesu Christ!

Jch weiß daß du so gütig bist/

Dein Hertz auch lauter Zucker ist/

Warumb bistu mir dann so hart/

Da ich noch bin so iung vnd zart.
[145]

7.

Christ sprach: O Seel sey wolgemuth/

Mein Lieb das Creutz dir geben thut/

Das Creutz bringt dir all Ehr vnd Gut:

Mein Creutz das ist ein thewres pfand

Wem ich das geb/ ist mir bekant.


8.

Als hie die Seel ein Hertz gefast/

Sie allgemach das Creutz antast/

Probiert jhr Sterck/ versucht den Last:

Fragt auch vnd weiter wissen wolt/

Warzu das Creutz jhr dienen solt.


9.

Christ sprach: O Tochter! glaub mir frey/

Daß in dem Creutz dein Wolfahrt sey/

Jch durch das Creutz dich benedey.

Dir helff zu einem grossen Lohn/

Zum Thron/ zum Scepter/ vnd zur Kron.


10.

Darauff die Seel sich kurtz bedacht/

Hub auff das Creutz mit aller Macht/

Sie küst das Creutz/ vnd hertzlich lacht:

Vmb diese Gab danckt sie dem Herrn/

Vnd trug das Creutz von hertzē gern.


Quelle:
Friedrich Spee: Die anonymen geistlichen Lieder vor 1623, Berlin 1979, S. 143-146.
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