9. Liebe vergrössert sich/ wie ein gewelzter Schnee-ball

[162] 1.

Ich wil euch Wunder-Dinge sagen/

wie sich die Liebe pflegt zujagen

und wächset jeden Augen-wink.

Indehm sie wie ein Steubchen scheinet/

wird sie ein Berg/ eh man es meinet.

Ist dieses nicht ein Wunder-ding?


2.

Sobald die Jungfer wird gesehen/

pflegt man ihr künstlich nachzugehen.

Kein einig Blikkchen streichet fort

daß man sie listig zu bewegen/

nicht alles Orts ihr geh entgegen

und wechsle Lieb und Liebes-wort'.


3.

Auff Rede folget Wieder-rede.

Kein Weibes-bild ist je so blöde/

die auff den Gruß nicht danken solt'.

Alsdenn (hält ja die Zunge feste)

so tuht ein süsser Blikk das beste/

und zeuget/ was das Herz gewollt.


4.

So bald des Buhlers Weis' und Sitten

der Schämenden Gemüht bestritten/

und nu die Scheu wird schlecht geachtt/

Denn geht es an ein lieblen/ scherzen/

an Hand-Fuß-drukken/ küssen/ herzen/

So ist der rechte Grund gemacht.
[163]

5.

Bald wird man mehr und mehr gemeine.

Man achtet Ehr und Schande kleine.

Das schlechtste heist: Ein Griff in Zucht.

Was ferner folgt/ darff ich nicht singen/

es möchte mich in Argwohn bringen/

ich hätt' es etwa selbst versucht.


Quelle:
Kaspar Stieler: Die geharnschte Venus, Stuttgart 1970, S. 162-164.
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