9. Abschieds-Gedanken

[99] 1.

O herber Todes-stich! O Dornen-wort!

Rosille/ lebe wol/ ich reise fort.

O Elend sonder End! O Zentner-Pein!

wird meine Seel' alsdenn auch bey mir sein.


2.

Lebt doch mein Leben so wie todt/ in mir

da ich/ mein Rosen-kind/ bin neben dir.

wo meinen matten Geist dein Geist nicht regt

bin ich ein kalter Leib und unbewegt.


3.

Zerreiß/ verwirrtes Herz/ und weiche hin

indehm ich noch bey ihr/ der Schönen/ bin.

Der Trauer-seuffzer/ den sie drüber läst

ist der des Charons Schiff bald überbläst.
[99]

4.

Gewünschte Sterbligkeit! besüßte Ruh!

drükkt Sie/ Rosille/ mir die Augen zu.

der Liebe lezter Dienst/ ein kalter Kuß

wird machen/ daß ich todt auch leben muß.


5.

Was wüntschest aber [du]/ du Armer/ so?

wird Rosilis dardurch auch werden froh?

wird ihrer Augen Brunn denn stille stehn/

und ihr dein Sterben nicht zu Herzen gehn.


6.

So lebe nu vielmehr/ denn bleibt noch Trost

(wo dich das Glükke nicht ganz unterstost)

daß einsten Wiederkehr das bring' herein/

was dich vor Schmerzen nicht läst deine sein.


Quelle:
Kaspar Stieler: Die geharnschte Venus, Stuttgart 1970, S. 99-100.
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