Theodor Storm

Geschichten aus der Tonne

Einer der wackersten Spielkameraden in meinen Knabenjahren war Claas Räuber. Er war der Sohn eines armen Schuhflickers und schon seit mehreren Jahren ein Stadtwaisenkind; den Beinamen Räuber aber hatten seine Genossen ihm gegeben, weil er in dem Spiel »Räuber und Soldat«, das wir an hellen Sommerabenden zu exerzieren pflegten, eine besondere Geschicklichkeit besaß und daher auch stets nur als Räuber ausgehoben wurde. Trotz seines abschreckenden Titels aber war Claas Räuber der ehrlichste und spaßhafteste Bursche von der Welt und besaß außerdem noch ein anderes, von seinen Genossen sehr geschätztes Talent.

An den kurzen Herbstabenden nämlich, wo uns für die ausgelassenen Spiele nach der Schulzeit gar bald das Licht ausging, pflegten wir uns auf den breiten Steinen einer Haustreppe zusammenzufinden, und nun hieß es: »Stücken vertellen.« Hier war nun Claas Räuber wieder der beste und beliebteste Kamerad, denn sein Reichtum an allen möglichen Arten von Döntjes und Schnurren war unerschöpflich. Je heimlicher aber und verborgner wir unseren Märchensaal aufgeschlagen hatten, desto schöner hörten sich die Geschichten an, desto lebendiger traten all die wunderlichen und süßen Gestalten, die verwünschten Prinzen und Prinzessinnen, Schneewittchen und die Frau Holle vor unsere Phantasie; ja ich erinnere mich, daß wir einmal bei einer solchen Gelegenheit ganz deutlich den Niß Puk aus einer Dachöffnung in meines Vaters Scheune herausgucken sahen und infolgedessen einen zwar vergeblichen Feldzug durch die sämtlichen[329] Böden gegen den Kobold unternahmen. Mich vorzüglich trieb jene Vorliebe für heimliche Erzählungsplätzchen zur Entdeckung immer neuer Schlupfwinkel. So hatte ich unter andern eine große leere Tonne dazu ausersehen, welche in einem Packhause unweit meines Vaters Schreibstube stand. In dieser Tonne hab ich die schönsten Geschichten meines Lebens gehört. Sie war das Allerheiligste, das nur von mir und Claas bezogen wurde. Hier kauerten wir abends, wenn ich aus den Privatstunden kam, zusammen, nahmen meine kleine Laterne, die wir zuvor mit einigen Lichtendchen versehen hatten, auf den Schoß und schoben, nachdem wir hineingeklettert waren, ein großes, auf der Tonne liegendes Brett von innen wieder über die Öffnung derselben, so daß wir wie in einem kleinen Stübchen zusammen saßen. Wenn nun die Leute abends nach meines Vaters Schreibstube gingen und ein dumpfes Gemurmel aus der alten Tonne aufsteigen hörten und einzelne verlorene Lichtstrahlen daraus hervorschimmern sahen, so konnte der alte Schreiber nicht genug die wunderliche Ursache davon berichten.

Hätten die lieben Leute bei uns in der Tonne gesessen, so hätten sie wohl selbst Gefallen an unseren Abendunterhaltungen gefunden, wozu ich den Leser nach zwanzig Jahren nachträglich aufs beste eingeladen haben will.


»Nun, Claas«, sagte ich, nachdem ich unser Häuschen gehörig verschlossen hatte, »was hast du denn heute abend?«

»Es ist ein ganz altes Stück«, sagte Claas, »das meiner Großmutter schon von ihrer Urgroßmutter erzählt ist, und die hat gesagt, es sei ein Stück aus der Mauskiste.«

»Nun«, sagte ich, »so erzähle; die Stücke aus der Mauskiste sind mir immer die liebsten gewesen.« Und Claas erzählte:


Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 1967, S. 329-330.
Erstdruck: Köln (Schaffstein) [1919], (Schaffstein's blaue Bändchen, 102).
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