56. Ereignisse und Begegnungen

[409] Kaiserin Elisabeth ermordet! Ein verruchter Dolchstoß in ein stilles, stolzes, weltabgewandtes und schönes Herz. Wieder waren die Trauer und der Schrecken durch die ganze Kulturwelt gedrungen – mit Blitzesschnelle. Immer mehr zeigt es sich, daß diese Kulturwelt nur eine Seele hat. Als ein strahlendes und poetisches Bild wird in der Geschichte das Andenken an die schmerzensreiche, schönheitsbegeisterte Fürstin fortleben. Und daß sie nicht im Bette starb, an Krankheit oder Altersschwäche, sondern zusammenstürzte unter dem Todesstreiche eines fanatischen Irren, gerade als sie den Fuß auf die Schiffsbrücke setzte zu einer neuen Fahrt in die geliebte Naturpracht hinein – das wird – so erschütternd traurig es ist, so hassenswert die Tat, die es verschuldet – das wird jenes Bild mit einem tragischen Zauber umweben. Vom Grau des Alltags hebst du dich ab für alle Zeiten – eine Gestalt in leuchtendem Schwarz – Elisabeth von Oesterreich!

Mein Schwiegervater, damals neunundsiebzig Jahre alt, war seit einiger Zeit, besonders seit dem Tode Lottis, in seiner Gesundheit sehr heruntergekommen. Er machte seine täglichen Spaziergänge[409] nicht mehr, verfiel sehr oft in Schlaf, begann auch manchmal etwas irre zu reden – kurz, sein nahes Ende war vorauszusehen. Dennoch ließ er sich noch immer täglich von seinem Sekretär und treuen Pfleger (der gewesene Hofmeister meines Mannes) die Zeitung vorlesen. Als die Nachricht von der Ermordung der Kaiserin eintraf, eilten wir, Herrn Wiesner (so hieß der Sekretär – bei uns zu Hause wurde er »Dominus« genannt) zu avisieren, daß er die betreffenden Stellen in den Zeitungen dem alten Herrn nicht vorlese. Dem Kaiserhause mit tiefer Hingebung anhänglich, Alt-Oesterreicher bis in die Fingerspitzen, schwärmerischer Bewunderer der schönen Kaiserin, hätte die Todesnachricht ihn furchtbar aufgewühlt, und das wollten wir ihm ersparen.

Nur wenige Tage nach dem Ereignis starb er in den Armen des Meinen. Um fünf Uhr früh waren wir zu seinem Bett gerufen worden. Die Wärterin glaubte, er sei im Sterben, aber bald erholte er sich und lag ganz ruhig da. Gegen neun Uhr – mittlerweile war auch der Doktor geholt worden und alle Familienmitglieder umstanden das Bett – erhob er sich in sitzende Stellung und nahm meines Mannes Hand. »Artur,« sagte er, »du weißt, ich habe immer fleißig gearbeitet – ich sollte auch heute wieder ein paar Briefe schreiben ... da ist schon der Dominus, der aufs Diktat wartet – aber Artur, nicht wahr, ich darf? ... ich möchte heute etwas ausruhen – nur noch ein bißchen schlafen, ja?«

Der Meine legte ihn sanft auf das Kissen zurück ... »Lieber Vater – schlafe! ...«

Der alte Mann schob seinen Arm unter das Kissen und legte sein Gesicht nach der Seite darauf. Mit einem wohligen Seufzer schloß er die Augen und nach wenigen Minuten verfiel er in Schlaf – in den ewigen Schlaf ...

Ueber den Tod der Kaiserin Elisabeth schrieb mir Egidy folgendes:


– – – Das ergreifendste Wort, das angesichts des Todes Ihrer Kaiserin gesprochen wurde, ist das aus dem Munde des eigenen Gemahls: »Es ist nicht zu fassen, wie ein Mensch Hand anlegen konnte an diese Frau, die in ihrem Leben niemand ein Leid zugefügt und nur Gutes getan hat.«

Eine erschütternde Wahrheit liegt in diesem Gedanken, damit aber auch die ernste Aufforderung, diesen Gedanken weiterzudenken.

Vielleicht mußte die schuldlose Frau so jähen Todes sterben, damit tiefes Weh die Besten aller Völker erfasse, damit alle mit dem vereinsamten Gatten und Kaiser klagen, damit wir[410] aber jene Klage weiterdenken und begreifen, wenn der tiefgebeugte Kaiser in demütigem Verstehen zu der Erkenntnis sich durchringt:

»Es sollen fortan überhaupt nicht mehr Men schen, die nie vordem Leid zufügten, feindselig einer dem anderen den tötenden Stahl in das Herz senken. Ich lasse die Menschen, deren Leben meiner Obhut anvertraut ist, fortan nicht mehr auf Schlachtfelder ziehen; ich erziehe die Völker, die meinem Zepter unterstehen, nicht länger mehr zum Kriege. Die Arbeit der Jahre, die mir von der Vorsehung noch zugedacht sind, gehört der inneren und äußeren Vorbereitung der krieglosen Zeit.«


Denselben Gedanken hat Egidy im Oktoberheft seiner »Versöhnung« weiter ausgeführt.


Im Jahre 1898 waren die für Lissabon geplanten Versammlungen ausgefallen. Die iberische Halbinsel wäre, solange der Spanisch-Amerikanische Krieg dauerte, nicht geeignet gewesen, Friedenskongresse vorzubereiten. So traten in diesem Jahre nur die beiden Berner Aemter zu Beratungen (Zweck: Stellungnahme zum russischen Rundschreiben) an anderen Orten zusammen. Die interparlamentarische Union in Brüssel – das Internationale Friedensbureau in Turin, wo eben auch eine Weltausstellung war. Dorthin reisten wir, der Meine und ich, trotz unserer Trauer, zwei Wochen nach der Beisetzung des Vaters in der Familiengruft zu Höflein.

Ein Brief, den ich aus der piemontesischen Hauptstadt einem Freund geschrieben, erzählt von dem dortigen Aufenthalt.


Turin, Grand Hotel d'Europe,

28. September 1898.


Heute hat die hier versammelte Kommission ihre Arbeiten geschlossen. Das Manifest des Kaisers von Rußland hat natürlich die Grundlage und Richtung der Verhandlungen abgegeben.

Sonntag den 25. nahmen die Turiner »Friedenstage« ihren Anfang mit der hundertjährigen Erinnerungsfeier an den piemontesischen Staatsmann Graf Federigo Sclopis. In der großen Aula der königlichen Universität hatte sich das Festkomitee und ein großes Publikum versammelt. Der Saal war übervoll.

General Türr geleitete mich in die vordere Reihe und machte mich mit dem Sindaco von Turin, Baron Casano, dem Statthalter Marchese Guiccioli (ich dachte dabei an Byron, der eine Guiccioli geliebt, die ich in Paris gekannt) und dem Minister Grafen Ferraris bekannt. Wir saßen der Kanzel gegenüber. Als Veranstalter der Feier waren auf den Einladungskarten vierundzwanzig hervorragende Namen angeführt,[411] darunter Biancheri, Präsident der Kammer, Minister Vigliani, die Präsidenten des römischen und des Berner Kassationshofes, der Rektor der Universität, der Präsident der Akademie der Wissenschaften u.s.w.

Als Erster bestieg Rechtsanwalt Luzatti die Kanzel und gab uns einen Lebensabriß von Federigo Sclopis. Er feierte seine Verdienste, darunter als glänzendstes die Rolle, die er als Vorsitzender des Alabamaschiedsgerichtes gespielt.

Dann sprach der Vizepräsident des römischen Senats, zugleich Vorsitzender der römischen Friedensgesellschaft, und nach ihm kam unser Frédéric Passy an die Reihe. Er war in seiner Jugend mit Sclopis befreundet gewesen und konnte daher manches Neue und Interessante aus dem Leben des Gefeierten erzählen.

Um zwölf Uhr war die Feier vorüber. Der übrige Sonntag gehörte dem geselligen Beisammensein und der Ausstellung. Besuchern, welche Kunstfreunde sind, wurden hier mehr Genüsse geboten, als sonst auf derlei Weltmärkten zu finden sind, denn reichhaltiger als überall sind hier die Gemälde- und Skulpturhallen gefüllt und in einem großen, arenagleichen Bau führt ein Orchester von 200 Künstlern wundervolle Konzerte auf.

Daß ich im übrigen von der Ausstellung nicht viel zu erzählen weiß, wer wird das einem Kongreßmitgliede übelnehmen? Man findet seine alten Freunde, lernt neue Gesinnungsgenossen kennen und will dies zu gründlicher Aussprache benützen; so läßt man den Ausstellungspark mit den vielen Pavillons links liegen, setzt sich mit den Kameraden um einen Kaffeehaustisch und bespricht die Dinge, die man auf dem Herzen hat. In erster Linie das Manifest, aber auch was sonst in der Welt vorgeht. Unter anderem die Dreyfusaffäre: die hat jetzt doch jeder mehr oder minder im Sinn. Ein Delegierter aus Paris, Gaston Moch, der selber Artillerieoffizier gewesen und mit dem Verurteilten zusammen diente, weiß da manches Interessante zu erzählen. Er hatte schon im Jahre 1894 hinter die Kulissen der Affäre geblickt und gesehen, daß man den jüdischen Offizier im Generalstab nicht dulden wollte. Ein eigentümlich Ding ward mir auch erzählt: Das »Journal« brachte im Sommer 1894, also noch vor der Dreyfusanschuldigung, einen Feuilletonroman, worin ein Komplott zur Ausmerzung eines unliebsamen Kameraden ausgeheckt und ausgeführt wird: Die Schmuggelung eines gefälschten Papieres in das Auskunftsbureau und ähnliches – eine ganze Kette von Intrigen, wie sie tatsächlich gegen den Unschuldigen ausgeführt wurden, als hätten die Paty, Henry u.s.w. sich den Roman zum Muster genommen.

Montag den 26. versammelten sich die Delegierten zu ihrer ersten Sitzung im Palais Carignan. Man kennt die Pracht der italienischen Fürstenpaläste. Der Saal, in dem wir tagten, ist von eitel Gold; golden die Tapeten, ganz vergoldete Türen[412] und Fensterläden. Nebenan – ebenso goldstrotzend – das historische Zimmer, in welchem Viktor Emanuel geboren wurde.

Da der Präsident des Bureaus sich nach Brüssel begeben mußte, um der Sitzung des Interparlamentarischen Amtes beizuwohnen, so wurde der Vorsitz unserer Verhandlungen dem Rechtsanwalt Luzatti übergeben. Von den eingelaufenen Begrüßungsschreiben will ich nur dasjenige des italienischen Ministerpräsidenten zitieren:

»Unser Land – auf Grund der Prinzipien, die dessen Wiedererhebung inspiriert haben, auf Grund seiner Ideale der Gesittung sowie seiner politischen Interessen – unser Land muß wünschen, daß in zwischenstaatlichen Fragen die juristische Vernunft über den Appell an die Gewalt obsiege. E. Visconti-Venosta.«

Der erste Verhandlungsgegenstand drückt sich deutlich im Text des gefaßten Beschlusses aus: »Die Versammlung ist der Meinung, daß die Vereine in der ganzen Ausdehnung ihrer Aktionssphäre Kundgebungen aller Art organisieren sollen, in Form von Petitionen, Meetings zugunsten des Gelingens des Zarenvorschlags, und ladet die Vereine ein, die Ergebnisse dieser Kundgebungen dem Internationalen Bureau in Bern mitzuteilen, welches denselben die größtmögliche Publizität geben wird.«

Die englischen Delegierten konnten mitteilen, daß in ihrem Lande in dieser Richtung bereits zahlreiche Manifestationen stattgefunden haben. Politische Führer aus dem Parlament haben sich angeschlossen: Sir William Harcourt, Morley, Marquis of Ripon, Earl Crewe, Bryce, Sir John Lubbock, Sir Alfred Lawson, Spencer Watson u.s.w. Daneben zahlreiche Bischöfe und die drei englischen Kardinäle: Vaughan, Loyne und Gibbon. In dem unlängst abgehaltenen Kongreß der Trade-Unions wurde einstimmig und begeistert folgendes votiert: »Dieser Kongreß der organisierten Arbeiter, der die industriellen Klassen Großbritanniens und Irlands repräsentiert, begrüßt mit Genugtuung die Botschaft des Zaren und ruft die Regierung auf, dieselbe möge alle legitimen Mittel zu deren Erfolg anwenden, da der Militarismus ein großer Feind der Arbeit und eine grausame Last für die sich plagenden Millionen ist.«

Diese Haltung der englischen Arbeiter – dies sei zwischen Klammern bemerkt – ist doch jedenfalls förderlicher als die der Sozialisten anderer Länder, welche die Absichten des russischen Kaisers verdächtigen und die sagen: »Frieden und Abrüstung, ja – aber wir wollen es machen, wir ganz allein und nach unserer Weise.« – Was aber der ganzen Menschheit frommen soll, das muß von allen gemacht werden, das kann nicht das Werk einer Klasse und gegen andere Klassen sein.

Elie Ducommun stattete Bericht über die Ereignisse des Jahres ab, die dasselbe als eines der unglücklichsten und entmutigendsten[413] für die Bewegung stempeln könnten, wenn es nicht mit dem Vorschlag des russischen Kaisers, offizieller Untersuchung der Mittel zur Herbeiführung gesicherten Friedens und Einschränkung der Rüstungen, abgeschlossen hätte. Uebrigens seien noch zu den Aktiven des Jahres zu rechnen: das Uebereinkommen Frankreichs mit England in der Nigerfrage; das Schiedsgericht zwischen Frankreich und Brasilien und schließlich der Abschluß eines ständigen Schiedsgerichtsvertrags zwischen Italien und der argentinischen Republik.

Anläßlich dieses Vertrages30 – des ersten in seiner Art –, der als zu befolgendes Beispiel von größtem Segen werden kann, hat die Versammlung eine Glückwunschdepesche an die italienische Regierung abgeschickt.

Dagegen wurde mit Sorge der Gefahr gedacht, die eben jetzt von Argentinien her droht, welches auf dem Punkte steht, mit der Republik Chile Krieg zu führen. Es wurde vorgeschlagen, man möge im Namen des Friedensbureaus eine Vertrauensperson nach Argentinien und Chile entsenden, um bei beiden Präsidenten dafür zu plädieren, daß die schwebende Streitfrage einem Schiedsgericht unterbreitet werde. Vielleicht würde unserem Abgeordneten kein Gehör geschenkt, möglicherweise fällt aber ein Wort, das im Namen von zweihundert Vereinen der Alten und Neuen Welt übermittelt wird, dennoch in die Wagschale der Entschließungen ...

Dr. Evans Darby wendete ein, der Ausbruch der Feindseligkeiten stehe schon sehr nahe, der Abgeordnete käme sicherlich zu spät, es würde sich die Absendung von Kabeltelegrammen empfehlen.

Demzufolge gingen am selben Tage im Namen der Turiner Versammlung zwei Depeschen nach Valparaiso und Buenos Aires ab, worin den beiden Regierungen ans Herz gelegt wird, einen Krieg zu vermeiden, der gerade jetzt angesichts der bevorstehenden, vom russischen Kaiser angeregten Konferenz ein beklagenswertes Hemmnis abgeben würde.

Die sofort abgeschickten Kabeldepeschen31 kosteten neunhundert Franken. Verschwenderische Friedensfreunde! – Wenn man denkt, wie sparsam die Kriegsverwaltungen sind ...


Am 29. fand im Circolo filologico ein Vortragsabend für das große Turiner Publikum statt. Im Riesensaal kein leeres[414] Plätzchen. General Türr hielt die erste Ansprache und zitierte Stellen aus dem Appell Garibaldis an die Regierungen. Hierauf folgte ich mit Vorlesung meiner Novelle »Es müssen doch schöne Erinnerungen sein« von dem Dichter F. Fontana, unter dem Titel »Bei Ricordi« zu diesem Anlasse ins Italienische übersetzt. Dann sprachen Emile Arnaud, Professor Ludwig Stein von der Universität Bern, Novicow u.a.

Das Publikum war in so mitvibrierende Begeisterung geraten, daß ich den Mut fand, im Lärm des Schlußapplauses noch einmal auf die Tribüne zu steigen, um an die Versammelten eine kurze Ansprache zu richten, worin ich sie bat, unsere Worte nicht mit bloßem Händeklatschen zu lohnen – wir seien keine beifallheischenden Künstler – wir seien schlichte Kämpfer für eine heilige Sache – sondern durch Anschluß: sie mögen heraufkommen und ihre Namen einzeichnen. Dieser Aufforderung wurde willfahrt, und durch den Vortragsabend hat sich die Mitgliederliste des Turiner Friedensvereins um viele und einflußreiche Namen vermehrt.

Dieser Verein besitzt auch eine Abteilung im Ausstellungsgebäude. Interessant sind die Eintragungen in dem dort aufliegenden Buch. Sogar arabische und chinesische befinden sich darunter. Auch Zwiegespräche: »Je n'y crois pas,« schrieb einer. »Je vous plains de tout mon cœur,« setzte ein anderer darunter. Der Sohn Tolstois schrieb in das Register: »Quale è lo scopo della guerra? L'assassinio.«


Nach Oesterreich zurückgekehrt, war es unsere erste Sorge, eine Versammlung zu veranstalten, um für das Ziel des russischen Rundschreibens zu agitieren. Oberstleutnant von Egidy kam meiner Bitte nach, in dieser Versammlung, die am 18. Oktober im Ballsaale Ronacher stattfand, als Redner aufzutreten. Es war zum erstenmal, daß er in Wien sprach. Wenn sie auch seine ganze Bedeutung nicht kannten, neugierig waren unsere Wiener doch in hohem Maße auf den berühmten Oberstleutnant a. D. aus dem Reiche. Daß er um seiner Ueberzeugung willen, die er in der Schrift »Ernste Gedanken« ausgesprochen, den Militärdienst verlassen mußte, das war allgemein bekannt.

Ein Bekannter, Graf X., den ich eingeladen, dem Vortrage beizuwohnen, schrieb mir: »Ich habe nie eine Zeile von Egidy gelesen. Aber ich vermag Ihre Ansicht über ihn nicht zu teilen, denn erstens kann ich die Preußen nicht leiden; zweitens, wenn ein Soldat etwas so Unanständiges (!) getan, daß er nicht weiterdienen kann, so muß ich verwerfen, was er spricht, und wäre er so weise wie Aristoteles.«

Je nun, es gibt Gestalten in der Geschichte, die sogar so Unanständiges getan, daß sie nicht nur die Uniform ablegen, sondern[415] Schierlingsbecher leeren und auf dem Holzstoß oder am Kreuze sterben mußten – die wären wohl bei meinem Herrn Grafen einer noch stärkeren Kritik verfallen.

Eine Stunde vor Beginn wurden die Saaltüren geöffnet, und die schon lange wartende Menge stürzte im Eilschritt hinein. Der große Raum war rasch gefüllt, auf der Galerie stellten sich die Leute hinter den Sitzreihen auf. Der Zutritt war frei: »Jedermann geladen« – so wollte es Egidy.

Am Präsidiumstische neben mir nahm der Regierungsvertreter Platz. Ich sagte einige einleitende Sätze, dann trat Egidy vor, und – wie Glockenton klangen seine Worte hinaus. So war es immer, wenn dieser Redner sprach: Erz in der Stimme, Gold in den Worten, Weihe im Raum.

Die Zarenbotschaft gab den Text ab.

Nachdem er auseinandergesetzt, was in dieser Botschaft enthalten ist, ließ Egidy die verschiedenen Arten des Unverständnisses und der Mißdeutung Revue passieren, welchen sie in der Welt begegnet ist. Die rings erhobenen Zweifel und Fragen, die von den Kulturbremsern (das ist so ein Wort Egidyscher Prägung) aufgezählten Detailschwierigkeiten – das alles beantwortete und erläuterte er in klarer, mitunter witziger, immer logisch knapper Weise. Und die Zuhörerschaft vibrierte mit; bei jeder satirischen Pointe ging ein Lachen, bei jeder Anspielung ein verständnisvolles Surren durch den Raum. Man hätte glauben müssen, alle seien von des Redners Meinung durchdrungen, dennoch wie viele von den Anwesenden werden wohl noch vor ein paar Stunden gesagt haben, was sich ja als gangbare Mehrheitsansicht in Umlauf gesetzt hatte: »Der Abrüstungsvorschlag? ... Hm ... politischer Schachzug – gelegte Falle – praktisch unausführbare Schwärmerei ...« Am charakteristischsten von diesem gangbaren Skeptizismus ist mir das Bild eines Abgeordneten (Mitglied der Interparlamentarischen Union noch dazu) eingeprägt geblieben, der, nachdem ich über das Manifest eine Zeitlang gesprochen, den Kopf nach meiner Seite warf und mit listigem Augenzwinkern sagte: »Glauben S' die G'schicht?« ...

Dieses Wort wurde zwischen dem Meinen und mir geflügelt; so oft der eine dem anderen etwas ganz Zweifelloses, Einfaches mitgeteilt hatte, setzten wir unsere pfiffigste Miene auf und zischten: »Glauben S' die G'schicht?«

Nach dem Vortrag war Egidy unser Gast bei einem Souper, das wir im Verein mit Baron Leitenberger und noch einigen Freunden ihm zu Ehren bei Sacher veranstaltet hatten. Dabei spielte sich ein[416] hübscher Auftritt ab. In unserer Gesellschaft befand sich ein ehemaliger Offizier, jetzt Abgeordneter und Vizepräsident der österreichischen Interparlamentarischen Gruppe, Herr von Gniewocz. Dieser brachte das Gespräch auf den Feldzug 1866, den er mitgemacht. Egidy erzählte nun, daß er auch dabei gewesen, und da riefen beide Herren einige Episoden ins Gedächtnis zurück, darunter eine, bei der es sich – durch Anführung von Details – herausstellte, daß sich die beiden persönlich als Gegner gegenüberstanden. Und nun waren sie hier, beide als Anhänger und Kämpfer für die Friedenssache in froher Festlaune vereint. Diesem Souper war auch der damals in Wien anwesende Mark Twain zugezogen. Der amerikanische Humorist benutzte den Zwischenfall Egidy-Gniewocz zu einer brillanten, zugleich witzigen und gefühlvollen Improvisation. Er hatte auch dem Vortrage beigewohnt, war von der Versammlung erkannt und zum Sprechen aufgefordert worden. Da hatte er die Tribüne betreten und sich bereit erklärt – er trage zwar nur ein Federmesser bei sich –, sofort abzurüsten.


Einige Tage später sollte ich einen Mann persönlich kennen lernen, der in der Friedensbewegung einen der hervorragendsten Plätze einnimmt und mit dessen Wirken und Arbeiten ich schon längst bekannt war: W. T. Stead. Ein mit diesem Namen gezeichnetes Telegramm aus Wien forderte mich auf, mit dem Absender, der auf der Durchreise sei, eine Zusammenkunft zu verabreden. Freudig entsprach ich diesem Wunsche, und am folgenden Abend verbrachte ich mehrere Stunden mit dem berühmten englischen Publizisten, bei frugalem Souper und angeregtester Unterhaltung. Wir sprachen über hunderterlei Dinge.

In der äußeren Erscheinung: Gentleman, leicht ergrauende Haare und Vollbart; edle, offene Züge, Alter 49; in der Unterhaltung voll witziger Einfälle und umfassendem Weitblick. Was ihn charakterisiert, konnte man nennen: die Energie der Sanftmut, Weichheit und Tatkraft – dazu Humor; das scheinen die hervorragendsten Züge seines Wesens.

Sohn eines protestantischen Geistlichen, ist er in strengem Kirchenglauben aufgewachsen. Seither jedoch zu Geistesfreiheit, zur Abstreifung jeglichen Dogmas gelangt, ist ihm ein tiefreligiöser Geist geblieben, und er ist von der Ueberzeugung durchdrungen, daß der Geist des Guten – Gott – diese Welt allmählich zur Vollkommenheit lenkt und sich dabei begeisterter Menschen als Werkzeuge bedient; Menschen, welche wissen, daß sie im Dienste eines hohen Prinzips[417] wirken und durch den Rückhalt, den sie an ihrer göttlichen Sendung haben, sich gekräftigt und gehoben fühlen, voll froher und mutiger Zuversicht.

Zweck seiner Reise war, zu eruieren, wie man sich in den verschiedenen Ländern, namentlich in den offiziellen Kreisen, zu dem Manifest des russischen Kaisers verhält, und besonders auch, welche Richtung der Zar selber und seine Minister der kommenden Konferenz zu geben gedenken.

Er war auf einer Rundreise durch Europa begriffen und kam gerade von Livadia, noch unter dem Eindruck zweier längerer Unterredungen, die ihm der junge Zar gewährt hatte. Nicht als Journalist war er empfangen worden, sondern dieser Vorzug ward ihm auf Wunsch des verstorbenen Kaisers Alexander III. zuteil. Vor ungefähr zehn Jahren war in der öffentlichen Meinung in England ein ganz falsches Bild des russischen Selbstherrschers verbreitet. Man schilderte ihn als mürrisch, gewalttätig und lügenhaft. Und namentlich galt es für ausgemacht, daß er auf dem Punkte stehe, einen Weltkrieg zu entfesseln. Dem Publizisten Stead gelang es, diese Ansicht zu zerstreuen. Er wurde im Jahre 1888 am kaiserlichen Hoflager zu Gatschina empfangen, und der Kaiser hatte mit ihm eine ganz offene Unterredung geführt. Als Stead heimkam, konnte er allseitig berichten, daß Alexander III. ganz das Gegenteil der landläufigen Vorstellung sei, ein Feind aller Lüge und von heftigstem Abscheu gegen den Krieg erfüllt. Diese Mitteilungen haben die öffentliche Meinung umgestimmt und können dazu beigetragen haben, daß die schwebende Kriegsgefahr abgewendet wurde.

Was mir Stead von dem Eindruck erzählte, den er während seiner Audienzen von Nikolaus II. empfangen, ließ darauf schließen, daß der junge Kaiser von der Sache des Manifestes durchdrungen sei.

Ich klagte über die Verständnislosigkeit, den Stumpfsinn und mitunter auch feindliche Tücke, denen jene Botschaft begegnet, denn die Enttäuschung war mir eine unerhörte gewesen; so fest hatte ich geglaubt, daß, mit Ausnahme kleiner Kreise, die Welt in Jubel ausbrechen müsse, wenn ihr die Hoffnung so nahe gebracht wird, von ihrem drückendsten Alp befreit zu werden. Darauf antwortete Stead:

»Das Manifest ist ein Spiegel – eine Art Zauberspiegel. Man hält es vor die Menschen hin, die man kennen lernen will, und je nachdem sie urteilen, spiegelt sich klar ihres Geistes und ihres Charakters Bild.« – »Da sich aber fast überall ein kleines, garstiges Bild zeigt,« klagte ich weiter, »da durch Mißtrauen, Lauheit, offenen[418] und versteckten Widerstand dem vom Zar aufgesteckten Ziel entgegengearbeitet wird, so kann das hohe Werk noch scheitern ...«

»So kleingläubig? ... Sie? ... Solches Wort kann verzögert werden. Doch ganz zum Schweigen gebracht? Nimmermehr. Ich selber, als ich die europäischen Städte bereiste, fing an zu verzagen, aber was ich in Rußland erfahren, hat mich wieder aufgerichtet. Der Kaiser will – glaube ich – da er die Hand an den Pflug gesetzt, nun auch eine Furche ziehen, und seine drei Minister sind bei der Sache. Der eine ist Kuropatkin, der Kriegsminister, dessen Ehrgeiz dahin geht, die Rüstungen aufzuhalten; der zweite ist der Finanzminister Witte; der dritte Graf Lamsdorff, Schüler und Nachfolger Giers', der die arbeitende Kraft im Ministerium des Aeußern ist.

»Was die Aufgaben der bevorstehenden Konferenz betrifft,« so erzählte Stead weiter, »so denken selbstverständlich weder der Zar noch irgendeiner seiner Minister an eine Abrüstung im eigentlichen Sinne des Wortes; eine solche soll auch gar nicht vorgeschlagen werden. Das praktische Ziel der Verhandlungen soll dahin gehen, einen Stillstand in den stets wachsenden Rüstungen herbeizuführen.«

Auf seiner Reise hat Stead auch den Staatsrat von Bloch, den Verfasser des großen Werkes »Der Krieg«, aufgesucht. Dieses Werk soll auf den Zaren – schon als er noch Kronprinz war – großen Eindruck gemacht haben und dürfte vielleicht den Impuls zu dem Reskript gegeben haben. Auf Steads Frage, was er (Bloch) von der Konferenz erwarte, antwortete dieser: »Meine Idee über das, was am nützlichsten getan werden könnte, wäre: Wenn die Konferenz nach ihrer ersten Session ein Komitee ihrer fähigsten Mitglieder ernennen würde, das mit einer Enquete betraut wäre über das Maß, in welchem die moderne Kriegführung unter den gegenwärtigen sozialen Bedingungen praktisch unmöglich geworden ist, unmöglich nämlich ohne bisher unerhörte Lebensopfer auf dem Schlachtfelde, ohne vollständigen Zusammenbruch des gesellschaftlichen Gebäudes, ohne unausweichlichen Bankrott und drohende Revolution.«

Von Wien aus ist Stead nach Rom gefahren, wo er vom Papste einige ermutigende Worte zu hoffen hörte, um so mehr, als Leo XIII. sich schon mehrere Male in dem gleichen Sinne ausgesprochen hatte. Es ist Stead jedoch nicht gelungen, eine Audienz im Vatikan zu erlangen.

Der russische Minister Murawjew war gleichfalls auf einer Rundreise durch Wien gekommen, wo er sich zwei oder drei Tage[419] aufhielt, um hier wie in den übrigen Hauptstädten bei Hofe und bei den Ministern Rücksprache zu pflegen und sich persönlich zu überzeugen, welche Aufnahme das Reskript gefunden; – unter welchen Voraussetzungen die Staatsoberhäupter sich bereitfinden würden, die Konferenz zu beschicken.

Ich erbat mir eine Unterredung vom Minister, und er ließ mir umgehend sagen, daß er mich gerne am folgenden Vormittag im Palais der russischen Botschaft, wo er abgestiegen war, empfangen wolle.

Wir hatten kaum den Salon betreten (mein Mann begleitete mich), als bei einer anderen Tür Graf Murawjew hereinkam. Mittelgroß, grauer Schnurrbart, freundliches, rundes Gesicht. Trotz einiger Kälte und Gemessenheit sympathische Erscheinung. Wie alle russischen Grandseigneurs verbindlichste Umgangsformen und tadelloses Französisch. Es freue ihn unendlich, so begrüßte er mich, eine eifrige Verfechterin der Idee kennen zu lernen, zu deren Aposteln der Zar und seine Regierung sich jetzt gemacht haben – eine Idee, von der er zuversichtlich hoffe, daß sie nach und nach die Welt erobern werde.

Aus der fast einstündigen Unterhaltung habe ich sofort, als ich nach Hause kam, folgende Aeußerungen des Grafen in mein Tagebuch notiert:

Es sei nicht zu hoffen, daß das Ziel in kurzer Zeit erreicht sein werde. Man brauche nur an die Genfer Konvention zu denken, auch da hat es Jahre gebraucht, bis es zu der jetzigen umfassenden Organisation gekommen ist. Auf einmal muß immer nur ein Schritt gemacht werden. Vorläufig ist der Stillstand der Rüstungen die erste Etappe. Es sei nicht zu hoffen, daß die Staaten in gänzliche Abrüstung oder auch nur in Verminderung des Kontingents willigten, aber wenn man zum vereinbarten Innehalten in dem »Wettlaufe zum Ruin« gelangte, so wäre das schon ein günstiges erstes Ergebnis. Fortan müsse dahin gearbeitet werden, den Weltfrieden auf sichere Basis zu bringen, da ein Zukunftskrieg ein Ding des Schreckens und des Ruins – eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit wäre; die gegenwärtigen Heeresmassen im Felde zu verpflegen wäre unausführbar – das erste Ergebnis eines zwischen den Großmächten geführten Krieges wäre die Hungersnot ...

Aus den letzten Worten hörte ich den Widerhall aus Blochs Doktrin heraus, und das stimmt zu der Annahme, daß das Werk des russischen Staatsrats mit den Anstoß zur Abfassung des Reskripts gegeben. Nur hatte Bloch zu dem Worte Hungersnot noch Revolution und Anarchie gefügt.[420]

Aus dem, was Murawjew über seine eben gemachte Rundreise erzählte, ließ sich schließen, daß seine Anwesenheit und Intervention zur Folge hatte, daß dem Faschodakonflikt die Spitze abgebrochen worden. Es ließ sich auch schließen, daß es ihm aus der Rücksprache mit den verschiedenen Machthabern klar geworden, daß vorläufig keine Neigung besteht, in Herabsetzung der Heere oder in prinzipielle Abschaffung von Krieg und Kriegsmacht zu willigen; und angesichts dieser Schwierigkeit mußte ein Boden gefunden werden, auf dem man gemeinsam zu einem ersten Schritt – Rüstungsstillstand – gelangen könne. »Man kann nicht hoffen,« sagte er, »daß schon bei dieser ersten Konferenz das große Endziel erreicht werde.«

»Es würde genügen,« bemerkte ich, »wenn sich die Mächte einigten, in den nächsten zwanzig – oder doch zehn Jahren – keinen Krieg zu führen.«

»Zwanzig Jahre – zehn Jahre! Vous allez trop vite, madame. Man könnte schon zufrieden sein, wenn eine solche Vereinbarung für drei Jahre geschlossen würde. Aber ich glaube, auch das wird nicht verlangt werden. Vor allem soll man sich verpflichten, keine Steigerung der Kontingente, keine Neuanschaffung von Vernichtungswerkzeugen vorzunehmen. Die ewigen Mehrforderungen bedeuten ja stets einen Kampf zwischen den Kriegs- und Finanzministern.«

»Friedensministerien sollte man einsetzen,« unterbrach mein Mann.

»Friedensministerien?« wiederholte er nachdenklich ... »Nun ja, Schiedsgerichte, Völkertribunale ...« Und mit großer Sachkenntnis sprach er von allen Postulaten der Friedensbewegung.

»In meiner Jugend,« erzählte er, »als die Bewegung noch in ihren Anfängen war – ich war damals Attaché in Stockholm –, habe ich mich als Mitglied der Liga eingeschrieben.«

Ich berichtete einiges aus dem Stand und Fortgang der Bewegung. Vieles davon war ihm bekannt. Die Namen der hervorragenden Vertreter, die ich erwähnte, sind ihm geläufig: von Egidy sprach er zuerst. Ich überreichte ihm die Broschüre Houzeau-Descamps', einige Aufrufe und Artikel. Er bat mich, ihn auch ferner auf dem laufenden zu halten.

Als ich am Schlusse meine Freude darüber ausdrückte, die Hand, die jenes epochemachende Manifest geschrieben, drücken zu dürfen, antwortete er:

»Je n'y suis pour rien – ihr einziger Verfasser ist mein erhabener Souverän.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –[421]

Der spanisch-amerikanische Friedensschluß wurde in Paris unterzeichnet. Unser Kollege Emile Arnaud richtete an die mit dieser Transaktion betraute Kommission eine Eingabe, worin unter anderem die Anbahnung eines spanisch-amerikanischen Schiedsvertrages suggeriert wird. Vom Vorsitzenden der spanischen Kommission lief folgende Antwort ein:


Geehrter Herr Präsident!


Ich habe Ihren geschätzten Brief vom 4. ds. erhalten, in welchem Sie mir die Ehre erweisen, mir die Resolutionen der Turiner Delegiertenversammlung mitzuteilen. Die Wünsche der Kommission, deren Vorsitzender ich bin, sowie meine eigenen persönlichen Gefühle sind in Uebereinstimmung mit den von der Friedensliga so edel verfolgten Zielen. Alle rechtdenkenden Menschen, deren Seele über die Konflikte erhaben sind, die aus den Leidenschaften und Interessen der Kolonialpolitik entstehen, sind heutzutage darin einig, die Notwendigkeit anzuerkennen, daß die Streitigkeiten zwischen den Völkern durch das einzige, vernünftiger und freier Wesen würdige Mittel geschlichtet werden sollen. Unsere Kommission war bisher und wird auch künftighin von diesen Ideen durchdrungen bleiben, und sollten diese schönen Bestrebungen scheitern, so wird es nicht ihre Schuld sein. Ich danke Ihnen unendlich für die liebenswürdigen Anträge, die Sie mir im Namen der Friedensliga machen, und bleibe Ihr hochachtend ergebener

Montero Rios.


Die Dreyfusaffäre hat sich immer mehr zu einem Verzweiflungskampf zugespitzt; das militaristische System kämpft um seine bedrohte Autorität. Dabei hat sich etwas Erfreuliches vollzogen: Die Verbindung der Intellektuellen mit den Arbeiterkreisen.


General Türr hatte Audienz bei König Humbert. Er sprach dabei – im Hinblick auf die vom Zaren einberufene Konferenz – von der Notwendigkeit, den Zweibund mit dem Dreibund zu verschmelzen und eine europäische Konföderation zu bilden. »Diese Tatsache verdient notiert zu werden,« schrieb ich neben die Nachricht in mein Tagebuch.

Eine gar traurige Eintragung finde ich unterm 30. Dezember:

Egidy tot!

Gestern früh, von einer Vortragsreise zurückgekehrt, ist er einem akuten Herzleiden erlegen. Weiter weiß ich noch nichts – ich weiß nur, daß eine Lücke in mein Leben gerissen ist, denn ich habe diesen[422] Edlen warm geliebt – in dankbarer Bewunderung zu ihm aufgeschaut ... Sein Einfluß wird fortleben – aber das, was er noch getan und gewirkt hätte mit seiner persönlichen Zaubergewalt, das ist nun dahin ... Moritz von Egidy, leb wohl!

Einige Zeit später erhielt ich von seinem Sohne folgenden Brief:32


Kiel, den 17. März 1899. Marineschule.


Hochzuverehrende Frau Baronin!


Verzeihen Sie, daß erst die erneute Uebersendung der Februarnummer Ihrer Monatsschrift mir den Anstoß gibt, meinen Dank nun nicht länger hinauszuschieben.

Welch einen wohltuenden Ausdruck haben Sie für Ihre und unsere Trauer in den Worten gefunden: »Das Bewußtsein, daß ein Egidy da ist«;33 innig und von ganzem Herzen danke ich Ihnen für das Wort; es ist mir so unendlich mehr wert als viele, viele, auch sehr liebe und wohlgemeinte Worte, weil es – es mag wohl wenig altruistisch klingen, soll aber[423] deshalb nicht unausgesprochen bleiben – weil es einen Gedanken belebt, der mir in der Empfindung lag, für den ich aber noch keinen Ausdruck gefunden. Ich weiß nicht, ob Sie dieses unmittelbare Gefühl des Dankes kennen, das über einen in solchem Falle kommt, und welches ich Ihnen darbringen möchte.

Um so mehr tut es mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie über Vaters Beerdigung schlecht berichtet worden sind; schlecht namentlich um deswillen, weil der Bericht so gar nicht in Vaters Geist gehalten ist. Es fehlt die Anerkennung der mutvollen, großherzigen Tat des Geistlichen, des Hofpredigers Rogge, dessen Gestalt im Gegenteil dadurch, daß seiner nur bei der Gelegenheit erwähnt wird, wo er, der Vorschrift unserer Kirche (in der der Vater doch geblieben ist) Genüge tuend, den Segen spricht, in ein ganz falsches Licht gerückt erscheint. Jawohl, eine Tat war es, und eine mutvolle auch, für einen königlich preußischen Hofprediger, der am nächsten Tage vielleicht vor dem Kaiser in der Potsdamer Garnisonskirche gepredigt hat, solche Worte zu sprechen, wie Frau Baronin sie im Februarheft der »Versöhnung« finden, und der Eindruck dieses seines Tuns auf die Versammelten war ein ganz außerordentlicher, wie dies auch rückhaltlos von Menschen anerkannt wurde, die vielleicht seit Jahrzehnten zum ersten Male einen Geistlichen wieder hörten, und die mit der stillen Befürchtung hingekommen waren, ihre liebevollen Gefühle gegenüber dem Vater in irgendeiner Weise verletzt zu sehen. – Ja, der lange Weg zum Grabe; aber doch hat er mir und der prächtigen Mutter, die ich führen durfte, eine so felsenfeste Zuversicht ins Herz gegossen; unsere Blicke wurden immer wieder von dem blendend weißen Reiherstutz auf der Husarenpelzmütze angezogen, die da vor uns hernickte, im Gleichschritt der Träger; der weiße Federbusch, nach oben zeigend, wurde für uns ein Symbol in den sich senkenden Schatten des Abends – Sie kennen doch sein Wort: »Vorwärts, aufwärts!«

Von besonderem Interesse war mir die Nachricht auf S. 61 über die Resolution der englischen organisierten Arbeiterschaft (es sind wohl die Trade- Unions darunter verstanden), da ich gerade am Abend, bevor ich das Buch erhielt, eine längere Auseinandersetzung mit dem Professor, der uns hier an der Akademie Geschichte vorträgt, hatte; er führte mir gegenüber aus, infolge des englischen Wahlgesetzes würde die ausschlaggebende Macht im englischen Parlament sich immer mehr nach der Seite der Masse, d.h. der Arbeiter, wenden, und darin liege die Hauptgefahr für den Frieden, denn der Instinkt der Masse sei immer auf den Krieg gerichtet, namentlich in England, wo den Leuten ihre imperialistischen Ideen, gepaart mit einem immer mehr sich ausprägenden Nationaldünkel, in den Kopf steigen.[424]

Eine treffendere Antwort als die genannte Resolution kann ich mir auf diese Behauptung kaum denken.

Habe ich Ihnen schon früher erzählt, Frau Baronin, daß ich den »Marmaduke« (im englischen Text) einem französischen Seeoffizier mit der Widmung »Un souvenir nos idées qui se rencontraient« geschenkt habe, und zwar nach einer Rede, die in Gegenwart von französischen Armee- und Marineoffizieren, Beamten und Kaufleuten, allerdings morgens um vier Uhr in unserer Offiziersmesse auf dem »Seeadler«, auf die Alliance franco-allemande gehalten wurde, und das nahe vor Faschoda, wo die russische Freundschaft eine noch sehr dicke war. Die Tatsache ist deshalb bemerkenswert, weil der Franzose sonst in größerem Kreise ganz außerordentlich vorsichtig und zurückhaltend ist. Uebrigens wurde die Rede von einem französischen Arzt gehalten, der mit Marchand die Expedition mitgemacht, auf der mangelnde Unterstützung seitens seiner rückwärtigen Stationen ihn zur Umkehr zwangen. Man wußte damals im April 1898 in Madagaskar ganz genau, daß eine französische Expedition am Nil angekommen sein müsse oder in nächster Zeit ankommen werde – man erwartete eigentlich jeden Tag die Nachricht darüber.

Ich schließe mit der Bitte, mich dem Herrn Gemahl sehr empfehlen zu wollen, und küsse Frau Baronin die Hand als

Ihr sehr ergebener

Moritz von Egidy.

30

Ein Vertrag ohne jegliche Einschränkung. (Anmerkung von 1908. B. S.)

31

Tatsache ist, daß wenige Tage darauf der Streitfall dem Schiedsspruche der Königin von England unterbreitet wurde. Später haben die beiden Republiken miteinander einen ständigen Vertrag geschlossen, jede künftige Streitigkeit vor das Haager Tribunal zu bringen und haben infolgedessen ihre Rüstungen eingeschränkt, ihre Kriegsschiffe verkauft. Zum Andenken an dieses Abkommen wurde auf einem Gipfel des Grenzgebirges – die Anden – eine riesenhafte Christusstatue aufgestellt. (Anmerkung von 1908. B. S.)

32

Es war nicht sein erster Brief an mich. Wenige Monate früher hatte der junge Egidy mich aus weiter Ferne mit folgendem Schreiben überrascht und erfreut:

S. M. S. »Seeadler«.

Tulléor (Madagaskar), 20. April 1898.

Gnädige Frau Baronin!

Als erster deutscher Seeoffizier, der nach dem siebziger Kriege vom Bord eines Kriegsschiffes aus heute französischen Boden betritt, erlaube ich mir, Ihnen diesen ehrfurchtsvollen Gruß zu senden.

Es ist keine große politische Aktion, die uns hierherführt, aber die Tatsache an sich, daß deutsche Kriegsschiffe wieder französische Häfen anlaufen, ist symptomatisch und wird von Ihnen gewiß mit Genugtuung begrüßt; deshalb wollte ich mir die Freude nicht versagen, Ihnen von derselben Kenntnis zu geben.

Es drängt mich, gnädige Frau, Ihnen bei dieser Gelegenheit den Dank des Sohnes auszusprechen für die treue »Waffen« brüderschaft, die Sie dem Vater halten – ich weiß, wie wertvoll sie für ihn ist und wie dankbar er sie empfindet.

Mit der Bitte, mich Ihrem Herrn Gemahl gehorsamst zu empfehlen, bin ich

Ihr hochachtungsvoll ergebener

Moritz von Egidy, Leutnant zur See.

33

Die Stelle aus meinem Nachruf, auf die hier angespielt ist, lautete:

Das Bewußtsein, daß ein Egidy da ist, das war ein so beruhigendes, stärkendes, frohes Bewußtsein. Wir hatten ihn: dieser Besitz war gleichsam wie der Besitz eines Scheckbuches. Brauchte man irgendwie Stütze, Stärkung, Mithilfe in einem geistigen Kampf, in einem ethischen Dilemma – man brauchte den Scheck nur vorzuweisen: Egidy honorierte ihn rasch und bar. Immer das richtige Wort, die schwankungslose Gesinnung, der schlackenreine Menschenadel. Mochte man noch so sehr von allen Seiten hören: »Die Welt ist schlecht, jeder denkt nur an sich – es wird nicht besser – es gibt keine klaren Pflichtbegriffe, keine geraden Tugendwege,« da konnten wir ruhig lächeln ... das ist nicht wahr: Es ist ein Egidy da!

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 409-425.
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