Fünftes Capitel.
Die Todesstunde.

[123] Einige Tage waren nach dieser Begebenheit vergangen, da erhob sich der todtkranke Meister wieder von seinem Lager und erlangte durch eine fieberhafte Aufregung scheinbar seine Kräfte zurück. Es war, als wenn er von Stolz lebte. Aber Gérande ließ sich dadurch nicht täuschen; sie wußte, daß Leib und Seele ihres Vaters für immer verloren waren.

Der Alte brachte nun mit fieberhafter Hast, ohne sich um seine Kinder zu kümmern, die letzten Hilfsmittel zusammen, die ihm noch zu Gebote standen; es mußte ihn eine unbeschreibliche Energie kosten, so kräftig einherzuschreiten und, mit sich selber redend und murmelnd, seine Wohnung zu durchstöbern.

Eines Morgens, als Gérande in die Werkstätte des Alten herabstieg, war ihr Vater dort nicht mehr zu finden. Sie wartete den ganzen Tag auf ihn und weinte sich fast die Augen aus; aber Meister Zacharius erschien nicht wieder.

Aubert eilte in die Stadt, um Erkundigungen einzuziehen, und kam mit der traurigen Gewißheit wieder, daß der Greis die Stadt verlassen habe.[123]

»Wir wollen den Vater aufsuchen! rief Gérande, als der junge Gehilfe ihr diese schmerzliche Nachricht brachte.

– Wo kann er sich hingewendet haben?« fragte Aubert.

Da erhellte eine plötzliche Eingebung seinen Geist; es war nicht anders möglich, als daß der Alte den Weg nach Schloß Andernatt eingeschlagen hatte; denn all seine Gedanken hatten sich in letzter Zeit auf die eiserne Uhr concentrirt, die ihm noch nicht zurückgebracht war. Er mußte sich aufgemacht haben, um sie zu suchen.

Aubert theilte Gérande diesen Gedanken mit, und sie meinte, man würde in dem Buche ihres Vaters weitere Aufklärung hierüber finden.

Beide gingen nun in die Werkstätte hinab und fanden den Band offen auf dem Arbeitstische des alten Uhrmachers liegen. Alle Taschen- und Wanduhren, die er je verkauft und jetzt wieder zurückerhalten hatte, waren sorgfältig darin gebucht und in der letzten Zeit ausgestrichen, nur eine einzige Notiz stand noch ohne weiteres Vermerk da; sie lautete:

»Verkauft an Herrn Pittonaccio eine eiserne Uhr mit Schlagwerk und beweglichen Figuren; aufgestellt in seinem Schlosse zu Andernatt.«

Es war dies die lehrhafte Uhr, von der die alte Scholastica mit so großen Lobeserhebungen gesprochen hatte.

»Mein Vater muß dort sein! rief Gérande.

– Laß uns hineilen, wir können ihn vielleicht noch retten! schlug Aubert vor.

– Nicht für dieses Leben, aber vielleicht für jenes! flüsterte Gérande.

– Wir sind in Gottes Schutz, Gérande! Machen wir uns auf die Reise! Das Schloß Andernatt liegt in den Schlünden der Dents du midi, etwa zwanzig Stunden von Genf.«

Noch an demselben Abend reisten Aubert und Gérande zu Fuß, und nur von ihrer alten Magd begleitet, ab. Sie verfolgten die Straße, die sich längs des Genfer-Sees hinzieht, und legten noch in derselben Nacht fünf Stunden zurück, ohne sich in Bessinge oder Ermance, wo sich das berühmte Schloß »der Mayor« erhebt, aufzuhalten. Nicht ohne Mühe und Gefahr durchwateten sie den Dransestrom; wo sie an Ortschaften vorüberkamen, erkundigten sie sich, ob Meister Zacharius hier vorübergezogen sei, und bald erhielten sie die Gewißheit, daß ihre Ahnung keine trügerische gewesen war; der alte Uhrmacher hatte wirklich diesen Weg verfolgt.[124]

Als der folgende Tag sich seinem Ende nahte, waren sie bereits an Thonon vorübergekommen und hatten Evian erreicht, von wo man die Bergücken der Schweiz in einer Entfernung von zwölf Wegstunden liegen sieht. Aber die beiden Verlobten hatten heute kein Auge für diese entzückenden Fernsichten; sie schritten mit fast unnatürlicher Kraft vorwärts. Aubert, der sich auf einen Knotenstock stützte, bot bald Gérande, bald der alten Scholastica seinen Arm und hielt sich selber nur durch den Gedanken aufrecht, daß er seine Begleiterinnen stützen müsse. Während die drei auf der herrlichen Straße, die sich auf schmalem Plateau am Ufer des Sees hinzieht, weiter gingen, sprachen sie von ihren Hoffnungen, ihrem Kummer und ihren Befürchtungen.

Als sie Bouveret erreichten, wo die Rhone in den Genfer-See tritt, schlugen sie eine andere Richtung ein und wandten sich von dem See ab. In den bergigen Gegenden von Vionnaz, Chesset, Collombay, halb versteckten Dörfern, nahm ihre Ermüdung zu; die Kniee ermatteten, und ihre Füße wurden wund auf dem steinigen Pfade, der mit spitzem, scharfem Granit bedeckt war. – Noch immer keine Spur von Meister Zacharius!

Trotz ihrer namenlosen Ermüdung schritten die Verlobten rüstig vorwärts und suchten weder in den einsam liegenden Hütten Ruhe, noch kehrten sie im Schlosse »Monthey« ein, das mit seiner Umgebung Margaretha von Savoyen als Apanage verliehen ist. Endlich, gegen Ende des Tages, erreichten sie, fast ohnmächtig vor Ermüdung, die Eremitage von Notre-Dame du Sex, die unter den Dents du midi, sechshundert Fuß über der Rhone liegt.

Da die Nacht bereits anbrach, nahm der Eremit sie in seine Klause auf; die Armen konnten keinen Schritt mehr thun und mußten endlich Ruhe suchen.

Auch der Einsiedler wußte ihnen von Meister Zacharius keine Nachricht zu geben, und Gérande fragte sich verzweiflungsvoll, ob sie wohl hoffen dürfe, ihn, den Kranken, in diesen finsteren Einöden noch lebend wiederzufinden. Es war tiefe Nacht; der Orkan pfiff in den Bergen, und mit furchtbarem Donner stürzten Lawinen von den Gipfeln der zerklüfteten Felsen.

Aubert und Gérande hatten sich vor dem Herde des Eremiten niedergekauert und berichteten ihm von ihrem Kummer. In einem Winkel waren die von Schnee durchnäßten Mäntel zum Trocknen aufgehängt, und vor der Hütte ließ der Hund ein jämmerliches Geheul ertönen, das sich mit dem Tosen des Sturms mischte.[125]

»Der Stolz hat einen guten Engel zu Fall gebracht, sagte der Eremit; es ist dies der Stein des Anstoßes, an dem die Geschicke der Menschen so oft scheitern. Dem Hochmuth, diesem Urquell aller Laster, kann man keine Vernunftgründe entgegenhalten, da er sich, seinem Wesen nach, der Einsicht Anderer verschließt!«

Alle Vier knieten nieder; da ließ sich das Gebell des Hundes mit verdoppelter Stärke hören, und es wurde heftig an die Thür gepocht.

»Macht auf, im Namen des Teufels!«

Die Thüre gab unter den gewaltsamen Stößen nach, und ein Mann mit vom Winde zerzaustem Haar, wirrem Auge und zerrissener Kleidung stürzte herein.

»Mein Vater!« schrie entsetzt Gérande.

Es war wirklich Meister Zacharius.

»Wo bin ich? rief er; in der Ewigkeit!... die Zeit ist zu Ende... die Stunden schlagen nicht mehr... die Zeiger sind stehen geblieben!

– Vater! lieber Vater! flehte Gérande in so herzzerreißendem Ton, daß er den Greis in die wirkliche Welt zurückzurufen schien.

– Du hier, meine Gérande? rief er, und Du, Aubert!... Ach, liebe Kinder, werdet Ihr in unserer alten Kirche getraut werden?

– Vater, bat Gérande, komm mit uns zurück nach Deinem Hause in Genf; komm mit uns!

– Verlassen Sie Ihre Kinder nicht! rief Aubert.

– Warum soll ich nach der Stätte zurückkehren, in der mein Leben nicht mehr pulsirt, in der ein Theil meiner selbst schon begraben liegt?

– Ihre Seele ist nicht erstorben! sagte der Eremit mit ernster Stimme.

– Meine Seele!... O nein!... Ihr Räderwerk ist gut in Ordnung; ich fühle, wie sie in gleichem Zeitmaß schlägt...

– Ihre Seele ist immateriell; Ihre Seele ist unsterblich! entgegnete überzeugungsvoll der Eremit.

– Ja... unsterblich wie mein Ruhm!... Aber noch ist sie im Schlosse Andernatt eingeschlossen, und ich will sie wiederholen.«

Der Eremit bekreuzte sich; Scholastica war halb todt vor Schrecken Aubert hielt Gérande in seinen Armen.

»Schloß Andernatt wird von einem Verdammten bewohnt, versetzte der Eremit, von einem Verdammten, der das Kreuz meiner Eremitage nicht grüßt![126]

– O Vater, geh nicht dorthin! flehte Gérande.

– Ich will meine Seele! meine Seele gehört mir...

– Halten Sie ihn auf! O bitte, halten Sie meinen Vater zurück!« rief Gérande.

Aber schon war der alte Uhrmacher aufgesprungen, zur Thüre hinausgestürzt und in dem Sturm und dem Dunkel der Nacht verschwunden.

»Mir! mir, meine Seele!...« hallte es noch gellend zurück.

Gérande, Aubert und Scholastica stürzten hinter Meister Zacharius her, unwegsame Pfade entlang, auf denen der Greis, von übermenschlicher Kraft und der Ueberaufregung des Fiebers getrieben, wie ein Orkan dahinjagte. Der Schnee fiel in dichten Wirbeln und mischte seine weißen Flocken mit dem Schaum der Waldbäche, die in dem Tosen des wilden Wetters über ihre Ufer getreten waren.

Als Gérande, Aubert und Scholastica an der der thebanischen Legion errichteten Capelle vorüberkamen, bekreuzten sie sich, Meister Zacharius aber entblößte nicht sein Haupt.

Endlich, mitten in unwirthbarer Gegend, tauchte das Dorf Evionnaz auf; das härteste Herz mußte weich werden beim Anblick dieses in schauerlichster Einöde verlorenen Fleckens. – Der Greis setzte seinen Weg unaufhaltsam fort; er war nach links abgebogen und hatte sich in die Schlünde der Dents du midi vertieft, deren spitzige Pics bis zum Himmel emporzuragen schienen.

Bald erhob sich vor den Wanderern eine alte, düstere Ruine, die wie ein Felsen aus dem Boden hervorzuwachsen schien.

»Da ist es! Da!...« rief der Alte und beschleunigte von Neuem seinen zügellosen Lauf.

Schloß Andernatt war schon zu jener Zeit nur noch eine Ruine, die von einem dicken, zerstückelten Thurm überragt wurde. Fast schien es, als drohte das morsche Gemäuer einzustürzen und die alten Giebel an seinem Fuße zu zerschellen. Die ungeheuern Steinhaufen waren schauerlich anzusehen; zwischen Schutt und sonstigen baulichen Ueberresten gewahrte man öde Säle mit zertrümmerten Decken, und im Geröll unheimliche Winkel, die zum Schlupfwinkel für Schlangen und Nattern geschaffen schienen.

Ein enges, niederes Ausfallthor, das sich auf den mit Schutt gefüllten Graben öffnete, gewährte Zutritt zum Schlosse Andernatt. Was für Bewohner waren darüber hinweg gegangen? Wer konnte es sagen?


 »Da ist es! Da!...« rief der Alte. (S. 127.)
»Da ist es! Da!...« rief der Alte. (S. 127.)

Ohne Zweifel hielt sich ehemals ein Markgraf, halb Räuber, halb Ritter, in dieser verfallenen Burg auf, und ihm folgten Banditen und Falschmünzer, die dann[127] an der Stätte ihres Verbrechens gehangen wurden. Man raunte sich zu, daß Satan in wilden Winternächten hier erschien, um am Abhang des tiefen Abgrundes, in dessen Schatten die Ruinenstücke verschwanden, seine Tänze aufzuführen.

Meister Zacharius wurde durch den unheilkündenden Anblick dieser Gegend nicht in Schrecken gesetzt; er gelangte bis zu dem Ausfallthor, und da niemand ihm den Eintritt wehrte, auf einen großen finstern Hof.[128] Auch hier wurde er nicht verhindert, weiter zu schreiten, und erstieg eine Art geneigter Ebene, die zu einem langen Corridor führte; die Bogen waren schwer und düster, wie wenn sie den hellen Tag erdrücken wollten.

Niemand stellte sich auch hier dem Greise entgegen, aber Gérande, Aubert und Scholastica folgten ihm fortwährend und ließen ihn nicht aus den Augen.[129]

Meister Zacharius ging seinen Weg so sicher, als würde er von einer unsichtbaren Hand geführt. Er kam an eine alte, wurmstichige Thüre, die unter seinen Stößen wich, scheue Fledermäuse schwirrten empor und beschrieben schräge Kreise um sein Haupt.

Ein ungeheurer Saal, der besser erhalten war, als die anderen Räume, that sich vor seinen Blicken auf. Hohe, mit Malerei verzierte Füllungen bekleideten die Wände, auf denen sich Larven, Eulen1 und Tarasken2 durcheinander zu bewegen schienen. Einige Fenster, lang und schmal, wie Schießscharten geformt, bebten unter den Stößen des Orkans.


 »Hier, meine Tochter, ist Dein Herr und Gebieter«. (S. 132.)
»Hier, meine Tochter, ist Dein Herr und Gebieter«. (S. 132.)

Als Meister Zacharius in der Mitte des Saales angekommen war, schrie er laut und freudig auf; sich gegenüber an der Mauer erblickte er die Uhr, an der jetzt sein ganzes Sein und Denken hing. Es war ein Meisterwerk ohne Gleichen und stellte eine alte romanische Kirche mit Strebepfeilern aus Schmiedeeisen und einem schweren Kirchthurm dar, in dem sich ein vollständiges Glockenspiel für die Antiphone des Tages, das Angelus, die Messe, die Vesper, Completorium und Salve befand. Ueber der Kirchenthüre, die sich zur Stunde der Gottesdienste öffnete, war eine Rosette ausgehöhlt, in deren Schwibbogenverzierung die zwölf Stunden des Zifferblatts in Relief ausgehauen waren, und in deren Mitte sich die beiden Zeiger bewegten. Zwischen Kirchthüre und Rosette erschien in kupfernem Rahmen, wie wir es schon von der alten Scholastica hörten, zu jeder Zeit des Tages ein bezüglicher Spruch. Meister Zacharius hatte einst die Aufeinanderfolge dieser Sinnsprüche mit christlichem Geist und hoher Sorgfalt gewählt und geregelt; die Stunden des Gebets, der Arbeit, des Mahls, der Erholung und der Ruhe folgten einander nach Ordnung der Kirchenzucht und mußten einen gewissenhaften Beobachter ihrer Anempfehlungen unfehlbar zur Seligkeit führen.

Meister Zacharius wollte sich freudetrunken der Uhr bemächtigen, als er ein lautes, höhnisches Lachen hinter sich vernahm.

Er wandte sich um und erblickte beim Schein einer rauchenden Lampe das wunderliche kleine Ungethüm.

»Sie hier?« rief er aus.

Gérande schmiegte sich angstvoll an ihren Verlobten.[130]

»Guten Tag, Meister Zacharius, begann das greisenhafte Wesen.

– Wer sind Sie?

– Ich bin Pittonaccio, Ihnen zu dienen! Sie sind wahrscheinlich hierher gekommen, um mir Ihre Tochter zur Frau zu geben. Sie erinnern sich doch noch meiner Worte! Gérande wird Aubert nicht heiraten.«

Der junge Gehilfe stürzte auf Pittonaccio zu, aber dieser glitt ihm unter den Händen fort wie ein Schatten.

»Halt ein, Aubert! rief Meister Zacharius.

– Gute Nacht! sagte Pittonaccio – er war verschwunden.

– Laß uns von dieser verdammten Stätte fliehen, mein Vater,« rief Gérande verzweiflungsvoll.

Aber Meister Zacharius war nicht mehr zu sehen; er eilte bereits hinter dem Phantom Pittonaccio's her über zerbröckelnde Treppen und durch halb verfallene Stockwerke. Scholastica, Aubert und Gérande blieben vernichtet in dem weiten Saal zurück; das junge Mädchen war auf einen Steinblock gesunken und die alte Magd kniete neben ihr auf dem Boden und betete. Aubert stand neben seiner Braut und wachte über sie. Ein tiefes Schweigen herrschte in dem öden Raum und wurde nur durch die kleinen Thiere unterbrochen, die leise pochend in dem alten Holze arbeiteten, und die der Volksmund »die Todtenuhr« nennt.

Als die ersten Strahlen des anbrechenden Tages ihren blassen Schimmer in das Gemach sandten, wagten sich die Drei aus dem Zimmer und irrten auf den endlosen Treppen und Corridors umher; aber trotzdem sie zwei Stunden lang das Gemäuer durchsuchten, begegneten sie keiner lebenden Seele, und nur das Echo antwortete auf ihr Rufen. Bald befanden sie sich hundert Fuß unter der Erde, bald schauten sie aus der Höhe auf Felsen, Wälder und Klüfte herab.

Endlich führte sie der Zufall in den ungeheuren Saal zurück, in dem sie eine so angstvolle Nacht verlebt hatten. Sie fanden ihn nicht mehr leer, denn Meister Zacharins und Pittonaccio hatten sich unterdessen eingefunden und waren augenscheinlich in einer angelegentlichen linterhaltung begriffen; Ersterer hielt sich starr und steif wie ein Leichnam, Letzterer lehute an einem Marmortisch und hatte sein greifes Haupt in die Hand gestützt.

Als der alte Uhrmacher seine Tochter eintreten sah, ging er auf sie zu, erfaßte ihre Hand und führte sie zu Pittonaccio:[131]

»Hier, meine Tochter, ist Dein Herr und Gebieter, Dein künftiger Gemahl!« sprach er.

Gérande schauerte zusammen.

»Niemals wird sie ihm gehören, rief Aubert zornig, denn sie ist meine verlobte Braut.

– Niemals, niemals!« rief Gérande, wie ein klagendes Echo, ihm nach.

Pittonaccio brach in ein höhnisches Lachen aus.

»So wollt Ihr meinen Tod? rief Meister Zacharius. Dort in jener Uhr, der letzten, die noch geht von allen, die ich mit meinen Händen verfertigt habe, ist mein Leben eingeschlossen, und dieser Mann hat gesagt: »Gieb mir Deine Tochter, und die Uhr ist Dein!« Er will sie nicht aufziehen, und es liegt in seiner Macht, sie zu zerbrechen und mich in ein Nichts zurückzuschleudern! Ach, meine Tochter, Du liebst mich also nicht mehr!

– Mein Vater! flüsterte Gérande, als sie wieder zur Besinnung kam.

– Wenn Du wüßtest, was ich, fern von diesem Princip meiner Existenz, gelitten habe! klagte der Greis. Wie leicht war es möglich, daß diese Uhr vernachlässigt wurde, daß ihre Federn sich abnutzten, ihr Räderwerk in Verwirrung gerieth! Aber jetzt könnte ich selbst für sie sorgen, denn ich, der berühmteste Uhrmacher seiner Zeit kann und darf nicht sterben! Sieh, meine Gérande, wie die Zeiger so schön und sicher vorwärts gehen. Halt, jetzt wird es fünf schlagen! Merke wohl auf und lies den schönen Spruch, der jetzt vor unseren Augen erscheinen wird.«

Von dem Glockenthürmchen ertönten fünf Schläge, die schmerzlich in Gérande's Seele wiederklangen, und in dem kupfernen Rahmen über der Kirchthür zeigten sich die Worte:

»Man muß die Früchte vom Baum der Wissenschaft essen

Aubert und Gérande sahen einander staunend und bestürzt an. Das waren nicht mehr die frommen Sinnsprüche des katholischen Uhrmachers; der Hauch des Satans mußte diese Uhr gestreift haben.

Zacharius aber schien das nicht zu beachten; er fuhr fort:

»Hörst Du, meine Gérande? Ich lebe, noch lebe ich! Höre meinen Athem!... Sieh, wie das Blut in meinen Adern rollt!... Nicht wahr, mein Kind, Du willst nicht den Tod Deines Vaters, und nimmst diesen Mann zum Gemahl, auf daß ich unsterblich werde und endlich die Macht Gottes erlange.«[132]

Bei diesen gottlosen Worten bekreuzte sich die alte Scholastica, während Pittonaccio ein lautes Freudengeschrei hören ließ.

»Und dann, Gérande, sollst Du mit diesem Mann glücklich sein, Nimm ihn an, es ist hohe Zeit; Dein Dasein wird mit absolutester Präcision geregelt werden; o, Gérande! gieb mir, Deinem Vater, der Dir das Leben gab, das Leben wieder!

– Gérande, flüsterte Aubert, Du bist mein, ich bin Dein Verlobter!

– Er ist mein Vater! schluchzte Gérande und sank zusammen.

– Nimm sie hin, rief Meister Zacharius, und nun, Pittonaccio, wirst Du Dein Versprechen halten.

– Hier hast Du den Schlüssel zu der Uhr«, sprach das Ungethüm und überreichte dem Greise ein Werkzeug, das einer aufgerollten Natter ähnlich sah.

Meister Zacharius bemächtigte sich desselben, eilte auf die Uhr zu und begann sie mit fieberhafter Schnelligkeit aufzuziehen. Die Feder knirschte schwer, daß es mit wehem Gefühl in den Nerven nachtönte; aber der alte Uhrmacher drehte weiter und weiter, ohne daß sein Arm erlahmte; fast schien es, als ob diese Rotationsbewegung unabhängig von seinem Willen sei. Er drehte immer schneller und mit sonderbaren Zuckungen, bis er endlich vor Mattigkeit niedersank.

»Jetzt ist sie für ein Jahrhundert aufgezogen!« rief er.

Aubert verließ, wie von Sinnen, den Saal, fand endlich nach langem Hin- und Herklettern den Weg aus dem verwünschten alten Gebäude und stürzte hinaus auf's Feld. Bald hatte er die Einsiedelei von Notre-Dame du Sex erreicht und flehte den heiligen Mann mit so verzweifelten Bitten an, daß dieser sich bestimmen ließ, den jungen Mann nach Schloß Andernatt zu begleiten.

Wenn Gérande in dieser Stunde der Angst nicht weinte, so kam es einzig daher, daß die Thränen in ihren Augen versiecht waren.

Meister Zacharius hatte den weiten Saal noch nicht verlassen; er horchte Minute für Minute auf das regelmäßige Tick-Tack der Uhr.

Inzwischen hatte es zehn geschlagen, und zum großen Entsetzen Scholastica's waren die Worte:


»Der Mensch kann Gott gleich werden«,


in dem Rahmen über der Kirchthüre erschienen. Dem Greise waren diese[133] Sprüche nicht anstößig; er las sie im Gegentheil mit wahnsinnigem Entzücken und gefiel sich in diesen hochmüthigen Aussprüchen, während Pittonaccio ihn umkreiste.

Die Heiratsacte sollte um Mitternacht unterzeichnet werden, aber die Braut, in der das Leben fast erloschen war, sah und hörte nichts mehr. Das Schweigen wurde nur durch die Worte des Alten und durch das Hohngelächter Pittonaccio's unterbrochen.

Es schlug elf Uhr, und Meister Zacharius las zitternd, mit gellender Stimme, die Lästerung:


»Der Mensch soll ein Sklave der Wissenschaft sein und ihr Eltern und Familie zum Opfer bringen.«


»Ja, rief er, es giebt nichts Besseres als die Wissenschaft in der Welt!«

Die Zeiger drehten sich mit Schlangenzischen auf dem eisernen Zifferblatt, und die Uhr schlug in eiligen Stößen.

Meister Zacharius schwieg letzt; er war zur Erde gesunken, sein Athem drang röchelnd aus der Brust hervor, und man hörte ihn nur noch flüstern: »Das Leben! die Wissenschaft!«

Die Scene hatte zwei neue Zeugen erhalten; der Eremit und Aubert waren erschienen. Meister Zacharius lag auf dem Boden, Gérande kniete betend neben ihm... Da hörte man plötzlich ein leises Anschlagen, wie es dem Glockenschlage der Stunden vorausgeht.

Meister Zacharius richtete sich empor.

»Mitternacht«, rief er.

Der Eremit streckte seine Hand gegen die alte Uhr aus, und – die zwölf Schläge ertönten nicht.

Meister Zacharius schrie so laut und gellend auf, daß es bis in die Hölle gehört werden mußte, da in dem kupfernen Rahmen die Worte erschienen:

»Wer da versucht, Gott gleich zu sein, ist verdammt in Ewigkeit.«.

Die alte Uhr zerbrach mit Donnerkrachen, und die Feder hüpfte unter tausend phantastischen Zuckungen im Saale umher. Der Greis hatte sich wieder erhoben, eilte hinter ihr her, suchte sie zu erhaschen und rief in wahnsinniger Angst:


Er war todt. (S. 135.)
Er war todt. (S. 135.)

»Meine Seele! meine Seele!«

Immer schneller hüpfte die Feder davon; es war dem Alten unmöglich sie zu erfassen.

Endlich griff Pittonaccio nach ihr, erhaschte sie und verschwand, indem er einen furchtbaren Fluch ausstieß, unter der Erde.[134]

Meister Zacharius fiel rücklings nieder – er war todt.[135]

Der alte Uhrmacher wurde am Fuße der Pics von Andernatt beerdigt; dann kehrten Aubert und Gérande nach Genf zurück. Während all der langen Jahre, die Gott ihnen noch beschieden hatte, suchten sie mit ihrem Gebet die arme Seele loskaufen und zu retten, die durch die Wissenschaft auf solche Irrwege geleitet worden war.


Ende.[136]

Fußnoten

1 Leichenfressende Ungeheuer.


2 Drachengestalten.


Quelle:
Jules Verne: Eine Ueberwinterung im Eise. In: Eine Idee des Doktor Ox. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XX, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 167–250.
Lizenz:

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