Vierzehntes Capitel.
Die Wagddis.

[175] Seine Majestät Mselo-Tala-Tala, König des Stammes der Wagddis, Beherrscher des Dorfes in den Lüften... war das nicht genug, die geheimsten Wünsche Max Huber's zu erfüllen? Hatte seine überschwängliche französische Phantasie ihm nicht alles vorgegaukelt, was er hier verwirklicht fand, alle diese Geheimnisse des Waldes von Ubanghi, neue Volkstypen, unbekannte Wohnstätten, eine ganz außergewöhnliche Welt, von der niemand eine Ahnung hatte? Nun, jetzt war ihm doch wohl nach Wunsch gedient.

Er war auch der erste, sich selbst zu loben wegen seiner richtig eingetroffenen Ahnungen, und er hörte damit erst auf, als John Cort zu ihm sagte:[175]

»Ja, ja, lieber Freund, Du bist wie jeder Dichter mit einem Seherblick begabt und hast deshalb alles vorher errathen...

– Richtig, lieber John, doch welcher Art die Wagddis, die Halbmenschen, auch sein mögen, hab' ich doch nicht die geringste Lust, mein Leben in ihrer Hauptstadt zu beschließen.

– Aber, liebster Max, wir müssen doch eine Zeit lang hier bleiben, um diese Rasse vom ethnologischen und anthropologischen Standpunkt aus zu studieren und später darüber einen dickleibigen Quartband zu veröffentlichen, der alle Akademien der beiden Welten in Aufruhr versetzen wird.

– Jawohl, erwiderte Max Huber, wir wollen gern beobachten, vergleichen, alle die Frage der Anthropomorphie berührenden Dinge ausspähen, doch nur unter zwei Bedingungen...

– Deren erste wäre...?

– Daß man uns, und das erwarte ich ja, volle Freiheit gewährt, im Dorfe hin- und herzugehen.

– Und die zweite?

– Daß uns, wenn wir uns hier unbehindert bewegt haben, gestattet wird, fortzugehen, sobald es uns paßt.

– An wen sollen wir uns aber deshalb wenden?

– An Seine Majestät den Vater Spiegel, antwortete Max Huber. Doch, das giebt mir die Frage ein: Warum mögen ihn seine Unterthanen wohl so nennen?

– Und noch dazu in congolesischer Sprache? setzte John Cort hinzu.

– Sollte Seine Majestät vielleicht kurz oder weitsichtig sein, und deshalb eine Brille tragen? fuhr Max Huber fort.

– Dabei entsteht wieder die Frage, woher diese Brille stammen möge, bemerkte John Cort.

– Mag das sein, woher es will, meinte Max Huber, wenn wir erst imstande sind, mit diesem Souverän zu verhandeln, ob er nun unsere Sprache versteht oder wir die seinige gelernt haben, jedenfalls machen wir ihm dann den Vorschlag, ein Schutz- und Trutzbündniß mit Amerika und Frankreich abzuschließen, er aber wird darauf nicht umhin können, uns das Großkreuz des Wagddischen Hausordens zu verleihen.«

Max Huber sprach sich recht zuversichtlich aus, indem er darauf rechnete, daß sie sich hier würden frei umher bewegen und das Dorf nach Beliebenverlassen können. Wenn aber Khamis, John Cort und er in der Factorei nicht wieder erschienen, wer könnte da auf den Gedanken kommen, sie im Dorfe Ngala im Herzen des großen Waldes zu suchen? Kam überhaupt niemand von der Karawane zurück, so konnte das nur dahin gedeutet werden, daß diese im Gebiete des oberen Ubanghi mit Mann und Maus zu Grunde gegangen sei.

Die Frage, ob Khamis und seine Gefährten als Gefangene in der Hütte eingesperrt bleiben sollten, fand da fast augenblicklich ihre Entscheidung. Eben schwengte die Thür an ihren Lianenbändern zurück und Li-Maï erschien in der Oeffnung.

Zunächst ging der Kleine auf Llanga zu und überhäufte ihn mit Liebkosungen, die dieser gutherzig erwiderte. John Cort fand dabei Gelegenheit, sich das seltsame Geschöpfchen näher anzusehen. Da die Thür aber offen blieb, schlug Max Huber vor, hinauszugehen und sich unter die Luftbewohner zu mischen.


Zwei wachhabende Wagddis stellten sich, ihre Waffen schwingend, vor die Thür. (S. 184.)
Zwei wachhabende Wagddis stellten sich, ihre Waffen schwingend, vor die Thür. (S. 184.)

Jetzt befanden sie sich also im Freien und wurden von dem kleinen Wilden – so durfte man ihn wohl nennen – der seinen Freund Llanga an der Hand hielt, geleitet. Sie sahen sich an einer Art Straßenkreuzung, über die viele Wagddis, »ihren Geschäften nachgehend«, von allen Seiten hineilten.

Der Platz war mit Bäumen bepflanzt, oder vielmehr von deren Kronen beschattet, während die Stämme das merkwürdige Bauwerk in der Luft trugen. Dieses selbst ruhte, etwa hundert Fuß über der Erde, auf den Hauptästen mächtiger Bauhinias, Wollbäume und Baobabs. Auf fest mit Pflöcken und Lianen verbundenen Planken war eine Lage festgestampfter Erde ausgebreitet, und da deren Unterstützungspunkte sehr haltbar und zahlreich waren, bewegte sich der künstliche Boden unter dem Fuße nicht im geringsten. Selbst wenn heftige Stürme durch die hohen Wipfel brausten, erlitt die ganze Anlage kaum eine leise Erschütterung.

Durch die Lücken im Laubwerke brachen die Sonnenstrahlen herein; gerade heute war das Wetter sehr schön. Breitere Stücke blauen Himmels wurden hinter den untersten Zweigen sichtbar. Eine mit starkem Dufte geschwängerte Brise erfrischte die Luft.

Während die Gruppe der Fremden dahinwandelte, betrachteten sie die Wagddis, Männer ebenso, wie die Frauen und Kinder, ohne besonderes Erstaunen. Diese wechselten mit einander im raschen Tone nur einzelne Worte oder schnell herausgestoßene, kurze, völlig unverständliche Sätze. Der Foreloper glaubte[179] darunter zuweilen einige congolesische Ausdrücke zu vernehmen, was ja kaum zum Verwundern war, da Li-Maï wiederholt das Wort »Ngora« ausgesprochen hatte. Immerhin blieb die Sache unerklärlich. Noch mehr aber: John Cort hörte sogar zwei oder drei deutsche Wörter, darunter das Wort »Vater«, und er unterrichtete seine Genossen von dieser auffallenden Beobachtung.

»Ja, was willst Du denn, lieber John? antwortete Max Huber. Ich erwarte sogar, daß einer dieser Burschen mir auf den Bauch klopft und mich dazu – in französischer Sprache – fragt: »Na, wie geht's denn, Alterchen?«

Von Zeit zu Zeit ließ Li-Maï Llangas Hand los und lief wie ein lebhaftes, lustiges Kind zu dem einen und dem anderen hin. Er schien sehr stolz darauf zu sein, die Fremden durch die Straßen des Dorfes führen zu können. Das that er offenbar nicht ohne Zweck und Ziel, sondern geleitete sie mit Berechnung hier und dort hin so daß man gar nichts besseres thun konnte, als dem fünfjährigen Führer zu folgen.

Die Urmenschen – wie John Cort die Leute hier bezeichnete – gingen nicht völlig nackt. Abgesehen von dem rothbraunen Flaum, der ihren Körper theilweise bedeckte, trugen Männer und Frauen eine Art Schurz aus Pflanzenstoff, zwar gröber gearbeitet, doch im übrigen ähnlich den Geweben aus Akazienfasern, die in Porto Novo, einem Hafen Dahomeys, in großer Menge angefertigt werden.

Was John Cort besonders auffiel, war die Thatsache, daß die ziemlich runden, die Größenverhältnisse des mikrocephalischen Typus mit dem des Menschen sehr nahe kommenden Gesichtswinkel zeigenden Köpfe der Wagddis sehr wenig von Prognathismus erkennen ließen. Die Augenbrauenbogen traten auch nicht so bemerkbar hervor, wie bei allen Affenarten. Das Kopfhaar bildete ein glattes Vließ, wie bei den Eingebornen von Aequatorialafrika, und der Bart war nur ganz schwach entwickelt.

»Und kein zum Greifen geschaffener Fuß, bemerkte John Cort.

– Auch kein Schwanzanhang, setzte Max Huber hinzu, keine Spur davon!

– Ja wirklich, antwortete John Cort, und das ist schon ein Zeichen von höherer Entwicklung. Die anthropomorphen Affen haben weder einen Schwanz, noch Backentaschen oder Schwielen. Sie bewegen sich nach Belieben aufrecht stehend oder auf allen vieren. Hier ist aber nicht außer Acht zu lassen, daß die aufrecht gehenden Affen dabei nicht mit der Fußsohle auftreten, sondern sich auf den Rücken der umgebogenen Finger stützen. Bei den Wagddis ist das[180] anders, ihr Gang gleicht, das sieht man auf dem ersten Blick, vollkommen dem des Menschen.«

Diese Bemerkung war ganz richtig und es handelte sich hier ohne Zweifel um eine völlig neue Rasse. Was übrigens den Fuß betrifft, so behaupten manche Gelehrte, daß zwischen dem des Affen und dem des Menschen gar kein Unterschied bestehe, und daß auch der zweite eine gegenständige große Zehe (gleich dem Daumen der Hand) haben würde, wenn der Fuß nicht durch das Schuhwerk verunstaltet wäre.

Noch außerdem giebt es aber physische Aehnlichkeiten zwischen den beiden Rassen. Die Vierhänder mit menschlicher Körperhaltung sind weniger unbändig und schneiden weniger Grimassen, kurz, sie erschienen als die ernstesten und verständigsten ihrer Art. Gerade dieser äußere Ernst zeigte sich nun auch in der Haltung wie in den Handlungen der Bewohner von Ngala. Hätte John Cort sie eingehender untersuchen können, so würde er auch gefunden haben, daß ihr Gebiß mit dem der Menschen übereinstimmte.

Derlei Aehnlichkeiten stützten zwar bis zu gewissem Grade die Lehre von der Veränderlichkeit der Arten, die von Darwin vertretene Descendenztheorie. Man hat sie sogar, unter Vergleichung der am höchsten entwickelten Affenfamilien mit den auf der niedrigsten Stufe stehenden Menschen, als entscheidend dafür angesehen. Linné z. B. vertrat die Anschauung, daß es einst Troglodyten (menschliche Höhlenbewohner) gegeben habe, eine Bezeichnung, die sich auf die Wagddis gewiß nicht anwenden ließ, denn diese wohnten ja auf Bäumen. Vogt hat sogar behauptet, daß die Menschheit aus drei großen Affenfamilien hervorgegangen sei: der Orang, eine brachycephale Art mit langer, brauner Behaarung, wäre nach ihm der Ahne der Negritos; der Schimpanse, eine dolichocephale Art mit mächtigen Kiefern, der der eigentlichen Neger, und von dem Gorilla, der sich durch eine besondere Entwicklung des Brustkorbes, durch die ihm eigene Haltung, die Gestalt des Fußes und durch den Knochenbau des Rumpfes und der Gliedmaßen auszeichnet, sollte der weiße Mensch abstammen. Dieser Aehnlichkeit kann man freilich leicht genug sehr ins Gewicht fallende Unähnlichkeiten der intellectuellen und moralischen Eigenschaften gegenüberstellen – Unähnlichkeiten, die zu einer Verwerfung der Darwin'schen Leitsätze führen müssen.

Immerhin kann man bei Betrachtung der unterscheidenden Merkmale der drei Vierhänderfamilien annehmen, daß sie – ohne gleichzeitig zuzugeben, daß sie die zwölf Millionen Zellen und die vier Millionen Fasern des menschlichen[181] Gehirns besitzen – einer den anderen Thieren weit überlegenen Rasse angehören. Daraus folgt aber nimmermehr, daß der Mensch nur ein vervollkommneter Affe oder der Affe ein degenerierter Mensch wäre.

Was den Mikrocephalen betrifft, den man zum Mittelglied zwischen Mensch und Affen hat stempeln wollen, und dessen Vorhandensein von den Anthropologen ebenso vergeblich prophezeit, wie nach ihm vergeblich geforscht worden ist, dieses Kettenglied, das die animalische Welt mit der »hommalen«1 verbinden soll... sollte man bezüglich dieses fehlenden Gliedes annehmen, daß es etwa von den Wagddis gebildet würde? Hatten es die merkwürdigen Zufälligkeiten ihrer Reise diesem Franzosen und diesem Amerikaner vorbehalten, es zu entdecken?

Und wenn sich diese Rasse physisch der Menschenrasse noch so sehr näherte, hätte man bei den Wagddis doch noch nachweisen müssen, daß sie die dem Menschen eigenen moralischen und religiösen Eigenschaften und Empfindungen besäßen, ganz abgesehen von der Fähigkeit, Schlußfolgerungen zu ziehen und sich Verallgemeinerungen vorzustellen, ebenso wie von einer Veranlagung für Künste und Wissenschaften. Nur dann hätte man sich endgiltig über die zwischen Monogenisten und Polygenisten herrschende Streitfrage aussprechen können.

Bisher stand nur das eine fest, daß die Wagddis sprechen konnten. Nicht auf Instincte allein beschränkt, hatten sie Vorstellungen, Gedanken – die ja überhaupt die Voraussetzungen des Wortes sind – und Wörter, deren Verbindung ihre Sprache ausmachte. Besser als durch Schreie, die durch Blicke und Bewegungen weiter erläutert wurden, bedienten sie sich articulierter Laute, die als Unterlage eine Reihe von Tönen und von Formen hatten, welche durch Atavismus auf sie vererbt worden sein mochten.

Am verblüfftesten über diese Wahrnehmung zeigte sich John Cort. Diese Fähigkeit, die ohne gleichzeitig vorhandenes Gedächtniß undenkbar ist, verrieth einen angeborenen Rasseneinfluß.

Immer auf die Sitten und Gebräuche dieser Waldmenschen achtend. durchwanderten John Cort, Max Huber und Khamis die Straßen des Dorfes.

Es war ziemlich groß, denn es mußte wenigstens einen Umfang von drei Kilometern haben.

»Und wenn es ein Nest ist, wie Max Huber sagte, so ist es mindestens ein sehr geräumiges Nest.«[182]

Von der Hand der Wagddis erbaut, ließ die Anlage eine der der Vögel, der Bienen, Biber und Ameisen entschieden überlegene Kunstfertigkeit erkennen. Lebten diese Urmenschen hier in Bäumen, Geschöpfe, die doch denken und ihre Gedanken ausdrücken konnten, so hatte gewiß der Atavismus sie dazu bestimmt.

»Auf jeden Fall, bemerkte John Cort, hat die Natur, die sich ja niemals irrt, Gründe gehabt, die Wagddis ein solches Leben in den Lüften wählen zu lassen. Statt auf dem ungesunden Erdboden zu siedeln, bis zu dem die Sonne mit ihren Strahlen niemals hinunterdringt, leben sie fröhlich inmitten der Wipfel dieses Waldes.«

Die meisten, hübsch kühlen und grün umkränzten Hütten von der Form der Bienenkörbe standen weit offen. Die Frauen besorgten darin emsig ihre höchst einfache Wirthschaft. Kinder liefen in Menge umher, die kleinsten wurden von ihren Müttern gesäugt. Von den Männern beschäftigten sich die einen mit dem Einsammeln der Früchte zwischen den Zweigen, die anderen waren die Leitertreppe hinuntergestiegen und widmeten sich ihren gewohnten Arbeiten. Ein Theil von ihnen kam mit mehreren Stücken Wildpret wieder herauf, andere brachten große Gefäße, die sie aus einem Rio mit Wasser gefüllt hatten.

»Es ist doch ärgerlich, sagte Max Huber, daß wir die Sprache dieses Naturvölkchens nicht verstehen! So werden wir nie mit ihnen plaudern oder eine genauere Kenntniß von ihrer Litteratur gewinnen können. Uebrigens habe ich die hiesige Stadtbibliothek noch ebensowenig gesehen, wie die Fortbildungsschulen für Knaben und für Mädchen!«

Da die Sprache der Wagddis aber, soweit man sie von Li-Maï gehört hatte, mit Wörtern anderer Eingebornen vermischt war, versuchte Khamis, das Kind mit einigen der gebräuchlichsten davon anzureden.

So geweckt Li-Maï jedoch im allgemeinen erschien, konnte er nichts verstehen. In Gegenwart John Cort's und Max Huber's hatte er aber doch in einem hilflosen Zustande das Wort »Ngora« ausgesprochen, und ferner versicherte Llanga, vom Vater des Kleinen gehört zu haben, daß das Dorf Ngala und dessen Oberhaupt Mselo-Tala-Tala heiße.

Nach etwa einstündiger Wanderung erreichten der Foreloper und seine Gefährten das Ende des Dorfes. Hier erhob sich eine mehr in die Augen fallende Hütte. Zwischen dem Geäst eines ungeheueren Wollbaumes errichtet, war sie von Gesträuch umgittert und ihr Dach verlor sich in der Laubwölbung.[183]

Diese Hütte war der königliche Palast, das Heiligthum der Zauberer und der Tempel der Götter, wie solche die meisten wilden Volksstämme Afrikas Australiens und der Pacifischen Inseln verehren.

Jetzt war Gelegenheit, von Li-Ma? einige weiter gehende Mittheilungen zu erhalten. John Cort legte ihm deshalb die Hände auf die Schultern, wendete ihn der großen Hütte zu und fragte:

»Mselo-Tala-Tala?...«

Als Antwort erhielt er ein Zeichen mit dem Kopfe.

Hier wohnte also der Häuptling des Dorfes Ngala, Seine wagddische Majestät.

Ohne jede Ceremonie schritt Max Huber gelassen auf die betreffende Hütte zu.

Da veränderte sich die Haltung des Kindes, das ihn unter allen Zeichen des Schreckens zurückzuhalten suchte.

Max Huber ließ sich jedoch nicht beirren und wiederholte nur nochmals: »Mselo-Tala-Tala?«

Als der Franzose dann eben die Hütte erreichte, rannte der Kleine wieder auf ihn zu und verhinderte ihn, weiter zu gehen.

Offenbar war es verboten, sich der Königswohnung zu nähern.

Wirklich erhoben sich sofort zwei wachhabende Wagddis und stellten sich, ihre Waffen, eine Axt aus Eisenholz und einen Speer, schwingend, vor die Thür.

»Nun seh' mir einer, rief Max Huber, hier ganz wie anderwärts, im großen Walde von Ubanghi wie in den Hauptstädten der civilisierten Welt: Leibwachen, Hundertgarden, wachhabende Prätorianer vor dem Palaste, und vor welchem Palaste... vor dem einer affenmenschlichen Majestät!

– Was ist dabei zu verwundern, lieber Max?

– Na, meinte dieser, wenn wir denn den gestrengen Monarchen jetzt nicht sehen können, so werden wir schriftlich um eine Audienz bei ihm nachsuchen.

– Sehr schön, erwiderte John Cort, doch wenn diese Unmenschen auch sprechen, glaube ich kaum, daß sie sich schon zum Lesen und Schreiben aufgeschwungen haben. Noch in wilderem Zustande, als die Eingebornen des Congo oder des Sudan, als die Funds, die Chilus, die Denkas und die Monbuttus, scheinen sie mir noch nicht civilisiert genug zu sein, ihre Kinder in eine Schule zu schicken.[184]

– Das möchte ich doch etwas bezweifeln, John. Doch wie wollen wir uns überhaupt diesen Leuten, deren Sprache wir nicht kennen, schriftlich mittheilen?


 »Da ist es,« sagte Llanga. (S. 186.)
»Da ist es,« sagte Llanga. (S. 186.)

– Richtig; lassen wir uns lieber von dem Kleinen weiter führen, sagte Khamis.

– Ist Dir nicht die Hütte seines Vaters und seiner Mutter bekannt? fragte John Cort den jungen Eingebornen.

– Nein, lieber Freund John, antwortete Llanga. Doch... ohne Zweifel... Li-Maï wird uns dahin führen. Wir müssen ihm folgen.«[185]

Damit trat er an das Kind heran und zeigte mit der Hand nach links.

»Ngora?... Ngora?«... sagte er.

Man sah, daß das Kind ihn verstand, denn es senkte den Kopf und hob ihn lebhaft wieder empor.

»Das beweist, sagte John Cort, daß das Zeichen für eine Verneinung und eine Bejahung ein instinctiver Ausdruck und als solcher bei allen Menschen der nämliche ist... ein weiterer Beweis, daß diese Urmenschen der übrigen Menschheit ungemein nahe stehen.«

Wenige Minuten später kamen die Besucher nach einem tiefer beschatteten Theile des Dorfes, wo die Wipfel der Bäume dicht untereinander verschlungen waren.

Li-Maï blieb vor einer sauberen Hütte stehen, deren Dach mit den breiten Blättern der Ensete, einer in dem großen Walde weit verbreiteten Banane, bedeckt war, mit denselben Blättern, die der Foreloper für das Sonnendach des Flosses verwendet hatte. Eine Art Stampferde bildete die Wände der Hütte, in die eine, augenblicklich offen stehende Thür hineinführte.

Li-Maï wies Llanga mit der Hand danach hin, und dieser erkannte sie sofort wieder.

»Da ist es,« sagte er.

Das Innere bildete einen einzigen Raum. Im Hintergrunde befand sich eine Lagerstätte aus trockenem Gras, das leicht zu erneuern war. In einer Ecke dienten einige größere Steine als Herd, auf dem jetzt mehrere Zweige in Brand standen. Von sonstigem Geräthe sah man nur zwei oder drei Kürbisflaschen, eine mit Wasser gefüllte irdene Schale und zwei irdene Töpfe. Bis zu Gabeln hatten es die Waldmenschen noch nicht gebracht, sie aßen einfach mit den Fingern. Da und dort zeigten sich auf einem an der Wand befestigten Brette verschiedene Früchte, eßbare Wurzeln, ein Stück gekochtes Fleisch, nebst einem halben Dutzend, für die nächste Mahlzeit bereits gerupfter Vögel, und, an Dornen aufgehängt, mehrere Stücke Stoff aus Rinde und Aguliegewebe.

Ein Wagddi und eine Wagddierin erhoben sich sofort, als Khamis und seine Begleiter in die Hütte eintraten.

»Ngora!... Ngora!... Lo-Maï... la Maï!« rief das Kind.

Und als ob er glaubte, besser verstanden zu werden, setzte er noch hinzu:

»Vater... Vater!«[186]

Er sprach das Wort, wenn auch sehr schlecht, deutsch aus. Doch, wie seltsam ein Wort aus dieser Sprache von einem Wagddi aussprechen zu hören!

Kaum eingetreten, ging Llanga auf die Mutter zu, und diese breitete die Arme aus, drückte ihn an sich, liebkoste ihn mit der Hand und gab durch alles dem Retter ihres Kindes ihre Dankbarkeit zu erkennen.

John Cort hatte bei dem Besuche folgende Beobachtungen gemacht:

Der Vater war ein ziemlich großer Mann, gut gewachsen und von kräftigem Aussehen; seine Arme erschienen etwas länger als gewöhnlich die der Menschen, die Hände waren groß und stark, die Beine leicht gebogen, und die Fußsohlen standen ihrer ganzen Länge nach auf dem Boden.

Er zeigte die ziemlich helle Hautfarbe der eingebornen Stämme, die sich mehr von Fleisch als von Pflanzen nähren, einen flockigen kurzen Bart, schwarzes Kraushaar und eine Art Flaum, der den ganzen Körper bedeckte. Sein Kopf war von mittlerer Größe, die Kiefer standen nur wenig vor und seine Augen mit glänzender Pupille hatten einen lebhaften Ausdruck.

Die Mutter erschien fast graziös, mit ihren einnehmenden, sanften Zügen, ihrem Blick, der eine warme Liebe verrieth. Dazu hatte sie wohlgeordnet stehende Zähne von blendender Weiße, und – bei welcher Vertreterin des schwächeren Geschlechts träfe man gar nichts von Koketterie? – einige Blumen, daneben aber – was rein unerklärlich erschien – einzelne Glas- und Elfenbeinperlen im Haar.

Die junge Wagddifrau erinnerte an den Typus der Kaffern im Süden, und zwar durch ihre runden, wohlgeformten Arme, mit den zarten, sein zugespitzten Fingern, den weichen Händen mit Grübchen, und mit ihren Füßen, um die sie manche Europäerin hätte beneiden können. Ueber dem wolligen Flaum der Haut trug sie einen Ueberwurf aus Rindenstoff, der in der Taille zusammengehalten war. An ihrem Halse hing eine Denkmünze von Doctor Johausen, ganz ähnlich der, die das Kind getragen hatte.

Zum großen Leidwesen John Cort's war es nicht möglich, sich mit Lo-Maï und Li-Maï irgendwie zu verständigen, dagegen zeigte es sich unverkennbar, daß die beiden Eingebornen bemüht waren, allen Pflichten der wagddiischen Gastfreundschaft nachzukommen. Der Vater bot auf einer Schale einige Früchte an, Matofes, die von einer stark duftenden Liane stammen.

Die Gäste langten zu und verzehrten einige Matofes zur größten Befriedigung der Familie.[187]

Im weiteren Verlaufe des Besuches fand man auch die schon lange ausgesprochene Bemerkung bestätigt, daß die Sprache der Wagddis, ganz entsprechend den polynesischen Mundarten, viel Aehnlichkeiten mit dem kindlichen Lallen aufweise, was die Philologen zu der Behauptung veranlaßt hat, daß es für das gesammte Menschengeschlecht eine lange Zeit gegeben habe, wo alle Sprachen nur aus Vocalen bestanden, und daß die Consonanten erst weit später aufgetaucht wären. In fast zahllosen Verbindungen ließen sich die Vocale in verschiedenster Bedeutung gebrauchen und lauteten, freilich schon mit einzelnen, wenig hervortretenden Consonanten verbunden, z. B. ori, oriori, oro, oroora, orurna u. s. w. – An Consonanten traten zunächst das 'k', das 't' und das 'p' auf, und bald auch die Nasenlaute 'ng' und 'm'. Allein mit den Vocalen (im vorher bezeichneten Sinne) 'ha' und 'ra' ließ sich schon eine Reihe von Wörtern bilden, die ohne Mithilfe wirklicher Consonanten die verschiedensten Ausdrücke gestatteten und zur Bildung von Hauptwörtern, Fürwörtern und Zeitwörtern dienten.

In der Umgangssprache der Wagddis waren die Fragen und die Antworten sehr kurz, und bestanden meist nur aus zwei oder drei Wörtern, die wie bei den Congolesen fast alle mit 'ng', 'mgu' oder 'mf' anfingen. Die Mutter erschien weniger gesprächig als der Vater, wahrscheinlich hatte ihre Zunge nicht, wie die Zunge der Frauen der beiden Welten, die Fähigkeit, in der Minute zwölftausend Bewegungen auszuführen.

Recht auffallend war auch – und John Cort wunderte sich darüber am meisten – daß die Urmenschen verschiedene congolesische und deutsche Ausdrücke gebrauchten, wenn diese auch infolge ihrer Aussprache stark verunstaltet waren.

Im ganzen hatte es den Anschein, als ob der Gedankenkreis dieser Wesen sich nur auf alles zur Lebenserhaltung nothwendige beschränkte, und daß sie nur über Wörter verfügten, Vorstellungen dieser Art auszudrücken. An Stelle der sonst auch bei den niedrigst stehenden Wilden zu beobachtenden Religiosität, die den Insassen von Ngala offenbar abging, ließ sich doch mit Sicherheit erkennen, daß sie der Empfindung der Liebe und Zuneigung fähig waren. Sie verriethen für ihre Kinder nicht nur das Gefühl, das auch den Thieren, soweit es die Vorsorge für die Erhaltung der Art betrifft, nicht abgeht, sondern das ging auch, wie man es an dem Vater und der Mutter gegenüber Li-Maï beobachten konnte, entschieden darüber hinaus. Dazu trat ferner eine gewisse Reciprocität zu Tage, ein Austausch elterlicher und kindlicher Zärtlichkeit, kurz, man hatte hier das Bild einer »Familie« vor Augen.[188]

Nach einviertelstündigem Verweilen in der Hütte verließen Khamis, John Cort und Max Huber diese wieder unter Führung des Hausvaters und seines Kindes. Sie kamen nun wieder nach der Hütte, worin sie eingeschlossen gewesen waren und wie es scheint bleiben sollten, bis... ja, bis wann?... Immer wieder diese Frage, deren Lösung wahrscheinlich auch nicht durch sie allein erfolgen sollte.

Vor der Hütte trennte man sich. Li-Maï umarmte noch einmal den jungen Eingebornen und streckte – nicht etwa wie ein Hund die Pfote oder wie ein Vierhänder seine Vorderhand, nein – beide Hände John Cort und Max Huber entgegen, die diese mit mehr Herzlichkeit drückten, als Khamis.

»Mein lieber Max, bekannte dann John Cort, einer unserer berühmten Schriftsteller hat behauptet, daß in jedem Menschen ein Ich und ein Anderer verborgen sei. Wahrscheinlich fehlt den Urmenschen hier einer davon...

– Und welcher, John?

– Ganz sicher der andere. Um sie gründlich zu erforschen, müßte man sich Jahre lang bei ihnen aufhalten; ich hoffe jedoch, daß wir binnen wenigen Tagen wieder aufbrechen können...

– Das dürfte, fiel Max Huber ein, wohl von Seiner Majestät abhängen, und wer weiß denn, ob der König Mselo-Tala-Tala uns nicht zu Kammerherren des wagddiischen Hofes ernennen will?«

Fußnote

1 Ein Wort von de Quatrefages.


Quelle:
Jules Verne: Das Dorf in den Lüften. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIX, Wien, Pest, Leipzig 1902, S. 175-177,179-189.
Lizenz:

Buchempfehlung

Arnim, Bettina von

Märchen

Märchen

Die Ausgabe enthält drei frühe Märchen, die die Autorin 1808 zur Veröffentlichung in Achim von Arnims »Trösteinsamkeit« schrieb. Aus der Publikation wurde gut 100 Jahre lang nichts, aber aus Elisabeth Brentano wurde 1811 Bettina von Arnim. »Der Königssohn« »Hans ohne Bart« »Die blinde Königstochter« Das vierte Märchen schrieb von Arnim 1844-1848, Jahre nach dem Tode ihres Mannes 1831, gemeinsam mit ihrer jüngsten Tochter Gisela. »Das Leben der Hochgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns«

116 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon