Sechstes Capitel.
Immer weiter nach Südwesten.

[70] Am nächsten Morgen, am 11. März, brachen John Cort, Max Huber, Khamis und Llanga, die sich von den Anstrengungen des ersten Tages jetzt vollständig erholt hatten, auf, um die des zweiten Marschtages zu überwinden.

Nachdem sie ihre Lagerstatt unter den Baumwollbäumen verlassen hatten, umkreisten sie die Waldlichtung und wurden hier von Myriaden von Vögeln begrüßt, von Sängern, die ihre Triller lustig hinausschmetterten oder Orgeltöne erklingen ließen, um die sie die Patti und alle anderen Virtuosen der italienischen Musik hätten beneiden können.

Doch vor dem eigentlichen Aufbruche empfahl es sich noch, ein Frühstück einzunehmen. Dieses bestand einzig aus kaltem Antilopenfleisch und Wasser aus dem zur Linken vorüberfließenden Bache, aus dem sich auch der Foreloper seine Feldflasche füllte.

Anfänglich führte der Weg nach rechts unter die Baumkronen, die schon die ersten Strahlen der Sonne durchblitzten, deren Stand sorgsam ermittelt wurde.

Offenbar hausten mächtige Vierfüßler in größerer Menge in diesem Theile des Waldes. Nach jeder Richtung hin waren hier Durchgänge gebrochen. Noch im Laufe des Vormittags wurden auch eine Anzahl Büffel und sogar zwei Rhinozerosse sichtbar, die sich aber in gemessener Entfernung hielten. Da dieselben offenbar in keiner kampflustigen Stimmung waren, brauchte man auch keine Patrone zu opfern, um sie zu vertreiben.[70]

Nachdem etwa ein Dutzend Kilometer zurückgelegt waren, machte die kleine Gesellschaft gegen Mittag zum erstenmale wieder Halt.

Dabei fand John Cort Gelegenheit, ein Paar Trappen von der Abart der sogenannten Korans zu erlegen, die am Leibe ein gagatschwarzes Gefieder haben und mit Vorliebe im dichten Laubwerk nisten. Ihr von den Eingebornen sehr geschätztes Fleisch fand bei der Mittagsmahlzeit auch den Beifall eines Amerikaners und eines Franzosen.

»Ich wünschte aber dringend, hatte Max Huber gesagt, daß einmal wirklich gebratenes Fleisch an die Stelle des nur gerösteten träte.

– Nichts leichter als das,« hatte der Foreloper sofort erwidert.

Eine Trappe wurde infolgedessen gerupft, ausgenommen, an einen spitzen Stock gespießt und über lebhaft flackerndem Feuer gebraten. Sie mundete dann allen vortrefflich.

Der weitere Weg bot Khamis und seinen Gefährten größere Schwierigkeiten, als die des vorigen Tages.

Nach Südwesten zu fanden sich weniger häufig gangbare Durchbrüche. Hier mußten sie sich selbst einen Weg bahnen, und meist durch Buschwerk, das eben so zähe und fest war, wie die Lianen, die sich nur mit dem Messer zertrennen ließen. Mehrere Stunden lang fiel jetzt auch ein ziemlich starker Regen. Die Baumkronen waren aber so dicht belaubt, daß nur einzelne Tropfen den Boden erreichten. Inmitten einer anderen Lichtung konnte Khamis jedoch die fast geleerte Feldflasche aufs neue füllen, was gewiß höchst erwünscht war, denn der Foreloper hatte unter dem Gebüsch bisher vergeblich nach einem Wässerchen gesucht. Aus diesem Mangel erklärte sich wohl auch die Seltenheit der Thiere und der gangbaren Wildpfade.

»Das deutet freilich nicht auf die Nähe eines Wasserlaufes hin,« bemerkte John Cort, als am Abend wieder Rast gemacht wurde.

Es erhellte daraus auch, daß der Rio, der sich um den Tamarindenhügel schlängelte, nur am Rande des Waldes hinlaufen möge.

An der bisher eingehaltenen Richtung durfte deshalb immerhin nichts geändert werden, schon aus dem einfachen Grunde, daß sie nächsten Weges nach dem Ubanghi führte.

»Sollten wir übrigens nicht, meinte Khamis, an Stelle des neben dem vorgestrigen Lagerplatze gesehenen Flüßchens in dieser Richtung auf ein anderes treffen?«[71]

Die Nacht vom 11. zum 12. verbrachten die Wanderer nicht zwischen den Wurzeln eines Baumwollbaumes, sondern am Fuße eines anderen Waldriesen, eines Bombax, dessen runder, gerader Stamm sich bis auf hundertfünfzig Fuß über den dichten Teppich des Erdbodens erhob.

Die Nachtwache wurde ebenso wie vorher geordnet, und die Schläfer wurden höchstens durch entferntes Brüllen von Büffeln und Rhinozerossen dann und wann gestört. Daß auch das dröhnende Gebrüll eines Löwen sich zu diesem nächtlichen Concert gesellen werde, war kaum zu befürchten. Diese gewaltigen Raubthiere bewohnen kaum die Wälder Centralafrikas. Sie bevorzugen höher gelegene Landestheile, entweder jenseits des Congo im Süden, oder nahe der Grenze des Sudan, in der Nachbarschaft der Sahara, im Norden. Die allzudichten Waldmassen passen dem launenhaften Charakter und der gewohnten Bewegungsfreiheit des Königs der Thiere – des Königs aus eigener Macht, nicht Kraft einer Constitution – offenbar nicht. Er braucht mehr Raum, von der Sonne überfluthete Ebenen, wo er ganz nach Belieben umherjagen kann.

So wie sich dessen Gebrüll nicht hören ließ, so war es auch mit dem Grunzen des Flußpferdes – und das erschien bedauerlich, denn das Vorhandensein solcher amphibischer Säugethiere hätte auf die Nähe eines Wasserlaufes hingewiesen.

Am folgenden Morgen erfolgte der Aufbruch bei trübem Wetter. Max Huber gelang die Erbeutung einer Antilope von der Größe eines Esels, oder vielmehr von der eines Zebras, das in dieser Hinsicht zwischen Pferd und Esel steht. Es war ein weingelber Oryx mit mehrfachen, regelmäßigen Streifen. Der Oryx zeigt ein schwarzes Band vom Widerrist bis zum Hintergestell und schwarze Flecken an den übrigens weißlich behaarten Beinen, dazu hat er einen buschigen Schweif, der den Erdboden berührt, und auch an der Kehle ist er mit einem Bündel schwarzer Haare gezeichnet. Ein sehr schönes Thier, hat es wohl einen Meter lange Hörner mit etwa dreißig Ringwülsten nahe am Kopfe; seine Bewegungen sind zierlich, und im ganzen zeigt es ein Ebenmaß der Formen, wie ein solches nur selten zu finden ist.

Bei dem Oryx bilden die Hörner eine Schutzwaffe, die es ihm in den nördlichen und südlichen Gebieten Afrikas ermöglicht, sich sogar eines Löwen zu erwehren. Heute konnte das von dem Jäger scharf aufs Korn genommene Thier dessen gut sitzender Kugel freilich nicht entgehen, und mit durchbohrtem Herzen brach es auf der Stelle zusammen.[72]

Hiermit war die Ernährung der Gesellschaft auf mehrere Tage gesichert. Khamis ging sofort daran, den Oryx auszuweiden, was gut eine Stunde in Anspruch nahm.


Ein unförmlicher Kopf kam zum Vorschein. (S. 76.)
Ein unförmlicher Kopf kam zum Vorschein. (S. 76.)

Dann wurde die Last unter alle vertheilt, selbst Llanga erbat sich, etwas davon auf sich zu nehmen, und dann ging es des Weges weiter.

»Wahrhaftig, scherzte John Cort, hier beschafft man sich mehr als das nöthige Fleisch erstaunlich billig, da es ja nur eine Patrone kostet...

– Wenigstens wenn einer ein geschickter Schütze ist, sagte der Foreloper.[73]

– Und dazu etwas Glück hat,« setzte Max Huber hinzu, der sich bescheidener erwies, als sonst die Jünger des edlen Waidwerkes.

Hatten Khamis und seine Gefährten bisher aber ihr Pulver schonen und ihr Blei sparen können, da sie es nur zum Erlegen eßbaren Wildes gebraucht hatten, so sollte doch der Tag nicht vergehen, ohne daß die Gewehre zur Vertheidigung benutzt wurden.

Auf einer reichlich einen Kilometer langen Strecke glaubte der Foreloper sogar, sie würden sich schon zur Abwehr einer großen Affenbande genöthigt sehen. Diese Rotte tummelte sich weithin zur Rechten und zur Linken ihres Weges umher; die einen davon sprangen von einer Baumkrone zur anderen, die anderen hüpften mit grotesken Sätzen durch das Gesträuch am Erdboden mit einer Gewandtheit, die gewiß den Neid der geübtesten Akrobaten erregt hätte.

Die Affengesellschaft bestand aus mehreren Arten großer Vierhänder, aus Kynocephalen von drei Farben – gelben, wie die Farbe der Araber, rothen, wie die der Indianer des fernen Westens, und schwarzen, wie die der Eingebornen des Kaffernlandes – alle aber gehörten zu den gefährlichsten Thieren ihres Schlages. Darunter gaukelten mehrere Arten von Coloben umher, von leibhaftigen Dandys, den elegantesten Stutzern der Affenwelt, die unausgesetzt beschäftigt waren, ihren weißen Halskragen – um deswillen sie auch den Namen Bischofscoloben erhalten haben – zu bürsten und zu glätten.

Die unbehagliche Begleitung, die sich während der Mittagsmahlzeit angesammelt hatte, verschwand aber gegen zwei Uhr, wo Max Huber, John Cort, Khamis und Llanga ihre Wanderung längs eines unübersehbar weiten Pfades wieder antraten.

Während sie sich wegen dieser bequem gangbaren Wegstrecke beglückwünschen konnten, hatten sie sich dagegen auch über die Begegnung mit Thieren zu beklagen, die diesen offenbar vielfach zu betreten pflegten.

Hier waren es zwei Rhinocerosse, deren langgedehntes Schnaufen ein wenig vor vier Uhr aus geringer Entfernung hörbar wurde. Khamis erkannte das Geräusch sofort und ersuchte seine Begleiter, stehen zu bleiben.

»Es sind ungemüthliche Burschen, diese Rhinocerosse! sagte er und nahm schon das vorher umgehängte Gewehr in die Hand.

– Sehr ungemüthliche, bestätigte Max, und doch sind es nur Pflanzenfresser...

– Die aber ein sehr zähes Leben haben, setzte Khamis hinzu.[74]

– Und wie sollen wir uns nun verhalten? fragte John Cort.

– Wir müssen womöglich vorüberzukommen suchen, ohne gesehen zu werden, rieth Khamis an, oder uns mindestens verstecken, bis die gefährlichen Thiere vorbeigetrottet sind. Vielleicht bemerken sie uns dann nicht. Immerhin wollen wir uns schußfertig halten, denn wenn wir entdeckt werden, trampeln sie jedenfalls auf uns zu.«

Die Gewehre wurden untersucht und die Patronen zurechtgelegt, um schnell wieder laden zu können. Dann verließen alle den Wildpfad und verschwanden hinter dem dichten Gesträuch, das diesen auf der rechten Seite einsäumte.

Fünf Minuten später und als das Schnaufen und Grunzen weit lauter ertönte, erschienen die mißgestalteten Pachydermen, die zu der fast haarlosen Art der Ketloas gehörten. Sie trabten mit aufgerichtetem Kopfe und erhobenem Schwanze ziemlich schnell daher.

Es waren mächtige, zwischen drei und vier Meter lange Thiere mit geraden Ohren, kurzen, etwas gewundenen Beinen und abgestumpfter, mit einem Horne bewehrter Schnauze, mit der sie die gefährlichsten Stöße austheilen können. Die Härte ihrer Kiefer ist dabei so groß, daß sie Zweige mit spitzen Dornen ebenso ungestraft zerkauen, wie der Esel die Disteln verzehrt.

Die beiden Thiere machten plötzlich Halt. Khamis und die anderen erkannten sofort, daß sie erspäht waren.

Eines der Rhinocerosse – ein Ungeheuer mit rauher, trockener Haut – näherte sich dem Gesträuche.

Max Huber brachte schon das Gewehr in Anschlag.

»Schießen Sie nicht nach den Schenkeln, sondern nach dem Kopfe!« rief ihm der Foreloper zu.

Sofort krachte ein Schuß, ein zweiter, dritter folgte ihm. Die Kugeln durchdrangen kaum den dicken Panzer... die Schüsse blieben so gut wie verloren.

Das Knallen erschreckte die plumpen Angreifer keineswegs und hielt sie nicht zurück, im Gegentheil schickten sie sich an, in das Strauchwerk einzudringen.

Es lag auf der Hand, daß ein solches Gewirr von Dorngestrüpp und Buschwerk für so mächtige Thiere kein Hinderniß bilden konnte. In einem Augenblicke mußte dieses von ihnen zerrissen und niedergetreten sein. Sollten nun Khamis und seine Gefährten, nachdem sie vor den Elefanten auf der Ebene[75] glücklich geflüchtet waren, ebenfalls den Rhinocerossen entgehen? Ob solche Pachydermen eine Nase in der Form eines Rüssels oder in der eines Hornes hatten, kam ja wohl so ziemlich auf eins hinaus. Hier gab es nur leider keinen Schutzwall wie den der Bäume am Waldrande, vor dem die Elefanten hatten Halt machen müssen. Versuchten der Foreloper, John Cort, Max Huber und Llanga jetzt zu fliehen, so wurden sie jedenfalls verfolgt und voraussichtlich eingeholt. Das Lianennetz mußte sie im Laufe hemmen, während die Rhinocerosse es wie eine Lawine durchbrachen.

Unter den Bäumen des Dickichts befand sich aber zufällig ein ungeheuerer Baobab, der wohl eine Zufluchtsstätte bieten konnte, wenn es nur gelang, seine untersten Aeste zu erklimmen. Das wäre also eine Wiederholung des am Tamarindenhügel geübten Verfahrens gewesen, das freilich einen traurigen Ausgang hatte; ob es sich hier anders gestalten würde, blieb zunächst mindestens ungewiß.

Vielleicht war der Baobab aber doch groß und stark genug, dem Anprall der Rhinocerosse zu widerstehen.

Seine erste Gabelung lag freilich volle fünfzig Fuß über der Erde und sein kürbisartig ausgebauchter Stamm hatte nirgends einen Vorsprung, woran Hand oder Fuß hätte einen Haltepunkt finden können.

Der Foreloper hatte schnell erkannt, daß an ein Erklettern des Baumes nicht zu denken war. Max Huber und John Cort harrten schon gespannt auf seine Entscheidung.

In diesem Augenblick bewegte sich das Gesträuch am Rande des Pfades und es kam ein unförmlicher Kopf zum Vorschein.

Sofort krachte ein vierter Flintenschuß.

John Cort war damit nicht glücklicher, als vorher Max Huber. Die in die Schulter des Thieres nicht eindringende Kugel hatte nur ein noch schrecklicheres Geschnaufe zur Folge, da jenes durch den Schmerz noch mehr erregt wurde. Es wich auch nicht zurück, sondern stürzte mit voller Wuth auf das Dickicht zu, während das andere Rhinoceros, das von einer Kugel des Forelopers nur gestreift worden war, sich anschickte, dem ersten zu folgen.

Weder Max Huber, noch John Cort oder Khamis fanden Zeit genug, ihre Gewehre aufs neue zu laden. In verschiedener Richtung zu entfliehen, sich unter den anderen Bäumen in Sicherheit zu bringen, dazu war es zu spät. Der Trieb der Selbsterhaltung veranlaßte nur alle drei, hinter den Stamm des Baobab zu flüchten, der am Boden wohl fünf bis sechs Meter Umfang hatte.[76]

Wenn das erste Thier aber um den Stamm herum und das zweite ihm vielleicht von der andern Seite her entgegenkam... was dann?

»Zum Teufel! stieß Max Huber hervor.

– Nein: Gott stehe uns bei!« rief John Cort.

Zweifellos galt es jetzt, auf jede Hoffnung zu verzichten, wenn nicht die Hand der Vorsehung den Bedrohten zu Hilfe kam.

Von einem unbeschreiblich heftigen Anprall erzitterte da der Baobab bis in die Wurzeln, als sollten diese aus der Erde gerissen werden.

Das in unsinnigster Wuth anstürmende Rhinoceros stand aber plötzlich ganz still. An einer Stelle, wo die Rinde des Baobab schon einen Sprung hatte, war dessen Horn, gleich der Axt des Holzfällers, wohl einen Fuß tief eingedrungen. Vergeblich machte es die größten Anstrengungen, das Horn wieder herauszuziehen. Selbst als es sich mit den plumpen, kurzen Beinen gegen den Baumriesen stemmte, gelang ihm das so wenig wie vorher.

Das zweite Rhinoceros, das alles Gesträuch ringsum wie spielend niedertrat, hielt damit ein, doch was beide Thiere jetzt aufs höchste erregte, war schwerlich zu errathen. Khamis schlich sich, über die Wurzeln hinkriechend um den Stamm, um zu sehen, was vorgegangen wäre.

»Fliehen... in aller Eile fliehen!« rief er sofort.

Die anderen verstanden ihn mehr, als daß sie ihn hörten.

Ohne eine Erklärung zu verlangen, stürmten John Cort und Max Huber mit Llanga, den sie mit sich fortzogen, durch das hohe Gras dahin. Zu ihrer größten Verwunderung wurden sie von den Rhinocerossen nicht verfolgt, doch erst nach fünf Minuten fortgesetztem, erschöpfendem Laufe machten sie auf ein Zeichen des Forelopers Halt.

»Was ist denn geschehen? erkundigte sich John Cort, sobald er nothdürftig zu Athem gekommen war.

– Das Rhinoceros hat sein Horn nicht wieder aus dem Baumstamme ziehen können.

– Herr, mein Gott, rief Max Huber, das ist ja der reine Milon von Kroton unter den Nashornen!

– Und wird auch dasselbe Ende nehmen wie jener Held der olympischen Spiele,« setzte John Cort hinzu.

Khamis, den es wenig kümmerte, von dem berühmten Athleten des Alterthums so gut wie nichts zu wissen, begnügte sich, zu murmeln:[77]

»Mit einem Wort: Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen, freilich um den Preis von vier nutzlos verplatzten Patronen.

– Das ist um so bedauerlicher, weil das große Thier da... nun ja, weil es eßbar ist, wenn ich recht unterrichtet bin.

– Das stimmt, bestätigte Khamis, nur schmeckt sein Fleisch etwas stark nach Moschus... jedenfalls lassen wir es in der Klemme sitzen...

– Und sich nach Belieben sein Horn abbrechen!« schloß Max Huber die Rede.

Es wäre unvorsichtig gewesen, nach dem Baobab zurückzukehren. Das Grunzen der beiden Rhinocerosse war aus dem Dickicht noch immer zu hören. Nach einem Umwege, der sie auf den Wildpfad zurückführte, nahmen alle vier ihren Marsch wieder auf, den sie erst gegen sechs Uhr nahe bei einem großen Felsen unterbrachen.

Der nächste Tag verlief ohne jeden Zwischenfall. Die Schwierigkeiten des Weges nahmen vorläufig nicht weiter zu, und so wurden einige dreißig Kilometer nach Südwesten hin zurückgelegt. Der Wasserlauf freilich, nach dem es Max Huber so dringend verlangte und den Khamis so zuversichtlich erwartet hatte, zeigte sich noch immer nicht.

An diesem Abend und nach einer Mahlzeit, zu der eine Antilope, eine sogenannte Käse-Antilope, den wenig abwechslungsreichen Braten lieferte, überließ man sich sorglos der Ruhe. Leider wurden die zehn Schlummerstunden durch das Umherflattern von Tausenden großer und kleiner Fledermäuse gestört, die erst mit dem anbrechenden Morgen davonflogen.

»Zu viele Harpyien... viel zu viele! rief Max Huber, als er sich nach einer so schlecht verbrachten Nacht gähnend und die Glieder streckend erhob.

– Wer wird sich immer gleich beklagen! sagte der Foreloper.

– Warum denn nicht?...

– Weil es immer noch besser ist, es mit Fledermäusen als mit Moskitos zu thun zu haben, und von den zweiten sind wir bis jetzt verschont geblieben.

– Am besten wäre es wohl, Khamis, man könnte den einen wie den anderen aus dem Wege gehen.

– Na, die Moskitos werden uns nicht geschenkt werden, Herr Max...

– Und wann werden wir von diesen abscheulichen Insecten aufgefressen werden?

– Mit der Annäherung an einen Rio...[78]

– Einen Rio! platzte Max Huber heraus. An einen solchen haben wir wohl früher geglaubt, lieber Khamis, das ist aber jetzt nicht mehr möglich.

– Sie haben doch unrecht, Herr Huber, vielleicht ist er gar nicht mehr fern!«

Dem Foreloper waren thatsächlich schon einige Veränderungen des Erdbodens aufgefallen, und von Nachmittag drei Uhr an bestätigte sich seine Beobachtung nur noch weiter: der Wald, durch den sie zogen, wurde allmählich sumpfig.

Da und dort zeigten sich bereits Tümpel mit Wasserpflanzen, auch bot sich Gelegenheit, einzelne Gaupas, eine Art wilde Enten, zu erlegen, deren Vorkommen auf die Nähe von Wasser hinwies. Als sich die Sonne dem Horizonte zuneigte, ließ sich noch obendrein das Quaken von Fröschen hören.

»Entweder irre ich mich stark... oder das Land der Moskitos ist nicht mehr ferne,« sagte der Foreloper.

Auf der heute noch zurückzulegenden Wegstrecke ging die Wanderung recht beschwerlich vor sich, denn der Boden war mit den zahllosen Phanerogamen bedeckt, deren Entwicklung ein feuchtwarmes Klima so ungemein befördert. Dagegen zeigten sich die dünner stehenden Bäume weniger durch Lianen verbunden.

Max Huber und John Cort konnten die Veränderung gar nicht verkennen, die der sich nach Südwesten fortsetzende Theil des Waldes aufwies.

Trotz der Vorhersage Khamis' war in dieser Richtung aber noch nichts von dem Spiegelglanze eines fließenden Gewässers wahrzunehmen.

Je mehr indeß die Neigung des Erdbodens zunahm, desto häufiger war er von Morastlöchern durchsetzt, so daß es große Aufmerksamkeit erforderte, nicht in ein solches zu versinken. Ohne Stiche zu erleiden, wäre auch keiner wieder herausgekommen.

In den Löchern wimmelte es nämlich von Blutegeln, und auf ihrem morastigen Wasser huschten riesige Myriapoden umher, widerwärtige Gliederthiere von schwärzlicher Farbe und mit rothen Füßen, die man nur mit einem gewissen Abscheu betrachten konnte.

Eine herrliche Augenweide boten dafür unzählige Schmetterlinge mit schillernden Farben und graziöse Libellen, die von den vielen Eichhörnchen, den Zibet- und Ginsterkatzen, den Bengalischen Fischern, Traueramseln und Martinsfischern als Leckerbissen verzehrt wurden.

Der Foreloper bemerkte auch, daß nicht nur Wespen, sondern auch Tsetsefliegen in großer Menge im Gebüsch umherschwirrten. Muß man sich auch vor[79] dem Stachel der ersten hüten, so braucht man glücklicherweise den Biß der zweiten nicht besonders zu fürchten. Deren Gift ist nur für Pferde, Kameele und Hunde tödtlich, nicht aber für Menschen und auch nicht für Raubthiere.

Die kleine Gesellschaft wanderte bis halb sieben Uhr des Abends nach Südwesten weiter und hatte damit bis jetzt die längste und erschöpfendste Wegstrecke zurückgelegt. Schon bemühte sich Khamis, einen geeigneten Platz für das Nachtlager zu wählen, als Max Huber und John Cort durch ein Geschrei Llangas erschreckt wurden.

Seiner Gewohnheit nach war der Knabe den anderen immer voraus gelaufen und von einer Seite zur anderen gesprungen. Jetzt hörte man ihn mit lauter Stimme rufen... sollte er von einem Raubthiere überfallen worden sein?

John Cort und Max Huber liefen in der Richtung, aus der die Rufe kamen, hin und hatten sich bereits schußfertig gemacht. Sie sollten jedoch bald beruhigt werden.

Auf dem dicken Stamme eines umgestürzten Baumes stehend, wies Llanga mit der Hand nach einer umfänglichen Lichtung und wiederholte mit scharfer Stimme:

»Der Rio!... der Rio!«

Khamis kam ebenfalls herzugeeilt und John Cort sagte zu ihm einfach:

»Der gewünschte Wasserlauf.«

Einen halben Kilometer entfernt und durch eine baumlose Stelle schlängelte sich ein klarer Fluß dahin, der eben die letzten Sonnenstrahlen widerspiegelte.

»Dort... dort werden wir meiner Ansicht nach unser Nachtlager aufschlagen, äußerte John Cort.

– Jawohl... dort, stimmte ihm der Foreloper zu, und verlassen Sie sich darauf, daß uns dieser Rio bis zum Ubanghi führen wird.«

Es konnte ja in der That nicht schwierig sein, ein Floß herzustellen und sich darauf der Strömung des Flusses anzuvertrauen.

Ehe man an dessen Ufer kam, war noch eine recht sumpfige Wegstrecke zu überwinden.

Da die Dämmerung hier in der Aequatorialgegend nur von sehr kurzer Dauer ist, war es schon recht dunkel geworden, ehe der Foreloper und seine Gefährten an einer ziemlich hohen Uferwand ankamen.

An dieser Stelle standen die Bäume mehr vereinzelt, stromauf- und stromabwärts dagegen bildeten sie wieder dichte Massen.[80]

Die Breite des Flusses betrug nach John Cort's Schätzung etwa vierzig Meter. Es war das also kein einfacher Bach, sondern ein nicht unbedeutender Nebenfluß mit scheinbar recht schneller Strömung.


 »Der Rio!.. der Rio!« (S. 80.)
»Der Rio!.. der Rio!« (S. 80.)

Natürlich galt es, bis zum Morgen zu warten, um die Sachlage klarer zu übersehen. Das Nothwendigste war vorläufig die Aufsuchung eines geeigneten Platzes für die Nachtruhe. Khamis entdeckte auch einen solchen in einer Felsaushöhlung, einer Grotte in dem Kalkstein der Uferhöhe, die zur Aufnahme aller vier Wanderer ausreichen mußte.

Zunächst wurde der Ueberrest des letzten Wildbratens kalt verzehrt. Dadurch konnte man davon absehen, ein Feuer anzuzünden, dessen Glanz ja leicht genug Thiere aus der Nähe herbeilocken konnte. Krokodile und Flußpferde giebt es in den afrikanischen Flüssen in großer Menge. Hausten solche auch in diesem Flusse – und das war höchst wahrscheinlich – so mußte man sich wenigstens hüten, von ihnen in der Nacht überfallen zu werden.

Freilich hätte ein an der Grottenöffnung auflodernder und stark rauchender Feuerherd die Wolken von Moskitos vertrieben, die am unteren Theile der Uferwand umhersummten. Unter zwei Uebeln entschied man sich aber doch für das kleinere, und wollte lieber den Stacheln der Stechfliegen und anderer lästiger Insecten ausgesetzt, als von den ungeheueren Kiefern der Alligatoren bedroht sein.

In den ersten Stunden hielt John Cort am Eingange der Aushöhlung Wache, während seine Gefährten trotz des Summens und Schwirrens der Moskitos in tiefem Schlummer lagen.

In dieser Zeit bemerkte er nichts verdächtiges, nur glaubte er mehrmals ein Wort zu vernehmen, das in kläglichem Tone aus dem Munde eines Menschen zu kommen schien.

Das Wort lautete »Ngora«, das in der Eingebornensprache »Mutter« bedeutet.[83]

Quelle:
Jules Verne: Das Dorf in den Lüften. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIX, Wien, Pest, Leipzig 1902, S. 70-81,83-84.
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