Vierzehntes Capitel.
Die Ankunft auf dem Gipfel des Kegels. – Umschau nach allen Seiten. – Was im Norden, Osten und Westen zu sehen war. – Das Land im Süden. – Ein Schiff am Horizonte. – Die britische Flagge.

[215] Drei- bis vierhundert Faß... das übertrifft nicht einmal die Höhe der großen Pyramide von Aegypten. Freilich hätte man an den Seiten des Bergkegels vergeblich die riesigen Stufen gesucht, die die Erklimmung des Pharaonenbauwerkes von Gizeh erleichtern und ohne die es ganz unmöglich wäre, nach seiner Spitze zu gelangen. Die Winkel, den die schrägen Seitenlinien des Kegels mit der Senkrechten bildeten, waren übrigens hier etwas größer als bei der großen Pyramide.

Das Ganze bildete eigentlich nur einen ungeheueren Haufen regellos aufgethürmter Felsstücke, die meist recht unzulänglich gestützt zu liegen schienen. Daran gab es aber genug hervorspringende Ränder, Kanten, Ecken und Wülste, die dem Fuß einen sicheren Stützpunkt boten. Jack, der immer voraus war, prüfte die Sicherheit, tastete rechts- und linkshin, und indem Wolston und Ernst ihm ohne Uebereilung folgten, schwangen sie sich nach und nach von Block zu Block empor.

Doch welch trostlose Unfruchtbarkeit herrschte in dieser dritten Zone! Nirgends entdeckte man eine Spur von Pflanzenwuchs, höchstens einige Büschel jenes mageren Sandkrautes, das mit ein paar Krümchen Erde vorlieb nimmt, und größere Bodenstücke mit trockenen Flechtenarten, die dem Felsen eine graugrüne Färbung verliehen.

Die Hauptschwierigkeit bestand jetzt darin, ein Abgleiten zu verhüten, denn der Abhang war zuweilen so glatt wie ein Spiegel Hier wäre ein Sturz, bei dem man bis zum Fuße des Kegels hinabrollen mußte, jedenfalls tödtlich gewesen. Außerdem verlangte es große Vorsicht, die wirr durcheinander geworfenen Bruchstücke nicht ins Wanken zu bringen und eine Lawine auszulösen, die bis zum Fuß der Bergkette hinabgepoltert wäre.

Das mächtige Gerippe des Berges bestand übrigens ausschließlich aus Kalkstein und Granit; nichts davon verrieth einen vulcanischen Ursprung. Das ließ also annehmen, daß die Neue Schweiz von Eruptionen und Erderschütterungen als Wirkung unterirdischer Kräfte verschont bleiben werde.[215]

Wolston, Jack und Ernst gelangten ohne Unfall bis zur halben Bergeshöhe. Selbst beim behutsamsten Klettern hatten sie aber doch zuweilen Felsstücke ins Rollen gebracht. Dann stürzten auch stets drei oder vier größere Blöcke mit hinab, die, erst an den Bergflanken aufschlagend, sich zwölfhundert Fuß weiter unten im Walde verloren und deren Hinabdonnern das Echo der Bergkette weckte.

Ueber dieser Höhe schwebten noch einige große Vögel, die einzigen Vertreter des Thierlebens in der dritten Zone, auf der sie aber nirgends zu rasten suchten. Kleinere Vögel zeigten sich gar nicht, diese hielten sich wohl immer in dem ausgedehnten Tannenwalde auf. Einige Pärchen prächtiger Luftsegler zogen langsamen Flügelschlags noch über den trotzigen Gipfel des Kegels hin. Da zitterte Jack schon das Gewehr in den Händen und gern hätte er eine Kugel hinausgejagt nach den zu den »Umbus« gehörigen Geiern oder nach den riesigen Condors, die offenbar über das Erscheinen von Menschen in dieser traurigen Einöde erstaunten..

Mehr als einmal war der junge Jäger schon dabei, das Gewehr an die Schulter zu legen.

»Was könnt' es nützen? rief ihm Wolston zu.

– Wie... nützen...? erwiderte Jack. Es wäre doch...«

Er vollendete den Satz jedoch nicht, sondern sprang, nachdem er die Waffe wieder umgehängt hatte, weiter auf den Blöcken hinaus.

In gleicher Weise blieb einem prächtigen Malabaradler das Leben erhalten. Statt diesen zu erlegen, wäre es rathsamer gewesen, ihn einzufangen. Er hätte dann Fritzens treuen Begleiter ersetzen können, der bei der Kajakfahrt zur Aufsuchung des Rauchenden Felsens im Kampfe mit dem Tiger umgekommen war.

Je mehr man sich der Kegelspitze näherte, desto schroffer fiel der Abhang ab. Der letzte Theil des Berges glich schon mehr einem Zuckerhüte. Wolston zweifelte schon daran, ob ganz oben für drei Personen Platz genug sein werde. Alle mußten sich gegenseitig, oder richtiger einer dem anderen helfen. Jack zog erst Ernst und dieser dann Herrn Wolston zu sich empor. Eine Umgehung des Kegels wäre eine vergebliche Mühe gewesen. Hier an der Nordseite bot dieser noch die geringsten Schwierigkeiten.

Gegen zwei Uhr Nachmittags ließ sich eine vibrirende Stimme vernehmen – die Stimme Jacks – wohl die erste, die auf diesem Gipfel erschallt war.

»Eine Insel... es ist eine Insel!«[216]

Eine letzte Kraftanstrengung brachte Wolston und Ernst an die Seite Jacks. Erschöpft, schachmatt, keuchend und kaum noch der Sprache mächtig, dehnten sie sich auf der zwei Quadrattoisen großen Gipfelfläche erst einmal ordentlich aus, um wieder zu Athem zu kommen.

Daß die Neue Schweiz eine Insel war, unterlag ja seit dem Hierherkommen der »Licorne« keinem Zweifel mehr. Umschloß sie das Meer auch von allen Seiten, so war das doch hier vom Berge aus in verschiedener Entfernung der Fall.


Die Taube wurde aus ihrem kleinen Bauer genommen. (S. 226.)
Die Taube wurde aus ihrem kleinen Bauer genommen. (S. 226.)

Weit ausgedehnt im Süden, etwas beschränkter im Westen und Osten und zu einem bläulichen Landstreifen zusammengeschrumpft im Norden, erglänzte die Insel unter den Strahlen der Sonne, die jetzt nur wenige Grade unter ihrem Culminationspunkte stand.

Der erste Blick lehrte Ernst schon, daß der Bergrücken nicht durch die Mitte des Landes verlief. Dieser stieg vielmehr im südlichen Theile auf und beschrieb nach Osten und nach Westen hin einen ziemlich regelmäßigen Bogen.

Von diesem, fünfzehnhundert Fuß über der Meeresfläche gelegenen Punkte aus konnte man bis zum Horizonte ungefähr siebzehn bis achtzehn Lieues weit sehen. Die Neue Schweiz hatte aber keine entsprechend große Oberfläche.

Wolston stellte an Ernst eine hierauf bezügliche Frage.

»Meiner Schätzung nach, antwortete dieser, dürfte unsere Insel einen Umfang von sechzig bis zweiundsechzig Lieues haben. Das ergäbe immerhin eine erhebliche Oberfläche, mindestens eine größere als die des Cantons Luzern.

– Wie groß wäre sie also annähernd? fragte Wolston weiter.

– Soweit ich das abzuschätzen vermag, und wenn ich. ihre Gestaltung eines Ovals in Rechnung ziehe, erklärte Ernst, kann sie wohl vierhundert Quadratlieues etwa halb so viel wie Sicilien, messen.

– O, rief Jack, es gibt eine Menge bekannte und wichtige Inseln, die lange nicht so groß sind!

– Ganz recht, stimmte Ernst ein, und täuscht mich mein Gedächtniß nicht, so hat eine der wichtigsten Inseln des Mittelmeeres, die für England von ganz besonderer Bedeutung ist, nur neun Lieues in der Länge bei vieren in der Breite...

– Welche denn?

– Malta.

– Malta! rief Wolston, dessen Britendünkel bei diesem Namen erwachte. Nun, warum sollte die Neue Schweiz nicht zu einem Malta des Indischen Oceans werden?...«[219]

In Jack stieg dabei freilich die Frage auf, warum denn die alte Schweiz sie nicht ebenso gut für sich behalten und hier vielleicht eine blühende helvetische Colonie anlegen könnte.

Der Himmel war sehr klar und die Luft bis zum Horizonte völlig frei von Dünsten. Keine Spur von Feuchtigkeit war zu bemerken und das Land mit allen seinen Unebenheiten ganz deutlich zu übersehen.

Da der Abstieg jedenfalls dreimal weniger Zeit erforderte, als der Aufstieg, blieben Wolston und den beiden Brüdern einige Stunden übrig, ehe sie nach dem Tannenwalde hinunter wieder aufbrechen mußten. Mit dem von Hand zu Hand gehenden Fernrohre betrachteten sie aufmerksam das weite Land, das sich vor ihnen ausdehnte.

Ernst hatte Taschenbuch und Bleistift hervorgeholt und zeichnete die Linien des Ovals ab, die den neunzehnten Grad südlicher Breite mit einer Länge von etwa vierundzwanzig Lieues und den hundertvierzehnten Meridian mit einer solchen von neunzehn Lieues durchschnitten.

Auf einer Strecke, die in der Luftlinie zehn bis elf Lieues messen mochte, ließ sich nach Norden zu folgendes erkennen:

Zunächst begleitete ein schmaler Meeresstreifen jenseit der Küste den Theil, der zwischen dem Cap der Getäuschten Hoffnung und dem Vorgebirge lag, das die Perlenbucht abschloß.

»Nein, da ist kein Irrthum möglich, meinte Jack, und ich brauche gar kein Fernrohr, das Gelobte Land und die Küste bis zur Rettungsbucht zu erkennen...

– Gewiß nicht, setzte Wolston hinzu, und dort an der entgegengesetzten Seite sieht man das Cap im Osten, das die »Licorne«-Bai beschützt.

– Leider kann man, versetzte Jack, selbst mit Ernstens vorzüglichem Fernrohre die Gegend in der Umgebung des Schakalbaches nicht sehen.

– Das kommt, erwiderte Ernst, daher, daß sie von der sie im Süden begrenzenden Felsenwand verdeckt wird. Da man von Felsenheim und Falkenhorst aus den höchsten Gipfel der Berge nicht zu sehen vermag, kann man auch von der Höhe der Kette aus Falkenhorst und Felsenheim nicht sehen. Das ist doch logisch, meine ich...

– Vollkommen, Du Erzlogiker, Du! antwortete Jack. Das müßte aber ebenso für das Cap der Getäuschten Hoffnung Geltung haben, und doch ist das jenes weit nach Norden hinausreichende Vorgebirge, das man von hier aus erkennen kann...[220]

– Ja, doch so sicher es ist, fuhr Ernst fort, daß man von jenem Cap und selbst vom Prospect-Hill aus den Kegelberg hier wahrnehmen kann. gehört doch vor allem dazu, daß man einmal danach hinblickt. Wahrscheinlich haben wir das noch nie mit der nöthigen Aufmerksamkeit gethan.

– Aus dem allen, meinte Wolston, geht hervor, daß die eigentliche Bergkette doch von den Anhöhen des Grünthales aus sichtbar sein müßte.

– Gewiß, Herr Wolston, erklärte Ernst, und eben diese Höhen verbergen Felsenheim unseren Blicken.

– Das bedauere ich, fiel Jack ein, denn ich bin überzeugt, daß wir da meinen Vater, meine Mutter, Frau Wolston und Annah hätten unterscheiden können, und wenn es ihnen eingefallen wäre, sich nach dem Prospect-Hill zu begeben, wette ich, daß wir sie einzeln hätten erkennen können... natürlich mit dem Fernrohre. Jetzt weilen sie nun da unten, sprechen von uns, zählen die Stunden und sagen sich vielleicht: Gestern mußten unsere Ausflügler am Fuße der Berge, und heute werden sie auf deren Kamme sein. Sie fragen sich wohl auch. welche Ausdehnung die Neue Schweiz haben möge. und ob sie sich im Indischen Meere hübsch sehen lassen könne...

– Sehr schön, lieber Sohn, es ist, als ob wir sie hörten! sagte Wolston..

– Und als ob wir sie sähen, versicherte Jack. Doch einerlei, ich beklage immerhin, daß jene Höhen uns den Schakalbach und unsere Wohnung in Felsenheim verhüllen...

– Ueberflüssiges Bedauern, meinte Ernst, dem man sich besser nicht hingiebt.

– Daran ist nur der dumme Gipfel hier schuld! sagte Jack. Warum ist er denn nicht noch etwas höher? Stiege er nur noch einige hundert Fuß mehr in die Luft auf, so würden unsere Angehörigen uns auch von da unten aus sehen... sie würden uns Zeichen geben... würden auf dem Felsenheimer Taubenhause eine Flagge aufziehen... und wir sendeten ihnen einen Gruß mit der unserigen...

– Aha, Jack ist wieder im Durchgehen! spöttelte Wolston gutmüthig.

– Auch bin ich überzeugt. Ernst sähe da die Annah...

– O, die sehe ich immer...

– Natürlich, auch ohne Fernglas, rief Jack. Sapperlot, wie weit reichen doch die Augen des Herzens!«[221]

Vom Gelobten Lande war also keine Einzelheit zu sehen. Unter diesen Umständen erübrigte es nur, die Gesammtinsel sorgsam zu betrachten, um ihre Umfassungslinien sowie ihren geologischen Aufbau kennen zu lernen.

Die Küste im Osten, also das Land hinter der »Licorne«-Bai, zeigte einen felsigen Rand, der den ganzen unfruchtbaren Theil, der schon seit der ersten Fahrt der Pinasse bekannt war, völlig einrahmte. Weiterhin erniedrigte sich das Steilufer, dagegen stieg das Land bis zur Mündung des Montrose mehr auf, lief endlich in einen spitzen Vorberg aus und bildete einen rückläufigen Bogen bis zu der Stelle, wo die eigentliche Bergkette im Südosten ihren Anfang nahm.

Gleich einem leuchtenden Faden glänzten in einiger Entfernung die Windungen des Montrose. In seinem Unterlaufe bewässerte dieser eine grünende und bewaldete Gegend, im Oberlaufe dagegen eine ganz nackte Landstrecke. Von zahlreichen, aus den unteren Theilen des Tannenholzes hervorrieselnden Rios ernährt, machte der Fluß vielfach Umwege und Schleifen. Jenseit des dichten Hochwaldes und zwischen Hainen und vereinzelten Baumgruppen verstreut, zeigten sich Ebenen und Grasflächen bis zur äußersten Westgrenze der Insel, wo wieder ein ziemlich hoher Hügel aufragte, gegen den sich, fünf bis sechs Lieues von hier, das andere Ende der Bergkette stützte.

Geometrisch dargestellt, hatte die Insel fast genau die Gestalt eines etwas breiteren als langen Blattes, dessen Stiel nach Süden hinausragte. Den Blattnerven entsprachen die Felsenkämme, dem Zellgewebe die grünen Flächen, die den größten Theil der Oberfläche bedeckten.

Im Westen glitzerten im Sonnenschein noch andere Wasserläufe, die zusammen ein ansehnliches hydrographisches System bildeten, jedenfalls ein mehr lückenloses Netz als das im Osten, das sich auf den Montrose und den Ostfluß beschränkte.

Kurz, die Neue Schweiz zeigte, nördlich von der Bergkette, mindestens zu fünf Sechsteln ihrer Oberfläche eine reiche Fruchtbarkeit und mußte recht gut einige tausend Einwohner ernähren können.

Was ihre Lage in diesem Theile des Indischen Oceans betraf, lag es vor Augen, daß sie mit keiner Inselgruppe, mit keinem Archipel in Verbindung stand.

Auch durch das Fernrohr war am äußersten Horizonte keine Spur von Land zu entdecken. Die nächste Küste wäre erst in der Entfernung von dreihundert[222] Lieues zu suchen gewesen, und das war, wie wir wissen, die von Neu-Holland.

Fehlte der Insel also auch ein Kranz von ihrem Ufer abgetrennter Eilande so erhob sich wenigstens, etwa vier Lieues westlich von der Perlenbucht, ein einzelnes Felsgebilde. Jack richtete das Fernrohr danach hin.

»Der Rauchende Berg... der nicht raucht, rief er, und ich stehe dafür ein: Fritz hätte ihn auch schon mit unbewaffnetem Auge erkannt!«

Die Neue Schweiz eignete sich demnach in ihrem größten Theile zur Anlegung einer bedeutenden Colonie. Was der Norden, Osten und der Westen dazu bot. hätte man vom Süden freilich nicht verlangen können.

Gleich einem Bogen gekrümmt. lehnten sich die beiden Ausläufer der Bergkette in fast gleicher Entfernung vom Fuße des Kegels, der also gerade die Mitte einnahm, gegen das Ufer. Der hierdurch abgeschlossene Landestheil war nach dem Meere zu von einer Reihe steiler Uferwände begrenzt, deren Untergrund man nicht sehen konnte, die aber lothrecht abzufallen schienen.

Welch ein Unterschied zwischen diesem sechsten Theile der Insel und den fünf anderen, die von der Natur so freigebig begünstigt waren! Hier herrschte die furchtbare Einöde einer Wüstenei, das abschreckendste Chaos. Die obere Zone der Bergkette reichte bis zum südlichen Ende der Insel hin – ein Hochgebiet, das völlig unübersteigbar zu sein schien. Vielleicht lief sie nach dieser Seite hin über ein Ufer mit Einschnitten, Spalten oder Escarenen aus, wie man stark gefurchte, steile Uferabhänge zu nennen pflegt. Der äußerste Strich Landes, ein sandiger oder mit Geröll bedeckter Streifen, an dem eine Landung möglich gewesen wäre, beschränkte sich wahrscheinlich auf einen schmalen, nur bei der Ebbe trocken liegenden Strand.

Schweigend betrachteten Wolston, Jack und Ernst das trostlos wüste Bild, das sich hier vor ihren Augen entrollte. Endlich fand Ernst wieder das Wart zu folgender gerechtfertigten Bemerkung:

»Wären wir nach dem Schiffbruche des »Landlord« an diese Küste geworfen worden, so wäre unser Tonnenboot ohne Zweifel in Trümmer gegangen und wir wären von dem schrecklichen Hungertode bedroht gewesen!

– Ganz richtig, lieber Ernst, sagte Wolston, an diesem Ufer wäre schwerlich auf Rettung zu hoffen gewesen. Stießt Ihr damals freilich nur wenige Lieues weiter nördlich ans Land, da hätte sich schon fruchtbarer Boden und eine wildreiche Gegend gezeigt. Ich vermuthe übrigens, diese schreckliche Gegend[223] stehe mit dem Innern in keinerlei Verbindung, und glaube auch nicht, daß es möglich sei, nach ihr zu gelangen, wenn man einen Abstieg über die Südseite der Bergkette versuchte...

– Ja, das ist wohl kaum anzunehmen, setzte Jack hinzu; wenn wir aber um die Küste herumfuhren, hätten wir ja die Mündung des Montrose und den fruchtbaren Theil der Insel erreicht gehabt...

– Gewiß, antwortete Ernst, doch unter der Bedingung, daß unser Boot nach Westen oder nach Osten hin gelangen konnte. Die ganze Südküste hätte ihm keine Bucht geboten, wie unsere Rettungsbucht, wo wir ohne zu viele Mühe landen konnten!«

Es war in der That ein Glück zu nennen, daß die Schiffbrüchigen vom »Landlord« an das nördliche Ufer der Neuen Schweiz geworfen worden waren. Wie hätten sie sonst, hier am Fuße des riesigen Felsengewirres, einer der schrecklichsten Todesarten entrinnen können?

Wolston, Ernst und Jack wollten bis um vier Uhr Nachmittag auf dem Gipfel des Kegels bleiben. Sie machten, so gut das anging, alle nöthigen Aufnahmen, um eine Karte der Neuen Schweiz zu entwerfen, eine Karte, die nur im Süden eine Lücke aufwies, weil sie den dahin gelegenen Theil nicht vollständig übersehen konnten.

Diese Lücke sollte jedoch nach dem Eintreffen der »Licorne« ergänzt werden, wenn der Lieutenant Littlestone die hydrographische Aufnahme der Insel vollendet hätte.

Ernst hatte eben ein Blatt aus seinem Notizbuche gerissen und begann darauf folgende Zeilen zu schreiben:

»Heute, am 30. September 1817, Nachmittag vier Uhr, und auf dem Gipfel des...«

Da unterbrach er sich.

»Ja, wie wollen wir denn den Kegelberg taufen?... Es scheint mir übrigens, er wäre richtiger mit dem Worte Pic statt mit Bergkegel zu bezeichnen.

– Zugegeben, also »Pic des Bedauerns«, schlug Jack vor, weil wir Felsenheim von hier aus nicht sehen konnten.

– Nein, der »Pic Jean Zermatt«, zu Ehren Eures Vaters, meine jungen Freunde!« lautete der Vorschlag Wolston's.

Dieser Vorschlag fand beifällige Annahme. Jack holte einen kleinen Becher aus der Jagdtasche und Wolston und Ernst thaten das gleiche. Jeder wurde mit[224] einer Kleinigkeit Branntwein gefüllt, und beim Trinken ein dreifaches Hurrah ausgebracht. Darauf fuhr Ernst fort zu schreiben.

»... auf dem Gipfel des Pic Jean Zermatt richten wir an Euch geliebte Eltern, an Sie, verehrte Frau Wolston, und an Dich, meine liebe Annah, diese wenigen Zeilen, die unserem getreuen Boten anvertraut werden sollen, der – glücklicher als wir – bald wieder in Felsenheim eintreffen wird.

»Unsere Neue Schweiz, die vereinzelt in diesem Theile des Indischen Oceans aufragt, dürfte sechzig bis siebzig Lieues Umfang haben. Auf dem größten[225] Theile ihrer Oberfläche höchst fruchtbar, ist sie vom Südabhange der Bergkette an ganz dürr und scheint dort völlig unbewohnbar zu sein.


Sobald sie die Taube in Händen hatte... (S. 231.)
Sobald sie die Taube in Händen hatte... (S. 231.)

»Binnen zweimal vierundzwanzig Stunden – da der Rückweg weniger Zeit beanspruchen wird – hoffen wir, wieder bei denen zu sein, die wir von Herzen lieben, und vor Ablauf von drei Wochen werden wir, so Gott will, auch die anderen, so sehnsüchtig erwarteten Abwesenden wiedergesehen haben.

»Von uns allen, Herrn Wolston, meinem Bruder und Euerem treuergebenen Sohn, übermittelt den geliebten Eltern, der Frau Wolston und seiner herzlieben Annah die innigsten Grüße Ernst.«

Die Taube wurde aus ihrem kleinen Bauer genommen, und nachdem das Blättchen an ihrem linken Fuße befestigt worden war, ließ Ernst sie auffliegen.

Anfänglich erhob sich das Thierchen noch dreißig bis vierzig Fuß über die Gipfelfläche hinaus, als suchte es einen noch größeren Gesichtskreis zu gewinnen, dann eilte es – von seinem außerordentlichen Orientierungsinstincte, diesem sechsten Sinne, der jedem Thiere verliehen zu sein scheint, geleitet – raschen Flügelschlages in der Richtung nach Norden hin und war bald den Blicken der drei Männer entschwunden.

Nun galt es nur noch, die Flagge auf der Spitze des Pic Jean Zermatt zu hissen, und als Flaggenmast wurde der lange Bergstock Wolston's zwischen den obersten Felsblöcken befestigt. War das geschehen, so brauchten die Ausflügler nur noch bis zum Fuße der Bergkette hinunter zu steigen und sich nach der Grotte zu begeben, um dort eine tüchtige Mahlzeit zu verzehren, wozu ja die Jagd alles nöthige zu liefern versprach, und schließlich konnten sie sich der nach einem so anstrengenden Tage wohlverdienten Ruhe hingeben.

In der Frühe des folgenden Tages sollte dann der Rückmarsch angetreten werden. Folgten die Ausflügler dabei dem ihnen schon bekannten Wege, so erschien es nicht unmöglich, Felsenheim vor Ablauf von achtundvierzig Stunden zu erreichen.

Wolston und Jack gingen also daran, den Stock tief im Gestein zu befestigen, um ihn auch gegen die in dieser Höhe sehr heftigen Windstöße widerstandsfähig zu machen.

»Es kommt vor allem darauf an, bemerkte Jack, daß unsere Flagge bis zum Eintreffen der »Licorne« hier oben wehe, damit der Lieutenant Littlestone sie schon bei der Annäherung an die Insel erblicken kann. O, wie wird Fritz und Jenny, Franz, ihren Kindern, Herr Wolston, aber auch uns selbst das[226] Herz freudiger klopfen, wenn wir erst die einundzwanzig Kanonenschüsse hören, die die Flagge der Neuen Schweiz begrüßen!«

Der Stock ließ sich bequem in einem Felsenspalt aufstellen und wurde darin mittels kleiner Steine unbeweglich festgeklemmt.

Gerade als Wolston dann das Flaggentuch an dessen oberem Ende anbringen wollte, hielt er, starr nach Westen hinausschauend, plötzlich inne, so daß Jack ihn verwundert ansah.

»Was giebt es denn, Herr Wolston? fragte er.

– Mir schien, als sähe ich doch... antwortete dieser, während er das Ocular des Fernrohres vors Auge brachte.

– Als sähen Sie?... fiel Ernst ein.

– Einen Rauchstreifen dort über dem Ufer, antwortete Wolston, wenn es sich nicht wieder um Dunstmassen handelt, wie ich sie schon einmal beobachtete, als die Pinasse der Montrose-Mündung gegenüber lag.

– Zerstreut sich denn die Rauchwolke? fragte Ernst.

– Nein, erwiderte Wolston, und sie scheint an derselben Stelle wie früher, über dem Ende der Bergkette zu schweben. Sollten etwa seit mehreren Wochen Schiffbrüchige oder gar Wilde an jener Stelle der Küste lagern?«

Jetzt betrachtete Ernst aufmerksam den bezeichneten Punkt, konnte dort aber nichts besonderes entdecken.

»O, Herr Wolston, rief da Jack, auf dieser Seite ist nichts zu sehen... dagegen hier... nach Süden zu...«

Er wies dabei mit der Hand über das hohe Ufer hinweg nach dem Meere.

»Das ist ja ein Segel! sagte Ernst.

– Ja... unzweifelhaft... ein Segel! wiederholte Jack.

– Dort befindet sich ein Schiff in Sicht der Insel, fuhr Ernst fort, und es scheint auf diese zuzusteuern«

Wolston, der jetzt das Fernrohr wieder ergriff, konnte sehr deutlich einen Dreimaster erkennen, der mit allen Segeln zwei bis drei Lieues von der Küste dahinzog.

Da rief Jack aufspringend und jubelnd:

»Das ist die »Licorne«... das kann nur die »Licorne« sein!... Sie sollte erst gegen Mitte October eintreffen und kommt nun schon Ende September, vierzehn Tage früher...[227]

– Unmöglich wäre das ja nicht, meinte Wolston. Ehe wir das aber beurtheilen können, müssen wir genau wissen, nach welcher Seite jenes Fahrzeug segelt.

– Es hält auf die Neue Schweiz zu, versicherte Jack. Morgen früh wird es im Westen der Rettungsbucht auftauchen, und wir werden zu seinem Empfange nicht anwesend sein!... Vorwärts, Herr Wolston, wir wollen die ganze Nacht hindurch wandern!«

Ein letzter Blick Ernsts nach dem Meere hinaus hielt jedoch Jack zurück, der sich schon zum Abstieg wendete und gleich an der Seite des Kegels hinuntergleiten wollte.

»Nein, nein, sagte er. Sehen Sie nur noch einmal genau hin, Herr Wolston, das Fahrzeug steuert einen anderen Curs.

– Ja ja, so ist es, erklärte dieser, nachdem er die Bewegung des Schiffes einige Augenblicke beobachtet hatte.

– Dann wäre es also die »Licorne« nicht? rief Jack halb enttäuscht.

– Nein, versicherte Ernst.

– Die »Licorne« würde übrigens, setzte Wolston hinzu, im Nordwesten ans Land gehen, während jenes Fahrzeug nach Südosten segelt und sich von der Insel entfernt.«

Ein Irrthum war jetzt ganz ausgeschlossen. Das Schiff in der Ferne steuerte mehr nach Osten zu und schien die Neue Schweiz gar nicht weiter zu beachten.

»Nun gut, sagte Jack, die »Licorne« muß aber doch bald eintreffen, und mindestens werden wir dann zur Stelle sein, der Corvette Sr. Majestät Wilhelms III. die gebührende Ehrenbezeugung zu erweisen.«

Die Flagge wurde nun auf dem Gipfel des Pic Jean Zermatt gehißt und flatterte bald lustig im Winde, während sie Jack mit zwei Gewehrschüssen begrüßte.[228]

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 215-217,219-229.
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