Dreizehntes Kapitel.
Der Mord.

[190] Über das Ereignis verlautete das folgende:

Sobald der Kapitän Gibson die letzten Anordnungen getroffen hatte, damit der »James-Cook« am nächsten Morgen frühzeitig zur Abfahrt bereit wäre, hatte er das Schiff verlassen und sich nach dem Kontore begeben.

Eine kleine Ledertasche, die er bei sich trug, enthielt in Goldstücken die zweitausend Piaster, die er an Herrn Hamburg auszahlen wollte.

Ein Teil der Mannschaft war nach ihm ebenfalls von der Brigg fortgegangen, und die Gebrüder Kip lustwandelten schon in der Nähe des Hafens umher.[190]

Als Gibson in das Kontor gekommen war, gab ihm einer der dort Angestellten seine Papiere, sein Konnossement und andere zurück.

Noch zwei Stunden lang sollte jetzt die Sonne die Höhen des Eilandes Kabokon beleuchten. Dem Kapitän war übrigens der Weg nach der Villa so gut bekannt, daß er gar nicht zu befürchten brauchte, sich dabei zu verirren.

Vom Hintergrund des Hafens aus unter den Bäumen verschwindend. schritt Gibson gut eine halbe Seemeile ungestört dahin, und wollte eben nach links abweichen, als er mit Gewalt zu Boden geschleudert wurde.

Zwei Männer hatten sich über ihn gestürzt, von denen der eine ihn an der Kehle würgte.

Durch den heftigen, gegen die Brust erhaltenen Stoß betäubt, erkannte er die Angreifer nicht sogleich und verlor bald darauf überhaupt die Besinnung.

Die beiden Männer packten ihn dann an den Schultern und an den Füßen und schleppten ihn etwa fünfhundert Schritt weit seitwärts durch das Dickicht.

Am Rande einer Waldblöße angekommen, legten sie ihr Opfer wieder auf die Erde.

»Jetzt heißt's, der Sache ein Ende machen,« sagte der eine.

Gerade bei diesen Worten schlug Gibson die Augen wieder auf.

»Flig Balt!... Vin Mod!« stieß er mühsam hervor.

Es waren der Bootsmann und Vin Mod, die das Verbrechen begangen hatten. Vin Mod mußte sich endlich Harry Gibsons in der gerechtfertigten Hoffnung entledigen, daß er dann Flig Balt als Kapitän bekommen werde. Unter Führung des neuen Befehlshabers würde die Brigg, statt nach Hobart-Town zurückzusegeln, dann einen ganz anderen Kurs einschlagen, und ehe Hawkins sich darüber Rechenschaft geben könnte, nach Osten in die Gegend der Salomonsinseln kommen.

Dort würde man schon sehen, wie der Reeder, Nat Gibson, die Gebrüder Kip, und von der Mannschaft die, die sich dem Seeräuberzuge anzuschließen weigerten, auf die eine oder andere Weise bei Seite zu schaffen wären. Was also nicht zwischen Neuseeland und dem Bismarck-Archipel geschehen war, sollte nach der Abfahrt von Port-Praslin ausgeführt werden.

Als Gibson die Namen der beiden Mörder genannt hatte, rief er noch keuchend:

»Ihr Elenden!... Ihr Schurken!«[191]

Er wollte sich erheben, sich verteidigen, doch was vermochte er, ohne eine Waffe in der Hand zu haben, gegen die zwei kräftigen und bewaffneten Männer?

»Hilfe!... Zu Hilfe!« rief er noch einmal.

Vin Mod stürzte sich auf den Unglücklichen und schloß ihm mit der Hand den Mund, während Flig Balt mit dem Dolche, der von dem Diebstahle auf der »Wilhelmina« herrührte, das Herz mit kräftigem Stoße durchbohrte.

Harry Gibson stieß einen schmerzlichen Seufzer aus und zum letzten Male starrte er weit offenen Auges auf die beiden Mordbuben. Der Dolch hatte das Herz gut getroffen, und nach kurzem Röcheln sank der Kapitän tot vollends zur Erde.

»Kapitän Balt... meinen Glückwunsch!« sagte Vin Mod, indem er zwei Finger grüßend an die Mütze legte.

Erschreckt wich der Bootsmann zurück vor den Augen seines Opfers, die, von der Sonne erhellt, noch immer auf ihn gerichtet schienen.

Vin Mod, der sich sein kaltes Blut vollständig gewahrt hatte, durchwühlte die Taschen des Kapitäns, worin er die Schiffspapiere und den Lederbeutel mit den zweitausend Piastern fand.

»Eine angenehme Überraschung!« rief er.

Dann klopfte er dem, vor den Augen des Leichnams noch immer regungslos dastehenden Bootsmann mahnend auf die Schulter.

»Nun aber fort von hier!« drängte er seinen Genossen.

Die Beiden ließen den Toten an Ort und Stelle liegen, wo er wahrscheinlich erst nach der Abfahrt der Brigg gefunden würde, und begaben sich nach dem Fußpfade zurück, dann aber eiligen Schrittes nach dem Hafen.

Eine Stunde später standen sie schon wieder auf dem Deck des »James-Cook«. Flig Balt schlüpfte in seine Kabine; Vin Mod begab sich nach dem jetzt leeren Volkslogis hinunter und verbarg die Papiere des Kapitäns, die gestohlenen Piaster und den Dolch tief in seinem Seemannssacke.

Eine weitere halbe Stunde mochte verflossen sein, als Karl und Pieter Kip an Bord zurückkehrten und sich hinter dem Deckhause niedersetzten, um hier die Heimkehr der Gäste des Herrn Hamburg abzuwarten.

Der elende Vin Mod machte sich, als er wieder auftauchte, auf dem Vorderdeck zu schaffen.


»Flig Balt!... Vin Mod!« stieß er mühsam hervor. (S. 191.)
»Flig Balt!... Vin Mod!« stieß er mühsam hervor. (S. 191.)

Er trug eine außergewöhnliche Lustigkeit zur Schau und ließ sich in ein Gespräch mit den Matrosen Hobbes und Wickley ein, die überhaupt heute nicht ans Land gegangen waren.[192]

In dieser Weise war das Verbrechen also begangen worden.

Ein Angestellter aus der Faktorei war es, der am anderen Tage, als er über die erwähnte Waldblöße kam, die Leiche des Kapitän Gibson entdeckte. Er stürmte sofort nach dem Kontor zurück und bald verbreitete sich das Gerücht von dem Morde nach allen Seiten.

Nat Gibson war bei dieser Nachricht wie vom Blitze getroffen, kein Wunder bei der aufrichtigen Liebe, die Vater und Sohn stets verknüpft hatte. Hawkins, der sich ebenso niedergeschmettert fühlte, wie der junge Mann, hätte diesem gar keine Hilfe gewähren können. Die Gebrüder Kip trugen ihn in seine Kabine, wo er nach längerer Zeit wieder etwas zum Bewußtsein kam. Die beiden Holländer zeigten die unverkennbar aufrichtigste Teilnahme an seinem Schmerze und die unverhohlenste Entrüstung über die grausige Schandtat.

Die Mannschaft war vor Schrecken starr. Jim vergoß heiße Tränen; Hobbes, Wickley und Burnes konnten an den Tod ihres Kapitäns gar nicht glauben, und Flig Balt und Vin Mod überboten sich in Drohungen gegen den Mörder.

Nur die Neuangeworbenen aus Dunedin zeigten eine völlige Teilnahmlosigkeit. Bekanntlich hatten Len Cannon und die übrigen beschlossen, gerade heute heimlich davonzugehen, was vielleicht die Abfahrt der Brigg vereitelt hätte. Durch das Verschwinden Gibsons mochten sie aber wohl anderen Sinnes geworden sein, denn Len Cannon warf jetzt Vin Mod wiederholt einen fragenden Blick zu. Dieser wendete dabei jedoch den Kopf ab, als ob er den Matrosen nicht verstände.

Als Nat Gibson einigermaßen wieder zu sich gekommen war, stürmte er aus seiner Kabine hervor.

»Mein Vater! rief er schluchzend, ich will meinen Vater sehen!«

Karl Kip versuchte ihn zurückzuhalten. Nat stieß ihn zurück und eilte nach dem Deck hinaus.

Herr Hamburg, der schon in seine Wohnung zurückgekehrt gewesen war, beeilte sich nach dem Schiffe zu kommen, sobald er von der Mordtat gehört hatte. Hier traf er gerade in dem Augenblicke ein, wo Nat dieses verlassen wollte.

»Ich begleite Sie,« erklärte er ohne Zögern.

Es war jetzt acht Uhr. Hamburg und Zieger, Hawkins und Nat Gibson, sowie die Gebrüder Kip und einige Angestellte von der Faktorei drangen in den Wald ein, wo sie die Lichtung kaum nach zehn Minuten erreichten.[195]

Die Leiche lag noch ebenso da, wie die Mörder sie hinterlassen hatten, lang auf der Erde ausgestreckt und die erloschenen Augen übermäßig weit offen, als ob das Leben noch nicht ganz aus dem Opfer der Freveltat entflohen wäre.

Nat Gibson kniete neben seinem Vater nieder. Er umklammerte ihn, rief seinen Namen und auch den seiner Mutter, der unglücklichen Frau, die die Nachricht von dem schrecklichen Ende ihres Gatten wohl kaum überleben würde.

Hamburg, der es sich zur Pflicht machte, den Tatbestand sorgsam aufzunehmen, prüfte die noch im Grase sichtbaren Spuren und glaubte aus den noch frischen Fußabdrücken schließen zu dürfen, daß zwei Personen an dem Morde beteiligt gewesen wären. Als er dann die Bekleidung Gibsons beseitigte, konnte er nachweisen, daß die Brust eine Wunde zeigte, die von einer gezahnten Klinge herrührte und die nur wenig geblutet hatte. Das Geld und die Papiere des Kapitäns waren – vorläufig spurlos – verschwunden.

Es lag also auf der Hand, daß Raubsucht die Veranlassung zu dem Verbrechen war. Doch wer hatte es begangen?... Etwa ein Ansiedler von Kerawara?... Das erschien von Anfang an zweifelhaft. – Vielleicht halbwilde Eingeborne?... Solchen war das schon eher zuzutrauen. Doch wie und wo war eine Entdeckung der Mörder möglich?... Nach der Freveltat hatten diese jedenfalls Kerawara schleunigst auf ihrer Pirogue verlassen und sich nach der Insel York in Sicherheit gebracht. Nach wenigen Stunden konnten sie sich ja schon der Möglichkeit einer Verfolgung entzogen haben.

Es gewann also den Anschein, daß der Mord ebenso ungesühnt bleiben werde, wie so viele andere, die in dieser Gegend zwischen Neuguinea und den Salomonsinseln schon begangen worden waren.

Zunächst galt es nun, den Toten nach der Faktorei zu schaffen. Herr Hamburg hatte schon eine Tragbahre besorgt, auf die man den Entseelten legte. Dann begaben sich alle, Nat Gibson auf den Arm des Reeders gestützt, nach dem Hafen zurück.

Die Leiche wurde hier in einem größeren Zimmer der Faktorei untergebracht, während Hamburg seine Aufklärungsversuche fortsetzte. Die Beerdigung, die letzte traurige Feierlichkeit, sollte schon am nächsten Tage vor sich gehen, denn in dem heißen Klima der Tropen beginnt die Zersetzung von Leichen sehr bald.

Der in Kerawara tätige Missionar stellte sich ein, kniete nieder und betete neben dem Opfer.[196]

Zieger führte Nat Gibson an Bord zurück, wo der junge Mann in einem beunruhigenden Zustande völliger Entkräftung auf seinem Lager liegen blieb.

Hamburg vernachlässigte es inzwischen nicht, alles zu erforschen, was geeignet schien, ihn auf die Spur der Mörder zu leiten. Nachdem er Zieger und Hawkins nochmals nach der Faktorei mitgenommen hatte, besprach er sich darüber mit diesen, und als sie ihn fragten, wer seiner Vermutung nach die Urheber des Verbrechens gewesen sein könnten, antwortete er mit Überzeugung:

»Jedenfalls einige Eingeborne.

– Die hätten den unglücklichen Gibson berauben wollen? fragte Hawkins etwas ungläubig.

– Jawohl; sie werden erfahren haben, daß er eine größere Geldsumme bei sich trug... daraufhin werden sie ihn abgelauert haben, ihm in den Wald gefolgt sein, wo sie ihn dann überfielen und ausplünderten...

– Wie soll man sie aber entdecken? sagte Zieger.

– Das wird fast unmöglich sein, erklärte Hamburg. Auf welche Andeutungen sollten wir uns stützen. Nachforschungen anzustellen?

– Eines erscheint mir in erster Linie angezeigt, meinte Zieger, die von der Waffe des Mörders herrührende Wunde sollte photographiert werden, und wenn sich diese Waffe fände, wäre vielleicht auch zu entdecken, wem sie gehörte...

– Sie haben recht, antwortete Hamburg, und ich bitte Sie, Herr Hawkins, die Aufnahme der Wunde auszuführen.

– Ja... ja gewiß! stimmte Hawkins lebhaft, doch mit bebender Stimme ein, das abscheuliche Verbrechen darf nicht ungestraft bleiben!«

Zieger begab sich nach dem Schiffe, um den photographischen Apparat zu holen und kam nach wenigen Minuten damit zurück. Die Brust des Kapitän Gibson wurde entblößt und erst noch eine ganz genaue Besichtigung der Wunde vorgenommen. Diese maß in der Breite kaum einen halben Zoll und an einer Seite zeigte ihr Rand eine Zahnung, als ob sie durch eine Säge verursacht worden wäre.

Daraufhin begann Hamburg:

»Sie sehen, daß der Todesstoß mit der Waffe eines Eingebornen geführt worden ist... mit einem malaiischen Kriß mit gezahnter Klinge, wie sich die Eingebornen solcher allgemein bedienen«[197]

Nun wurden zwei – tadellos gelungene – Aufnahmen gemacht. Die eine zeigte die Brust, die andere den Kopf Harry Gibsons. Seine Augen standen noch immer weit offen, und erst jetzt drückte Hawkins sie dem Freunde zu. Die Photographien sollten der weiteren Verfolgung der Angelegenheit wegen in den Händen des Herrn Hamburg bleiben. Hawkins behielt dagegen die Platten, um noch mehrere Abzüge herstellen zu können. Das Bild seines unglücklichen, in Kerawara umgekommenen Freundes sollte auch nach seiner Vaterstadt mitgenommen werden.

Schon am Nachmittage mußte die Leiche eingesargt werden und die Beerdigung sollte am nächsten Morgen stattfinden.

Auf dem kleinen Friedhofe von Kerawara wurde also eine Grabstelle gewählt, denn es wäre unmöglich gewesen, zu warten, bis in Port-Praslin ein Grab ausgehoben würde, die sterblichen Überreste des Ermordeten aufzunehmen.

Der traurige Tag verstrich unter allgemeiner Verzweiflung. Dann kam die Nacht, die Nat Gibson unter schwerem Seufzen, doch ohne nur eine Minute Schlaf zu finden, hinbrachte.

Am nächsten Tage erfolgte die Beerdigung, an der sich alle deutschen und englischen Bewohner Kerawaras beteiligten. Die Flagge des »James-Cook« wehte in Schau, die anderen Schiffe im Hafen hatten alle Halbmast geflaggt.

Der mit der Nationalflagge bedeckte Sarg wurde von vier Leuten von der Brigg getragen. Nat Gibson, der Gouverneur, Hawkins und Zieger gingen unmittelbar hinterher, und ihnen folgten Flig Balt und die übrigen von der Mannschaft, denen sich viele Matrosen von anderen Schiffen angeschlossen hatten.

Der dem Sarge vorausschreitende englische Missionar sprach auf dem Wege liturgische Gebete.

So erreichte der Trauerzug den Friedhof und vor dem Grabe hielt Herr Hamburg noch eine kurze Gedächtnisrede zu Ehren des Kapitän Gibson.

Der Schmerz Nat Gibsons ergriff alle Anwesenden aufs tiefste. Hawkins vermochte den jungen Mann kaum aufrecht zu erhalten, der sich noch einmal auf den Sarg des geliebten Vaters warf. Dann ließ man den Sarg in die Grube hinuntersinken, und an der Grabstelle wurde ein von Herrn Hamburg besorgtes Holzkreuz mit folgender Inschrift aufgerichtet:
[198]

Zum Andenken an den

Kapitän Harry Gibson aus Hobart-Town,

ermordet am 2. Dezember 1885.

Sein Sohn, seine Freunde, seine Mannschaft und die Bewohner Kerawaras.

Gott gebe seiner Seele Frieden!


Die fortgesetzten Nachforschungen des Herrn Hamburg waren bisher erfolglos gewesen. Nach vollbrachter Tat hatten sich die Mörder ohne Zweifel beeilt, Kerawara zu verlassen, um sich unter die Eingebornenstämme von Neulauenburg zu flüchten. Unter solchen Umständen war leider kaum auf eine Aufhellung des düsteren Geheimnisses zu rechnen, denn Piroguen der Eingebornen waren meist den ganzen Tag zwischen der Insel und dem Eiland unterwegs, ein nach diesem vielleicht schnell zurückkehrendes Boot wäre also nicht im geringsten aufgefallen. Die Waffe, deren sich der Mörder bedient hatte, und damit vielleicht auch diesen selbst zu entdecken, das hing doch nur von einem glücklichen Zufall ab, auf den man kaum seine Hoffnung setzen konnte.

Die Brigg verlängerte ihren Aufenthalt an Kerawara nicht weiter. Schon am Morgen, wo sich das Gerücht von dem Morde verbreitete, war sie segelfertig gewesen, um nach Port-Praslin zurückzukehren.

In Übereinstimmung mit Herrn Zieger ließ Hawkins deshalb den Bootsmann ins Deckhaus rufen.

»Flig Balt, redete er diesen an, der ›James-Cook‹ hat seinen Kapitän verloren...

– Ein großes Unglück, antwortete Flig Balt, dessen Stimme merkbar, doch nicht vor Schmerz, zitterte.

– Ich weiß, fuhr Hawkins fort, wie viel Vertrauen mein unglücklicher Freund in Sie setzte, und ich denke, daß auch ich dasselbe Vertrauen zu Ihnen hegen kann.«

Der Bootsmann verbeugte sich mit niedergeschlagenen Augen, ohne auf die Anrede ein Wort zu erwidern.

»Morgen, Flig Balt, erklärte der Reeder weiter, wird der ›James-Cook‹ absegeln, und Sie werden ihn nach Hobart-Town zurückführen.

– Wie Sie befehlen, Herr Hawkins,« antwortete Flig Balt, sich zurückziehend.

Hawkins hatte zwar ausgesprochen, daß der Bootsmann vorläufig Gibson in der Führung des Schiffes vertreten, nicht aber, daß er dessen Kapitän sein[199] sollte. Vielleicht dachte er gar nicht daran, jenem diesen Titel ausdrücklich zu verleihen, und erachtete es für hinreichend, daß Flig Balt dessen Obliegenheiten auf der Fahrt vom Bismarck-Archipel bis Tasmanien auf sich nahm. Dem Bootsmann war das nicht entgangen, und gleich nachher sprach er sich Vin Mod gegenüber über die Sache aus.

»Ach, das ist ja gleichgültig! erwiderte der Matrose. Zunächst bringen wir die Brigg nach Port-Praslin zurück. Ob du dann Kapitän oder Obersteuermann bist, das kommt auf eins hinaus, Balt! Sind wir erst im Besitz des Fahrzeuges, so ernennen wir uns einen Kapitän, und ich will mich doch an den Füßen aufbaumeln lassen, wenn unsere Ernennung nicht ebenso viel wert wäre, wie die des Reeders Hawkins!«

Wenn Len Cannon und dessen Genossen auch noch nicht wußten, daß Flig Balt und Vin Mod die Mörder Gibsons waren, so glaubten sie doch fest, daß die Brigg nun nicht mehr nach Hobart-Town zurückkehren werde, und deshalb sprachen sie auch gar nicht weiter vom Davonlaufen.

Am Morgen des 5. Dezembers verabschiedete sich Hawkins von dem Gouverneur der Insel. Hamburg schloß Nat Gibson in die Arme und versprach ihm nochmals, nichts zu versäumen, daß die Mörder seines Vaters entdeckt würden. Gelang ihm das, so werde die deutsche Justiz mit diesen schon kurzen Prozeß machen und sie ihre Schandtat mit dem Kopfe büßen lassen.

Dann nahmen noch Hawkins, Zieger und Karl und Pieter Kip – alle in traurigster Stimmung – von dem Gouverneur und den Beamten und Angestellten der Faktoreien von Kerawara Abschied.

Die Abfahrt erfolgte unter dem Befehle Flig Balts.

Eine Stunde später war die Brigg über die madreporischen Bänke vor der Insel hinaus. Sie steuerte nun nach Südosten, wobei das Kap Barard, die hervortretendste Spitze von York, bald außer Sicht kam, und wendete sich damit dem Sankt Georgskanal zu.

Die kurze Überfahrt beanspruchte voraussichtlich nur vierundzwanzig Stunden. Die Mannschaft tat ihre Schuldigkeit, so daß Flig Balt über sie nicht zu klagen hatte. Bei dem günstigen Winde waren kaum Segelmanöver nötig, höchstens wurden die Schoten einmal mehr oder weniger angezogen. Ob Flig Balt ein guter Seemann war oder nicht, das ließ sich auf der kurzen Fahrtstrecke nicht entscheiden, dazu mußte man warten, bis er das Schiff nach Hobart-Town zurückgeführt hätte. Übrigens bezog der Mann nicht die verwaiste[200] Kabine des Kapitäns, sondern behielt ruhig die seinige nahe dem Eingange der gemeinschaftlichen Kajüte.

In der Nacht, als Len Cannon mit Vin Mod die Wache hatte, antwortete dieser auf eine Frage des ersten über die Lage der Dinge in einer Weise, die den Fragesteller und dessen Genossen befriedigen mußte. Der »James-Cook« werde nicht nach Tasmanien zurückkehren. Kapitän oder nicht... Flig Balt wird schon wissen, ihn von seinem Kurse abzulenken. Einmal in der Nähe der Salomonsinseln, werde es leicht sein, mit den Passagieren fertig zu werden. Dort gebe es ja stets abenteuerlustige, »brave« Matrosen, die im Notfall gern bereit sein würden, sie tatkräftig zu unterstützen. Len Cannon und die übrigen hätten also nicht die geringste Veranlassung, vom »James-Cook« wegzulaufen, da sie doch bald zu dessen Herren gehören würden.

Am Morgen des 6. Dezembers kamen die Höhen von Lanut in Sicht. Noch am Vormittage sollte das Schiff jedenfalls vor dem Ziegerschen Kantor vor Anker gehen.

Da es mit seiner Flagge in Schau einlief, verstand man es in Port-Praslin, daß sich ein Unglück ereignet haben mußte.

Wie schwer traf aber alle die Nachricht, unter welchen Umständen Gibson einen plötzlichen Tod gefunden hatte! Frau Zieger, die nach dem Kai gekommen war, schloß Nat Gibson sofort in die Arme, als dieser ans Land kam. Vor Schluchzen vermochte sie kaum ein Wort hervorzubringen.

»Mein armer Nat!.. Mein unglückliches Kind!.. Und Ihre Mutter... Ihre Mutter!« rief sie wiederholt, während ihr die Tränen aus den Augen perlten.

Nat Gibson und mit ihm Hawkins mußten die Einladung annehmen, die letzten Tage ihres Aufenthalts hier in Wilhelmstaf zuzubringen. Beide bezogen also noch einmal die früher bewohnten Zimmer und nahmen an demselben Tische Platz in dem gastfreundlichen Hause, das Harry Gibson nicht mehr betreten sollte.

Herr Zieger wollte es niemand anderem überlassen, die Verladung der hundertfünfzig Tonnen Koprah zur Vervollständigung der Fracht der Brigg zu überwachen. Ihn unterstützten dabei nur Karl und Pieter Kip, die das Schiff auch nicht auf eine Stunde verließen. Der ältere der beiden Brüder verstand sich gründlich auf die Verstauung der Ballen, und auch Flig Balt hatte das ohne besondere Mühe erledigt, da die Mannschaft ihn eifrig unterstützte.[201]

Nach Unterbringung der Koprah im Frachtraume, verteilte man die nach Hobart-Town bestimmten Kisten mit Perlmutter auf dem Vorder- und dem Hinterdeck. Da der Kapitän vor dem Abstecher nach Kerawara noch alles hatte reinigen und, wo nötig, frisch anstreichen lassen, erlitt die Abfahrt keine Verzögerung durch derartige Arbeiten.

Am Nachmittage des 9. war alles fix und fertig.

Am Abende desselben Tages kehrten Hawkins und Nat Gibson unter Begleitung des Ziegerschen Ehepaares an Bord zurück, damit der »James-Cook« am folgenden Morgen abfahren könnte.

Als sie eintrafen, wurden sie von Flig Balt, der an der Bordleiter stand, empfangen..

»Nun, ist jetzt alles bereit? fragte der Reeder.

– Alles, Herr Hawkins!

– So gehen wir morgen in See, Flig Balt. Sie haben die Brigg von Kerawara nach Port-Praslin gebracht, führen Sie sie nun auch von Port-Praslin nach Hobart-Town. Sie werden in Zukunft den Befehl auf dem Schiffe führen...

– Ich danke Ihnen, Herr Hawkins,« antwortete Flig Balt, während die Mannschaft ein beifälliges Murmeln hören ließ.

Der Reeder drückte dem neuen Kapitän die Hand, bemerkte aber nicht, daß diese in der seinigen leise zitterte.

Herr und Frau Zieger verabschiedeten sich von Nat Gibson und Hawkins und vergaßen dabei auch nicht die Gebrüder Kip, denen sie bereits warm zugetan waren. Unter dem Versprechen, sobald es ihnen möglich wäre, in Tasmanien einige Wochen bei den beiden Familien zu verleben, kehrten sie dann nach ihrer Wohnstätte zurück.

Um fünf Uhr am anderen Morgen traf der Kapitän Balt die letzten Anstalten zur Abfahrt.

Eine Stunde nachdem er durch die Einfahrtsstraßen von Port-Praslin gekommen war, glitt der »James-Cook« mit südöstlichem Kurse schon entfernt von Neuirland auf dem hohen Meere hin.[202]

Quelle:
Jules Verne: Die Gebrüder Kip. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXI–LXXXII, Wien, Pest, Leipzig 1903, S. 190-193,195-203.
Lizenz:
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