Sechzehntes Capitel.
Der Rio Colorado.

[126] Um acht Uhr früh am 22. October gab Thalcave das Zeichen zur Abreise. Zwischen dem zweiundzwanzigsten und dem zweiundvierzigsten Breitengrade senkt sich der Boden Argentina's von Westen nach Osten. Bis zum Meere hin hatten die Reisenden nur einen sanften Abhang niederzusteigen.

Da der Patagonier das Pferd, welches ihm Glenarvan anbot, ablehnte, glaubte Letzterer, er wolle, wie viele Führer zu thun pflegen, lieber zu Fuße gehen, und gewiß mußten seine langen Beine ihm das Gehen sehr erleichtern.

Doch Glenarvan täuschte sich.

Als man aufbrechen wollte, pfiff Thalcave auf eigenthümliche Weise. Sofort sprang ein prächtiges argentinisches Pferd von herrlichem Wuchse aus einem kleinen Gebüsch in der Nähe, und stellte sich auf den Zuruf seines Herrn. Das Thier war von vollkommener Schönheit; braun von Farbe, zeigte es sich als ein stolzes, muthiges und lebendiges Thier; es hatte einen seinen Kopf, den es gefällig trug, die Nüstern weit offen, glänzende Augen, breite Häcksen, wohlausgebildeten Widerrist und lange Fesseln, d.h. alle Eigenschaften der Kraft und der Gewandtheit. Der Major, ein vollkommener Kenner, bewunderte ohne Rückhalt dieses Musterexemplar der Pamparace, bei dem er gewisse Aehnlichkeiten mit dem englischen »Hunter« herausfand. Dieses[126] schöne Thier hieß »Thaouka«, was in patagonischer Sprache »Vogel« bedeutet, und diesen Namen verdiente es in der That.

Sobald Thalcave im Sattel war, sprang sein Pferd in die Höhe. Der Patagonier, ein vollendeter Bereiter, war stattlich anzusehen. Sein Pferdegeschirr enthielt auch die beiden in der argentinischen Ebene gebräuchlichen Jagdgeräthe, die »Bolas« und den »Lazo«. Der Bolas besteht aus drei durch einen Lederriemen verbundenen Kugeln, der vorn am Recado befestigt ist.

Der Indianer schleudert sie oft auf hundert Schritte weit nach dem Thiere oder dem Feinde, welche er verfolgt, und das mit solcher Sicherheit, daß sie sich ihnen um die Füße wickeln und sie auf der Stelle niederstrecken. Es ist das in seinen Händen also ein furchtbares Hilfsmittel, und er handhabte es auch mit erstaunlicher Gewandtheit. Der Lazo dagegen verläßt nie ganz die Hand, welche ihn schleudert. Er besteht nur aus einem gegen dreißig Fuß langen Strick, der aus zwei sorgfältig geflochtenen Lederstreifen hergestellt ist, und endigt mit einer beweglichen Schlinge, die durch einen eisernen Ring gleitet. Diese bewegliche Schlinge wird mit der rechten Hand geschleudert, während die Linke das andere Ende des Lazo hält, das übrigens fest an das Sattelzeug geknüpft ist. Ein langer umgehängter Carabiner vervollständigte die Angriffswaffen des Patagoniers.

Thalcave setzte sich, ohne die Bewunderung zu bemerken, welche seine natürliche Grazie, seine Ungezwungenheit und sein zwangloser Stolz hervorriefen, an die Spitze, und so ging es einmal im Galop und dann wieder im Schritt vorwärts, da die Pferde das Traben gar nicht gewöhnt zu sein schienen. Robert ritt mit großer Kühnheit und beruhigte Glenarvan bald vollständig über seine Sattelfestigkeit.

Gleich am Fuße der Cordilleren beginnt die Ebene der Pampas. Sie läßt sich in drei Theile theilen. Der erste erstreckt sich von der Kette der Anden an über einen Raum von zweihundertundfünfzig Meilen, und ist mit niedrigen Bäumen und Buschwerk besetzt. Der zweite, vierhundertfünfzig Meilen weit mit prächtigem Graswuchs bedeckt, zieht sich bis hundertvierundzwanzig Meilen vor Buenos-Ayres. Von da aus bis zum Meere durchschreitet der Wanderer ungeheure Wiesenflächen voll Luzerneklee und Disteln; dies ist der dritte Theil der Pampas.

Beim Austritt aus den Schluchten der Cordillerenkette stieß Glenarvan's[127] Gesellschaft zunächst auf eine große Menge sandiger Dünen, welche »Medanos« genannt werden und wirklich Wogen gleichen, welche der Wind unaufhörlich hin und her bewegt, wenn sie nicht durch Pflanzenwurzeln am Boden festgehalten werden.


16. Capitel

Dieser Sand ist äußerst sein; so sah man ihn sich schon beim geringsten Windhauch in leichten dünnen Säulchen erheben, aber auch wirkliche Tromben von beträchtlicher Höhe bilden, ein Schauspiel, das den Reisenden ebensoviel Vergnügen als Unannehmlichkeiten bereitete; Vergnügen, da es höchst merkwürdig aussah, wenn diese Tromben über die Ebene liefen, scheinbar gegen einander stritten, sich verschmolzen, zusammenbrachen und sich auch ohne alle Ordnung wieder erhoben; Unannehmlichkeiten, denn aus diesen unzähligen Medanos löste sich ein kaum fühlbarer Staub ab, der noch zwischen die Augenlider eindrang, wenn sie auch fest geschlossen waren.


Straße von Carmen nach Mendoza. (S. 132.)
Straße von Carmen nach Mendoza. (S. 132.)

Unter der Herrschaft des Nordwindes dauerte diese Erscheinung den größten Theil des Tages hindurch fort. Dennoch kam man schnell vorwärts und gegen sechs Uhr Abends boten die etwa vierzig Meilen entfernten Cordilleren ein dunkles Bild, das sich schon in dem Nebel des Abends verlor.

Die Reisenden waren durch ihren wohl achtunddreißig Meilen betragenden Ritt doch etwas ermüdet, und sahen schon die Stunde zum Schlafen herannahen. An den Ufern des reißenden Neuquem, einem brausenden Strom voll trüben Wassers, der zwischen steile, röthliche Uferwände eingezwängt ist,[128]

Der Neuquem, den andere Geographen auch Ramid und Comoe nennen, entspringt aus Seen, welche nur den Indianern bekannt sind.

Die Nacht und der darauf folgende Tag boten nichts irgendwie bemerkenswerthes. Schnell und bequem ging es weiter; ein gleichmäßiger Boden und eine erträgliche Temperatur unterstützten die Reise. Gegen Mittag jedoch war die Sonne mit heißen Strahlen gar verschwenderisch, und am Abend thürmte sich am südwestlichen Horizonte eine Wolkenwand auf, ein sicheres Anzeichen für einen Wechsel der Witterung. Der Patagonier wußte das[129] sehr wohl und wies den Geographen mit dem Finger auf die westliche Himmelsgegend.

»Gut! Ich verstehe, sagte Paganel und fügte zu seinen Begleitern gewendet hinzu: da vollzieht sich eben ein Umschlag des Wetters. Wir werden einen tüchtigen Pampero auszuhalten haben.«

Er erklärte ferner, dieser Pampero sei in den argentinischen Ebenen nicht gerade selten. Es ist das ein sehr trockener Südwestwind. Thalcave hatte sich nicht getäuscht; denn während der Nacht, welche für Leute, die nur in einen Puncho gehüllt waren, sehr peinlich war, wehte der Pampero mit großer Gewalt. Die Pferde legten sich auf den Boden und die Menschen streckten sich neben ihnen in dichter Gruppe aus.

Glenarvan fürchtete schon, durch diesen Sturm, wenn er lange andauere, zurückgehalten zu werden, doch beruhigte ihn Paganel, nachdem er sein Barometer zu Rathe gezogen hatte.

»Gewöhnlich verursacht der Pampero, sagte derselbe, einen dreitägigen Sturm, der durch das Fallen der Quecksilbersäule sehr sicher angezeigt wird. Wenn das Barometer dagegen – und das ist jetzt der Fall – wieder steigt, so legt er sich meist nach einigen Stunden heftiger Windstöße wieder. Beruhigen Sie sich also, bester Freund; bei Tagesanbruch wird der Himmel seine gewöhnliche Reinheit wieder haben.

– Sie sprechen wie ein Buch, Paganel, antwortete Glenarvan.

– Darin bin ich auch eins, erwiderte Paganel. Blättern Sie gefälligst ganz nach Belieben darin.«

Das Buch täuschte sich nicht. Gegen ein Uhr Morgens legte sich plötzlich der Wind, und Alle konnten durch den Schlaf neue Kräfte sammeln. Am andern Morgen stand man frisch und munter auf, vorzüglich Paganel, der alle Glieder knacken ließ und sich wie ein junger Hund streckte.

Es war nun der 24. October, der zehnte Tag seit der Abreise von Talcahuano. Dreiundneunzig Meilen (das sind einhundertundfünfzig Kilometer) trennten die Reisenden noch von demjenigen Punkte, wo der See Colorado den siebenunddreißigsten Parallelkreis schneidet. Während dieses Zugs durch den südamerikanischen Continent lauerte Lord Glenarvan mit großer Spannung auf eine Begegnung mit Eingeborenen. Er wollte sie durch Vermittlung des Patagoniers, mit dem sich Paganel jetzt schon hinreichend zu verständigen vermochte, bezüglich des Kapitän Grant ausfragen. Man verfolgte jedoch[130] eine von Indianern weniger berührte Linie, denn die Straßen der Pampa, welche von der argentinischen Republik nach den Cordilleren führen, liegen weit nördlicher. Daher traf man auch nicht auf herumschweifende Indianer oder seßhafte Stämme unter der Herrschaft von Kaziken. Wenn zufällig einmal ein nomadisirender Reiter in Sicht kam, entfloh er schnell, und schien wenig Lust zu haben, mit Unbekannten in Verbindung zu treten. Ein Trupp der Art mußte wohl Jedem, der einsam durch die Ebenen streifte, verdächtig vorkommen, dem Räuber, den die Klugheit gegenüber acht wohlbewaffneten und berittenen Männern zurückhielt, und dem Reisenden in diesen verlassenen Landstrichen, der in ihnen selbst Leute mit bösen Absichten erkennen mochte. Daher war es auch durchaus unmöglich, weder mit ehrlichen Leuten, noch mit Räubern sich zu unterhalten. Es war fast bedauerlich, sich niemals einer Bande »Rastreadores«1 gegenüber zu befinden, und hätte man auch die Unterhaltung mit Flintenschüssen einleiten sollen.

Wenn aber Glenarvan auch im Interesse seiner Nachforschungen das gänzliche Fehlen der Indianer zu bedauern hatte, so trug sich ein kleines Ereigniß zu, welches die Auslegung des Documentes sehr wesentlich bestätigte.

Mehrmals kreuzte nämlich der Weg der kleinen Expedition verschiedene Fußpfade der Pampa, unter anderen einen ziemlich bedeutenden, – den von Carmen nach Mendoza – der an den Knochenresten von Hausthieren, Mauleseln, Pferden, Schafen und Rindern kenntlich war, welche ihn bezeichneten, abgenagt von den Schnäbeln der Raubvögel und gebleicht durch die entfärbende Einwirkung der Luft. Zu Tausenden lagen diese umher und sicher mischte sich der Staub manches menschlichen Skelettes mit dem der niedersten Thiere.

Bis jetzt hatte Thalcave noch nie eine Bemerkung über die streng eingehaltene Wegesrichtung fallen lassen. Doch war ihm klar, daß man, da man keinem Wege in den Pampas folgte, auch nicht auf Städte, Dörfer oder Niederlassungen in den argentinischen Provinzen treffen könne. An jedem Morgen ging man der aufgehenden Sonne entgegen und wich nicht von dieser geraden Linie, so daß sich die untergehende Sonne jeden Tag direct hinter ihnen befand. In seiner Eigenschaft als Führer verwunderte sich Thalcave[131] doch, daß er viel weniger führte als vielmehr geführt wurde. Sein Erstaunen barg er aber unter der natürlichen Zurückhaltung der Indianer, und da bis hierher nur unbedeutende Fußpfade vernachlässigt worden waren, machte er eben keine Bemerkung darüber. Aber heute, als der erwähnte Verbindungsweg erreicht war, hielt er doch das Pferd an, und sagte zu Paganel gewendet:

»Der Weg von Carmen.

– Ja wohl, mein braver Patagonier, erwiderte der Geograph in seinem reinsten Spanisch, der Weg von Carmen nach Mendoza.

– Schlagen wir den nicht ein? fragte Thalcave.

– Nein, antwortete Paganel.

– Und wohin gehen wir?

– Immer nach Osten.

– Das heißt: nirgendshin.

– Wer weiß es?«

– Thalcave schwieg und sah den Gelehrten mit höchst verwundertem Gesichte an. Er konnte nicht annehmen, daß Paganel nur im Geringsten scherze. Ein Indianer, der immer ernsthaft ist, kann sich gar nicht einbilden, daß Jemand nicht ernsthaft spreche.

»Sie gehen also nicht nach Carmen? fragte er nach einer kleinen Pause.

– Nein, erwiderte Paganel.

– Noch nach Mendoza?

– Ebensowenig.«

In diesem Augenblicke kam Glenarvan zu Paganel und fragte, was Thalcave gesagt, und warum er sein Pferd angehalten habe.

»Er hat mich gefragt, ob wir nach Carmen oder nach Mendoza gingen, und war höchst erstaunt, als ich beide Fragen verneinte.

– Freilich muß ihm unser Weg ziemlich sonderbar erscheinen, meinte Glenarvan.

– Ich glaube es. Er sagte, wir gingen nirgendshin.

– Nun, Paganel, könnten Sie ihn nicht über den Zweck unserer Expedition aufklären, und über das Interesse, welches wir daran haben, immer nur nach Osten zu gehen?

Das wird sehr schwer sein, entgegnete Paganel, denn ein Indianer versteht[132] Nichts von den Erdgraden und die Geschichte des Documentes würde für ihn eine Phantasie sein.

– Nun, sagte sehr ernsthaft der Major, würde er die Geschichte nicht verstehen oder den Erzähler?

– O, Mac Nabbs, versetzte Paganel, Sie zweifeln doch immer noch an meinem Spanisch.

– Nun, so versuchen Sie es, mein werther Freund.

– Gut, ich werde es versuchen.«

Paganel wandte sich zu dem Patagonier zurück und fing eine Erzählung an, die oft genug durch das Fehlen einzelner Worte unterbrochen wurde, ebenso wie durch die Schwierigkeit, gewisse Eigenthümlichkeiten zu übersetzen und einem fast ganz unwissenden Indianer Einzelheiten zu erklären, die für ihn nur wenig verständlich waren. Der Gelehrte war ergötzlich anzusehen. Er gesticulirte, articulirte, bewegte sich auf hunderterlei Weise hin und her und Schweißtropfen fielen ihm reichlich von der Stirne auf die Brust. Wenn die Zunge nicht ausreichte, kamen ihm die Arme zu Hilfe. Paganel stieg vom Pferde und zeichnete im Sande eine geographische Karte, auf der sich die Breiten- und Längengrade kreuzten und die beiden Oceane sichtbar waren, zu denen sich die Straße von Carmen erstreckte. Niemals war ein Professor in größerer Verlegenheit. Thalcave beobachtete sein Verfahren mit ruhigem Blicke, aus dem man nicht erkennen konnte, ob er etwas davon verstand, oder nicht.

Fast eine halbe Stunde währte diese Unterweisung des Geographen. Dann schwieg er, trocknete sein überschwemmtes Gesicht ab und sah den Patagonier an.

»Hat er Sie verstanden? fragte Glenarvan.

– Wir werden es gleich sehen, erwiderte Paganel, aber wenn es nicht der Fall ist, verzichte ich auf weitere Versuche.«

Thalcave wich nicht von der Stelle. Er sprach nicht mehr. Seine Augen hafteten auf den im Sande gezeichneten Figuren, die der Wind allmälig verwischte.

»Nun?« fragte ihn Paganel.

Thalcave schien ihn nicht zu verstehen. Paganel sah schon ein ironisches Lächeln auf den Lippen des Majors, und um seine Ehre zu retten, wollte er[133] eben mit neuer Energie seine geographischen Erklärungen wieder aufnehmen, als der Patagonier ihn durch eine Handbewegung unterbrach.

»Ihr sucht einen Gefangenen, sagte er.

– Ja, antwortete Paganel.

– Und genau auf dieser Linie zwischen der aufgehenden und untergehenden Sonne, sagte Thalcave, der durch eine Umschreibung nach Indianerart den Weg von Westen nach Osten bezeichnete.

– Ja wohl! So ist es!

– Und Euer Gott hat den Fluthen des unermeßlichen Meeres das Geheimniß des Gefangenen anvertraut?

– Ja, Gott selbst.

– So möge sich sein Wille erfüllen, sagte Thalcave mit einer gewissen Feierlichkeit, wir ziehen gen Osten, und wäre es bis zum Aufgange der Sonne!«

Paganel übersetzte, triumphirend über seinen gelehrigen Schüler, seinen Genossen sofort die Worte des Indianers.

»Welch' intelligente Race! sagte er. Von zwanzig Bauern in unserer Heimat hätten neunzehn von meinen Erklärungen Nichts verstanden!«

Glenarvan veranlaßte Paganel, den Patagonier zu fragen, ob er nicht davon gehört habe, daß Fremde den Indianern der Pampas in die Hände gefallen seien.

Paganel stellte diese Frage und erwartete die Antwort.

»Kann sein«, sagte der Patagonier.

Kaum war dies Wort übersetzt, als Thalcave auch von den sieben Reisenden umringt war; man fragte ihn mit den Blicken.

Paganel, der vor Erregung kaum die Worte fand, fuhr in der so interessanten Fragestellung fort, während seine auf den so ernsthaften Indianer gerichteten Augen die Antwort schon zu erspähen suchten, bevor sie Jenem über die Lippen kam.

Jedes spanische Wort des Patagoniers wiederholte er englisch, so daß seine Genossen gleichsam in ihrer Muttersprache reden hörten.

»Und dieser Gefangene? fragte Paganel.

– War ein Fremder, antwortete Thalcave; ein Europäer.

– Ihr habt ihn gesehen?[134]

– Nein, aber in den Berichten der Indianer wurde er erwähnt. Es war ein tapferer Mann! Er hatte das Herz des Büffels!

– Das Herz des Büffels! wiederholte Paganel. O, die prächtige Sprache der Patagonier. Sie verstehen es, meine Freunde – ein muthiger Mann!

– Mein Vater!« rief Robert Grant.

Dann wendete er sich an Paganel und fragte:

»Wie heißt: ›Das ist mein Vater‹ auf Spanisch?

– Es mio padre«, erwiderte der Geograph.

Sogleich ergriff Robert Thalcave's Hände und sprach mit sanfter Stimme:

»Es mio padre!

– Suo padre«!2 antwortete der Patagonier, dessen Augen aufleuchteten.

– Er nahm den Knaben in die Arme, hob ihn von seinem Pferde und betrachtete ihn mit forschender Theilnahme. In seinem verständigen Gesicht prägte sich eine friedliche Gemüthsbewegung aus.

Doch Paganel hatte seine Fragen noch nicht beendet. Wo war jener Gefangene? Wie erging es ihm? Wann hatte Thalcave von ihm reden hören? Alle diese Fragen drängten sich zugleich in ihm auf.

Die Antworten ließen nicht auf sich warten, und so vernahm er, daß der Europäer als Sclave bei einem der Indianerstämme sei, welche zwischen dem Colorado und dem Rio Negro das Land durchstreifen.

»Aber wo befand er sich zuletzt? fragte Paganel.

– Bei dem Kaziken Calsneura, antwortete Thalcave.

– In der Richtung, welche wir bis jetzt verfolgt haben?

– Ja.

– Und was ist dieser Kazike?

– Der Häuptling der Poyuches-Indianer, ein Mann mit zwei Zungen und mit zwei Herzen.

– Das heißt also, falsch mit dem Wort und falsch mit der That, sagte Paganel, nachdem er seinen Begleitern dieses schöne Bild der Patagoniersprache übersetzt hatte. – Und werden wir unsern Freund befreien können? fügte er hinzu.

– Vielleicht; wenn er noch in den Händen der Indianer ist.

– Und wann habt Ihr von ihm sprechen hören?[135]

– Das ist lange Zeit her, und seitdem hat die Sonne schon zwei Sommer über den Himmel der Pampas geführt!«

Glenarvan's Freude war unbeschreiblich. Diese Antwort stimmte genau mit den Angaben des Documentes überein. Aber eine Frage an Thalcave war noch übrig. Paganel stellte sie sofort.

»Ihr sprecht immer von einem einzigen Gefangenen, sagte er; waren es denn nicht deren drei?

– Das weiß ich nicht, antwortete Thalcave.

– Und Ihr wißt Nichts von ihrer thatsächlichen Lage?

– Nichts.«

Dieses letzte Wort schloß die Unterhaltung. Es war möglich, daß die drei Gefangenen schon seit langer Zeit getrennt waren. Aus den Angaben des Patagoniers ging aber doch hervor, daß die Indianer von einem Europäer sprachen, der in ihre Gewalt gefallen sei. Das Datum seiner Gefangennahme, der Ort, wo er sich befinden sollte, Alles, bis auf die von dem Patagonier gebrauchte Redensart, um seinen Muth zu bezeichnen, bezog sich offenbar auf Kapitän Harry Grant.

Am nächsten Tage, den 25. October, brachen die Reisenden mit frischer Zuversicht nach Osten hin auf. Die traurige, einförmige Ebene bildete eine jener Strecken ohne Ende, die in der Landessprache »Travesias« genannt werden. Der dem Einfluß der Winde preisgegebene thonige Boden war vollkommen eben; kein Gestein, kaum ein Kiesel fand sich, außer in einigen unfruchtbaren und ausgetrockneten Höhlungen oder am Rande von den Indianern künstlich hergestellter Wasserlachen. In langen Zwischenräumen erschienen niedrige Wälder mit dunkeln Baumwipfeln, hier und da überragt von weißlichen Johannisbrodbäumen, deren Schotenfrucht einen zuckerhaltigen, angenehmen und erfrischenden Saft enthält; ferner einige Gruppen Terpentinbäume, »Chañaren«, wilder Ginster und allerlei stachlige Baumarten, deren Dürre schon die Unfruchtbarkeit des Bodens verrieth.

Der 26. October war ein sehr anstrengender Tag. Es galt, den Rio Colorado zu erreichen. Die von ihren Reitern angetriebenen Pferde entwickelten aber eine solche Schnelligkeit, daß man an demselben Abende, unter 69°45' der Länge, den schönen Strom der Pamparegionen erreichte. Sein indischer Name, der »Cobu Leubu«, heißt so viel wie »großer Fluß«, und nach einem langen Laufe mündet er im Atlantischen Ocean. Nahe seiner[136] Mündung zeigt er die merkwürdige Eigenschaft, daß seine Wassermenge mit der Annäherung an das Meer sich vermindert, entweder durch Einsaugung, oder durch Verdunstung; doch ist die Ursache dieser Erscheinung noch nicht vollkommen aufgehellt.

Bei der Ankunft am Colorado war es Paganel's erstes Streben, sich in seinem durch röthliche Thonerde gefärbten Wasser »geographisch« zu baden. Er war erstaunt, dasselbe so tief zu finden, was übrigens nur vom Schmelzen des Schnees durch die beginnende Sommersonne herrührte. Dabei hatte der Fluß auch eine so beträchtliche Breite, daß ihn die Pferde nicht durchschwimmen konnten. Zum Glück fand sich etwa tausend Schritte stromaufwärts eine aus Flechtwerk bestehende Brücke, die durch Lederriemen unterstützt und auf indianische Art aufgehangen war. So konnte die kleine Gesellschaft über den Strom setzen und an seinem linken Ufer lagern.


16. Capitel

Noch vor dem Einschlafen wollte Paganel eine genaue Aufnahme des Colorado ausführen, den er mit größter Sorgfalt in seine Karte einzeichnete, statt des Yaron-Dzangbo-Tchou, der ohne ihn in den Gebirgen von Tibet dahinfloß.

Während der beiden folgenden Tage, d.h. am 27. und 28. October, ging die Reise ohne Zwischenfälle von statten. Dieselbe Eintönigkeit und Unfruchtbarkeit des Bodens. Nirgends möchte es eine so wechsellose Landschaft, ein so wenig charakterisirtes Panorama geben. Der Boden wurde nur allmälig feuchter. Man mußte »Canadas«, d.h. überschwemmte Untiefen,[137] und »Esteros«, das sind permanente Wasserflächen, die mit Sumpfpflanzen angefüllt sind, passiren. Abends hielten die Pferde am Ufer eines großen, sehr salzhaltigen Sees, des Ure Lanquem, der von den Indianern der »bittre See« genannt wird und im Jahre 1862 Zeuge der grausamen Repressalien der argentinischen Truppen war.

Man lagerte sich in gewohnter Art und Weise, und ohne die Anwesenheit vieler Affen, Allouaten und wilder Hunde wäre die Nacht ganz gut gewesen. Diese lärmenden Thiere führten aber, vielleicht als Ehrenbezeigung, jedenfalls aber zur Qual für jedes europäische Ohr, eine jener Natursymphonien auf, die nur ein »Zukunftsmusiker« gewiß nicht mißbilligt hätte.

Fußnoten

1 Räuber in den Ebenen. Siehe oben S. 91.


2 Sein Vater.


Quelle:
Jules Verne: Die Kinder des Kapitän Grant. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XI–XIII, Wien, Pest, Leipzig 1876, S. 138.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Agrippina. Trauerspiel

Agrippina. Trauerspiel

Im Kampf um die Macht in Rom ist jedes Mittel recht: Intrige, Betrug und Inzest. Schließlich läßt Nero seine Mutter Agrippina erschlagen und ihren zuckenden Körper mit Messern durchbohren. Neben Epicharis ist Agrippina das zweite Nero-Drama Daniel Casper von Lohensteins.

142 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon