Zweiundzwanzigstes Capitel.
Ueberschwemmung.

[191] Das Fort Indépendance ist hundertundfünfzig Meilen1 von der Küste des Atlantischen Oceans entfernt.


Ein unerwartetes Hochwasser. (S. 196.)
Ein unerwartetes Hochwasser. (S. 196.)

Ohne unvorhergesehene und gewiß unwahrscheinliche Zwischenfälle mußte Glenarvan in vier Tagen den Duncan wieder erreicht haben. Aber er konnte sich mit dem Gedanken nicht vertraut machen, ohne Kapitän Grant an Bord zurückzukehren, nachdem alle seine Nachforschungen so vollkommen vergeblich gewesen waren. Am anderen Tage dachte er auch gar nicht daran, Befehl zur Abreise zu geben. Der Major nahm es über sich, die Pferde satteln, die Lebensmittel erneuern und die Richtung des Weges feststellen zu lassen. Dank seiner Thätigkeit stieg die kleine Truppe gegen acht Uhr Morgens die grasreichen Rücken der Sierra Tandil herab.[191]

Glenarvan galopirte, Robert zur Seite, ohne ein Wort zu sagen, dahin; seinem kühnen und entschlossenen Charakter sagte es nicht zu, diesen Mißerfolg ruhigen Blutes hinzunehmen; das Herz schlug ihm, als wollte es brechen, und der Kopf glühte ihm heiß.

Paganel studirte, gereizt durch die Schwierigkeiten, die Worte des Documentes auf alle Art und Weise, um daraus neue Fingerzeige zu gewinnen. Thalcave blieb stumm und überließ es Thaouka, ihn weiter zu führen. Der Major verblieb, immer zuversichtlich, auf seinem Posten, wie ein Mann,[192] dessen sich die Entmuthigung nie bemeistern kann. Tom Austin und die beiden Matrosen theilten das Mißbehagen ihres Herrn. In einem Augenblick, wo ein furchtsamer Hase vor ihnen über die Pfade der Sierra lief, sahen die abergläubischen Schotten einander an.


Eine furchtbare Riesenwoge. (S. 199.)
Eine furchtbare Riesenwoge. (S. 199.)

»Eine üble Vorbedeutung, sagte Wilson.

– Ja, in den schottischen Hochlanden, erwiderte Mulrady.

– Was in den Hochlanden schlecht ist, ist hier nicht besser«, sagte Wilson in der Weise des Sprichworts.[193]

Gegen Mittag waren die Reisenden über die Sierra Tandil hinaus, und kamen wieder auf die weitwallenden Ebenen, die sich bis zum Meere erstrecken. Auf jedem Schritte berieselten klare Bäche die fruchtbare Landschaft und verloren sich im hohen Graswuchs der Weidestätten. Der Boden wurde wieder vollkommen eben, wie der Ocean nach einem Sturme. Die letzten Hügelketten der argentinischen Pampas waren überschritten, und die einförmige Prairie bot den Pferden wieder ihren grünen Teppich.

Bis hierher war das Wetter schön geblieben. Von diesem Tage nahm der Himmel aber ein beunruhigendes Aussehen an. Die Unmasse Dünste, welche durch die hohe Temperatur der letzten Tage erzeugt und in dicken Wolken aufgesammelt waren, drohten sich in strömende Regen aufzulösen, zudem machte die Nachbarschaft des Atlantischen Oceans und der hier herrschende Westwind das Klima dieser Gegend außerordentlich feucht. Man erkannte das leicht an ihrer Fruchtbarkeit, an der Ueppigkeit und dem saftigen Grün der fetten Weideplätze. Doch barsten an diesem Tage die schweren Wolken noch nicht, und am Abend rasteten die Pferde, nachdem sie mit Leichtigkeit vierzig Meilen zurückgelegt hatten, am Rande tiefer »Canadas«, d.h. großer natürlicher Gräben, die mit Wasser gefüllt waren. Jedes Obdach mangelte. Die Punchos dienten zugleich als Zelte und als Decken, und Jeder schlummerte unter dem drohenden Himmel, der es zunächst bei der Drohung bewenden ließ, ganz ruhig.

Am anderen Tage, je nachdem die Ebene sich mehr und mehr senkte, wurde die Anwesenheit unterirdischer Wässer noch deutlicher merkbar; die Feuchtigkeit sickerte aus jeder Pore des Erdbodens. Bald unterbrachen große Teiche, von denen die einen schon tief, die andern in der Bildung begriffen waren, den Weg nach Osten. So lange es sich nur um »Lagunas« handelte, d.h. wohlumgrenzte Wasseransammlungen, frei von Pflanzen, konnten die Pferde leicht darüber hinauskommen; aber gegenüber den lockeren Morästen, die man »Pentanos« nennt, war das schwieriger; mit hohen Gewächsen erfüllt und bedeckt, bargen sie eine Gefahr, die sich dann erst ermessen ließ, wenn man darin stak.

Diese Schlammlöcher waren schon mehr als einem lebenden Wesen verderblich gewesen. So kam eben Robert, der eine halbe Meile vorausgeritten war, im Galop zurück und rief:

»Herr Paganel! Herr Paganel! Ein Wald von Hörnern![194]

– Wie! antwortete der Gelehrte, Du hast einen Wald von Hörnern gefunden?

– Ja, ja, wenigstens ein Buschwerk.

– Ein Gebüsch! Du träumst, mein Knabe, erwiderte Paganel mit Achselzucken.

– Ich träume nicht, antwortete Robert, Sie werden es selbst sehen. Das ist ein sonderbares Land; da werden Hörner gesäet und sie wachsen wie Getreide. Von solchem Samen möchte ich wohl haben!

– Er spricht wohl im Ernste, sagte der Major.

– Ja, Herr Major, Sie werden es bald selbst sehen!«

Robert hatte sich nicht getäuscht, und bald befand man sich vor einem ungeheuren Felde voller Hörner, die regelmäßig gepflanzt schienen, in unabsehbarer Ausdehnung. Es erschien wirklich wie ein Gebüsch, niedrig, gedrängt, aber seltsam.

»Nun? fragte Robert.

– Das ist seltsam, versetzte Paganel, der sich fragend an den Indianer wendete.

– Die Hörner stehen aus der Erde heraus, sagte Thalcave, aber die Ochsen dazu sind darunter.

– Was? rief Paganel, in diesem Schlamme wäre eine ganze Heerde versenkt?

– Ja«, sagte der Patagonier.

Wirklich hatte eine ganze ungeheure Heerde unter dem Boden, der unter ihren Füßen gewichen war, den Tod gefunden. So waren, Seite an Seite, hunderte von Büffeln umgekommen, erstickt in dem weiten Schlammloche. Dieses Ereigniß, welches in der argentinischen Ebene nicht einzeln dasteht, konnte doch von dem Indianer nicht außer Acht gelassen werden, und war diesem ein Fingerzeig, dem er Rechnung tragen mußte.

Man ritt um die ungeheure Hekatombe herum, und nach einer Stunde hatte man das Hörnerfeld zwei Meilen im Rücken.

Thalcave beobachtete mit einer gewissen Aengstlichkeit die thatsächlichen Umstände, die ihm ungewöhnlich erschienen. Er hielt häufig an und hob sich in den Steigbügeln. Sein hoher Wuchs machte, daß er einen großen Umkreis überblicken konnte; da er aber nichts bemerkte, was ihm mehr Aufschluß gab, so setzte er bald den unterbrochenen Weg fort. Eine Meile[195] weiterhin hielt er wieder an, machte, indem er sich von dem Wege entfernte, Abstecher von einigen Meilen, einmal nach Norden, das anderemal nach Süden, und setzte sich wieder an die Spitze der Reisegesellschaft, obuè ein Wort von dem zu sagen, was er hoffte oder fürchtete. Dieses mehrmals wiederholte Benehmen reizte Paganel und beunruhigte Glenarvan. Der Gelehrte wurde demnach aufgefordert, den Indianer darüber zu befragen, was er auch sofort that.

Thalcave erwiderte, er wundere sich, die Ebene so von Wasser durchdrungen zu finden. Niemals habe er, so lange er schon Führer gewesen, einen so durchweichten Boden betreten. Selbst zur Zeit der großen Regen bot das argentinische Land immer noch benutzbare Wege.

»Aber auf was ist diese zunehmende Feuchtigkeit zurückzuführen? fragte Paganel.

– Ich weiß es nicht, erwiderte der Indianer, und wenn ich wüßte ...

– Treten die durch den Regen angeschwollenen Bergströme nie aus den Ufern?

– Manchmal.

– Und ist das jetzt vielleicht der Fall?

– Vielleicht«, sagte Thalcave.

Paganel mußte sich mit dieser halben Antwort zufrieden geben, und theilte Glenarvan den Inhalt seiner Unterhaltung mit.

»Und was räth Thalcave? sagte Glenarvan.

– Was ist hierbei zu thun? fragte Paganel den Patagonier.

– Schnell weiterreisen«, erwiderte der Indianer.

Das war aber leicht gerathen und schwer befolgt. Die Pferde wurden schnell müde auf einem Boden, der ihnen unter den Füßen schwand; die Senkung nahm immer mehr zu, und dieser Theil der Ebene war wie eine ungeheure Niederung anzusehen, in welcher die anströmenden Wässer sich leicht ansammmein mußten. Es kam also darauf an, über diese tiefliegenden Gegenden ohne Verzug hinwegzukommen, die eine Ueberschwemmung mit einem Schlage in einen See verwandeln mußte.

Man beeilte seine Schritte. Aber es war nicht genug an dem Wasser, das in großen Flächen unter den Hufen der Pferde sich ausbreitete. Gegen zwei Uhr öffneten sich die Schleusen des Himmels und die Ströme eines Tropenregens ergossen sich über die Ebene. Es gab kein Mittel, sich dieser[196] Sündfluth zu entziehen, und es war am gerathensten, sie mit stoischer Ruhe zu ertragen. Die Punchos trieften von den Hüten begossen, wie von einem Dache, dessen Abflußrinnen verstopft sind. Die Franzen der Recados schienen aus Wasserfäden zu bestehen, und die Reiter, von den Hufen der Pferde mit Schlamm besudelt, der bei jedem Schritte vom Boden aufspritzte, wurden von oben und unten zugleich besprengt.

So kamen sie durch und durch naß, von Kälte erstarrt und entkräftet von Anstrengung am Abend bei einem elenden Rancho an. Nur wenig wählerische Leute konnten ihm den Namen eines Obdachs geben, und nur Reisende, die am Ende ihrer Kräfte waren, darin eine Zuflucht suchen. Aber Glenarvan und seine Gefährten hatten keine Wahl. Sie verkrochen sich in der elenden Hütte, die ein Indianer der Pampas sonst verachtet hätte. Ein schlechtes Feuer von Gras, welches mehr Rauch als Wärme verursachte, wurde nicht ohne Mühe angezündet. Regenstöße wütheten draußen, und durch das halbverfaulte Strohdach sickerten große Tropfen. Wenn das Herdfeuer nicht zwanzigmal verlöschte, so kam es daher, daß Mulrady und Wilson es zwanzigmal gegen das Andringen des Wassers vertheidigten.

Das sehr mittelmäßige und wenig stärkende Abendessen verlief traurig. Die Eßlust fehlte. Der Major allein that dem feucht gewordenen Charqui alle Ehre an. Der kaltblütige Mac Nabbs stand über allen Zufällen. Paganel versuchte, in seiner Eigenschaft als Franzose, zu scherzen; aber das verfing nicht.

»Meine Späße sind feucht geworden, sagte er, sie versagen!«

Da unter diesen Umständen der Schlaf jedenfalls das Erwünschteste war, so suchte Jeder im Schlummer ein augenblickliches Vergessen seiner Strapazen. Die Nacht war schlecht; die Bretter des Rancho krachten, als wollten sie brechen; er gab den Windstößen so sehr nach, daß man jeden Augenblick fürchten mußte, ihn fortgerissen zu sehen. Die armen Pferde jammerten draußen, da sie aller Unbill des Himmels ausgesetzt waren, und die Herren derselben litten fast nicht minder in ihrer traurigen Hütte. Endlich überwältigte sie doch der Schlaf. Robert schloß zuerst die Augen, indem er den Kopf auf Glenarvan's Schulter ruhen ließ, und bald darauf schlummerten auch die andern Insassen des Rancho unter dem Schutze Gottes.

Es scheint, daß der Herr wohl über ihnen wachte, denn die Nacht ging ohne Unfall vorüber. Thaouka weckte früh die Schläfer, denn das immer[197] muntere Thier wieherte draußen und schlug mit dem Hufe kräftig gegen die Hüttenwand. An Thalcave's Stelle wußte es zur Noth das Zeichen zum Aufbruch zu geben. Man verdankte ihm zuviel, um nicht zu gehorchen, und reiste ab.

Der Regen hatte nachgelassen, aber der undurchlässige Boden hielt das Wasser zurück. Auf dem undurchdringlichen Lehmboden breiteten sich Lachen, Moräste und Teiche aus und bildeten ungeheure »Banados« von unzuverlässiger Tiefe. Paganel zog seine Karte zu Rathe und vermuthete nicht ohne Grund, daß der Rio Grande und der Vivarota, Flüsse, nach denen die Gewässer dieser Ebene ablaufen, zusammengeströmt seien und ein mehrere Meilen breites Bett bildeten.

Es ward also für die Reise die äußerste Schnelligkeit nöthig. Das Wohl Aller war in Gefahr. Wo sollte man, wenn die Ueberschwemmung zunahm, eine Zuflucht finden? Der von dem Horizont begrenzte ungeheure Kreis bot nirgends einen erhöhten Punkt, und auf dieser wagerechten Ebene mußte das Wasser sehr schnell überhand nehmen.

Die Pferde wurden also möglichst angetrieben. Thaouka an der Spitze verdiente mehr als manche Amphibien mit unvollkommenen Schwimmhäuten den Namen eines Seepferdes, denn es sprang, als ob es sich ganz in seinem Elemente befinde.

Plötzlich, es war gegen zehn Uhr des Morgens, zeigte Thaouka eine ganz auffallende Unruhe. Es wendete sich häufig gegen die unbegrenzten Ebenen im Süden; sein Wiehern wurde länger, mit der Nase saugte es kraftvoll die frische Luft ein. Es bäumte sich heftig. Thalcave, den seine Sprünge nicht aus dem Sattel heben konnten, vermochte es kaum zu zügeln. Der Schaum aus dem Maule des Thieres mischte sich unter dem straff angezogenen Gebisse mit Blut, und doch beruhigte sich das aufgeregte Thier nicht; wäre es frei gewesen, so fühlte sein Herr wohl, daß es sich in aller Schnelligkeit nach Norden davongemacht hätte.

»Was hat denn Thaouka? fragte Paganel, ist das Thier von den so gierigen Blutegeln der argentinischen Gewässer gebissen worden?

– Nein, antwortete der Indianer.

– Es scheut also vor irgend einer Gefahr?

– Ja, es wittert Unheil.

– Welches?[198]

– Das weiß ich nicht.«

Wenn das Auge die Gefahr auch noch nicht erblickte, welche Thaouka prophezeite, so konnte sich das Ohr doch schon davon Rechnung geben. In der That war jenseit der Grenzen des Horizonts ein dumpfes Geräusch, ähnlich dem der wachsenden Fluth, zu hören. Der Wind trat in feuchten Stößen auf und war mit Wasserstaub beladen. Die Vögel, wie fliehend vor einem unbekannten Ereignisse, zogen schnellsten Fluges dahin. Die Pferde, welche mit den halben Beinen im Wasser gingen, fühlten die ersten Stöße der Strömung. Bald erhob sich ein furchtbarer Lärm; Gebrüll, Wiehern und Geblöke erschallte eine halbe Meile im Süden, und es wurden ungeheure Heerden sichtbar, welche niederstürzend und sich erhebend, vorwärts drängend, eine unzusammenhängende Masse erschreckter Thiere, mit furchtbarer Schnelligkeit dahinflohen. Unter den Wasserwirbeln, die sie in ihrem Laufe erregten, konnte man sie kaum unterscheiden. Hundert Wallfische der größten Art hätten die Wogen des Oceans nicht mehr aufrühren können.

»Anda, anda!2 rief Thalcave laut.

– Was giebt es denn? fragte Paganel.

– Die Ueberschwemmung! Die Ueberschwemmung! erwiderte Thalcave, der seinem Pferde die Sporen gab und sich nach Norden wendete.

– Die Ueberschwemmung kommt!« rief Paganel, und seine Gefährten, er voraus, folgten den Spuren Thaouka's.

Es war hohe Zeit. Wirklich wälzte sich, gegen fünf Meilen im Süden eine hohe und breite Springfluthwoge über das Land, das sich in einen Ocean verwandelte. Wie abgemäht verschwanden die hohen Gräser. Die von der Strömung abgerissenen Mimosenbüschel rührten ebendaher und bildeten schwimmende Inseln. Die Fluth verbreitete sich in tiefen Wassermassen mit unwiderstehlicher Gewalt. Offenbar hatte ein Bruch der Uferdämme der großen Flüsse in den Pampas stattgefunden, und vielleicht vereinigten sich sogar die Wasser des Colorado mit denen des Rio Negro in einem gemeinsamen Bette.


Thaouka wird schnell weggerissen. (S. 203.)
Thaouka wird schnell weggerissen. (S. 203.)

Die von Thalcave signalisirte Springfluthwelle kam mit der Schnelligkeit eines Pferdes im vollen Laufe heran. Vor ihr hin entflohen die Reisenden wie eine vom Sturme gejagte Wolke. Vergeblich suchten ihre Blicke eine[199] schützende Zuflucht. Himmel und Wasser gingen am Horizonte in einander über. Die durch die Gefahr doppelt angetriebenen Pferde stürmten in sausendem Galop dahin, und ihre Reiter vermochten sich kaum im Sattel zu halten. Glenarvan schaute öfters zurück.

»Das Wasser holt uns ein, dachte er.

– Anda, anda!« trieb Thalcave.

Und nochmals trieb man die unglücklichen Thiere an. Von ihren durch die Sporen zerrissenen Weichen rann das Blut, welches auf dem Wasser lange,[200] rothe Streifen bildete. Sie strauchelten in den Spalten des Bodens; sie stürzten nieder. Man riß sie empor. Sie stürzten wieder, und wieder wurden sie emporgerissen.

Der Wasserstand wuchs merkbar. Lange Wellen kündigten den Ansturm jener hohen Woge an, die in höchstens noch zwei Meilen Entfernung ihr schaumiges Haupt hin und her bewegte. Eine Viertelstunde lang noch setzte sich dieser äußerste Kampf gegen das furchtbarste der Elemente fort. Die Flüchtlinge konnten sich nicht genau Rechenschaft über die Entfernung geben,[201] welche sie durcheilten; wenn man aber die Schnelligkeit ihres Rittes zum Maßstabe nahm, so mußte sie beträchtlich sein.


Herberge in einer Baumkrone. (S. 204.)
Herberge in einer Baumkrone. (S. 204.)

Unterdessen waren die Pferde bis zur Brust in's Wasser gekommen und konnten nur noch mit äußerster Schwierigkeit vorwärts. Glenarvan, Paganel, Austin und alle Anderen hielten sich für verloren und dem schrecklichen Tode der im Meere verlassenen Unglücklichen geweiht. Die Reitpferde verloren nun allmälig den Boden unter den Füßen, und bei sechs Fuß Wasser mußten sie schon schwimmen.

Wir müssen darauf verzichten, die quälende Todesangst dieser acht Menschen zu beschreiben, die von der steigenden Fluth überfallen wurden. Sie fühlten ihre Ohnmacht gegenüber diesen Wasserfluthen der Natur, welche menschlichen Kräften so weit überlegen waren. Ihre Rettung lag nicht mehr in ihrer Hand.

Fünf Minuten später schwammen die Pferde. Der Strom selbst trieb sie mit beispielloser Heftigkeit und einer den schnellsten Galop erreichenden Schnelligkeit dahin, die wohl zwanzig Meilen in der Stunde übersteigen mochte.

Jede Rettung schien unmöglich, als die Stimme des Majors sich vernehmen ließ:

»Ein Baum! rief er.

– Ein Baum? wiederholte Glenarvan.

– Dort! Dort!« bestätigte Thalcave.

Er wies mit dem Finger auf einen etwa achthundert Klafter nach Norden zu entfernten ungeheuren Nußbaum, der sich feststehend mitten aus dem Wasser erhob.

Seine Gefährten bedurften keines Antriebes. Dieser Baum, der sich ihnen so unerwartet darbot, mußte um jeden Preis erreicht werden. Die Pferde würden ihn ohne Zweifel nicht erreichen, aber die Menschen konnten gerettet werden. Die Strömung trug sie dahin.

In diesem Augenblicke ließ Tom Austin's Pferd ein ersticktes Wiehern hören und verschwand. Sein Herr, der glücklich aus den Steigbügeln gekommen war, schwamm mit vollen Kräften.

»Halte Dich an meinen Sattel, rief ihm Glenarvan zu.

– Ich danke, ehrenwerther Herr, erwiderte Tom Austin, meine Arme sind verläßlich.[202]

– Und Dein Pferd, Robert? ... sagte Glenarvan zu dem jungen Grant.

– Es geht damit, Mylord, es geht! – Es schwimmt wie ein Fisch.

– Achtung!« rief da der Major mit starker Stimme.

Kaum war das Wort gesprochen, als die ungeheure Masse ankam. Eine riesenhafte, wohl vierzig Fuß hohe Woge stürzte sich mit Höllengetöse über die Flüchtlinge. Menschen und Thiere, Alles verschwand in einem Schaumwirbel. Eine flüssige Masse von mehreren Millionen Tonnen Gewicht wälzte sich in ihrem wüthenden Wasser dahin.

Als die Wasserwand vorüber war, tauchten die Menschen wieder auf der Oberfläche auf und zählten sich rasch. Die Pferde alle, außer Thaouka, das seinen Herrn noch trug, waren für immer verschwunden.

»Muth! Muth! rief Glenarvan wiederholt, indem er mit dem einen Arme Paganel unterstützte und mit dem andern schwamm.

Es geht schon, es geht! erwiderte der würdige Gelehrte, ich bin sogar gar nicht böse darüber ...«

Worüber war er nicht böse? Man hat es nie erfahren, denn der arme Mann mußte das Ende seines Satzes mit einem halben Maße lehmigen Wassers hinunterschlucken. Der Major drang ruhig vorwärts, mit regelrechten Bewegungen, an welchen ein Schwimmmeister nichts auszusetzen gehabt hätte. Die Matrosen schlichen sich hin, wie zwei Meerschweine in ihrem Elemente. Robert, der sich an Thaouka's Mähne anklammerte, ließ sich mit dem Thiere forttreiben. Thaouka theilte das Wasser mit stolzer Kraft und hielt sich instinctiv in der Linie nach dem Baume, wohin auch die Strömung trieb.

Nur zwanzig Klafter war der Baum noch entfernt; in wenigen Augenblicken erreichte ihn die ganze Gesellschaft. Und es war zum Heile, denn ohne diese Zuflucht war keine Aussicht auf Rettung, und Alle hätten in den Fluthen umkommen müssen.

Das Wasser reichte bis an das obere Ende des Stammes, wo die ersten starken Zweige entspringen. Es war also leicht, sich festzuhalten. Thalcave verließ sein Pferd, hob Robert empor, kletterte zuerst hinauf, und bald hatten seine kräftigen Arme alle erschöpften Schwimmer an sicherem Orte untergebracht.

Aber Thaouka, von der Strömung fortgerissen, entfernte sich schnell. Das[203] Pferd wandte den klugen Kopf nach seinem Herrn zurück und wieherte, seine lange Mähne schüttelnd.

»Du verläßt es! sagte Paganel zu Thalcave.

– Ich!« rief der Indianer.

Und sich in das wüthende Wasser stürzend, tauchte er gegen zehn Klafter von dem Baume entfernt wieder auf. Einige Augenblicke nachher schlang sich sein Arm um Thaouka's Hals, und Roß und Reiter trieben zusammen gegen den dunstigen Horizont nach Norden hin.

Fußnoten

1 Gegen sechzig Stunden.


2 Schnell, schnell!


Quelle:
Jules Verne: Die Kinder des Kapitän Grant. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XI–XIII, Wien, Pest, Leipzig 1876, S. 204.
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