Neunzehntes Capitel.
S. V.

[440] Durch einen kräftigen Ruderschlag hatte sich Herkules dem linken Ufer genähert. An dieser Stelle war die Strömung noch nicht beschleunigt, da das Bett des Flusses seine normale Neigung bis dicht an die Fälle einhielt. Dort erst schwand ihm sozusagen plötzlich der Boden, so daß sich ein stärkerer Zug des Wassers erst anderthalb bis zweihundert Schritte von dem Katarakte fühlbar machte.

Am linken Ufer erhob sich ein hoher, dichter Wald. Durch das undurchdringliche Dickicht schimmerte kaum ein Lichtschein Nicht ohne Furcht betrachtete Dick Sand dieses von den Kannibalen des unteren Congo bewohnte Gebiet, das man nun durchwandern mußte, da das Boot dem Flusse nicht mehr folgen konnte. An eine Ueberführung desselben bis unterhalb der Fälle war von vornherein nicht zu denken. Gewiß ein harter Schlag für die armen Menschen, vielleicht am Tage, bevor sie im anderen Falle die portugiesischen Niederlassungen an der Küste erreicht hätten. Doch, sie hatten la nach Kräften geholfen, sollte ihnen der Himmel nicht weiter helfen?

Bald erreichte die Pirogue das linke Stromufer. Je mehr sie aber sich ihm näherte, desto auffallendere Zeichen von Ungeduld und Schmerz gab Dingo von sich.


 »In dieser Hütte ist ein Mensch gestorben.« (S. 442.)
»In dieser Hütte ist ein Mensch gestorben.« (S. 442.)

Dick Sand, der ihn scharf beobachtete – denn hier drohten Gefahren ringsum – fragte sich, ob vielleicht ein Raubthier oder ein Eingeborner in dem hohen Papyrus des Ufersaumes versteckt liegen möge. Er erkannte jedoch bald, daß es eine Empfindung von Zorn nicht sein könne, welche das Thier so erregte.

»Es sieht aus, als ob er weinte!« rief der kleine Jack, der Dingo mit den Aermchen umfaßte.

Dingo entwand sich ihm, sprang, als das Boot nur noch zehn Schritte vom Ufer entfernt war, in's Wasser, schwamm vollends an's Land und verschwand in den Gebüschen.[440]

Weder Mrs. Weldon noch Dick Sand oder Herkules wußten, was sie davon denken sollten.

Wenige Augenblicke später landeten sie selbst in einem von Conserven und anderen Wasserpflanzen grüngefärbten Schaume. Mit kurzem Kreischen flogen mehrere Taucherkönige und einige kleine, schneeweiße Reiher erschrocken auf. Herkules legte das Boot an dem Stamm einer Magnolie fest und Alle[441] erstiegen das Ufer, über welches sich hohe Bäume herabneigten. Ein eigentlicher Fußsteg zeigte sich in dem Walde nirgends; wohl aber deutete das niedergedrückte Moos des Bodens darauf hin, daß hier unlängst Eingeborne oder wenigstens Thiere vorübergekommen sein mußten.

Dick Sand mit dem geladenen Gewehre und Herkules mit der Axt in der Hand, hatten keine zehn Schritte gethan, als sie Dingo schon wiederfanden. Fortwährend leise bellend, folgte der Hund, die Nase am Boden, offenbar einer Spur nach. Ein erstes unerklärliches Vorgefühl hatte ihn hier an's Ufer getrieben, ein anderes verlockte ihn in die Tiefe des Waldes. Allen erschien das unzweifelhaft.

»Achtung! sagte Dick Sand. Mistreß Weldon, Herr Benedict, Jack, verlieren Sie uns nicht! – Achtung, Herkules!«

Eben jetzt erhob Dingo den Kopf und lud mit kleinen Sprüngen offenbar ein, ihm zu folgen.

Bald darauf trafen Mrs. Weldon und ihre Begleiter wieder mit dem Thiere am Fuße einer im dichtesten Urwald versteckten Sycomore zusammen.

Daran stand eine verfallene Hütte aus zersprungenen Balken, vor welcher Dingo kläglich anschlug.

»Was mag er hier haben?« rief Dick Sand.

Er trat in die Hütte ein.

Mrs. Weldon und die Uebrigen folgten ihm.

Auf dem Boden lagen hier Gebeine umher, welche der entfärbende Einfluß der Luft schon gebleicht hatte.

»In dieser Hütte ist ein Mensch gestorben! sagte Mrs. Weldon.

– Und den Mann hat Dingo gekannt, vervollständigte Dick Sand, das war sein Herr, das muß er gewesen sein! Ah, seht da!«

Dick Sand wies nach dem zum Theil abgeschälten Sycomorenstamme im Hintergrund des kleinen Raumes.

Dort zeigten sich zwei große rothe, zwar halb verwischte, aber doch noch erkennbare Buchstaben.

Dingo stemmte die eine Pfote gegen den Baum, als wollte er auf jene hindeuten.

»S. V.! rief Dick Sand. Die Buchstaben, welche Dingo unter allen anderen erkannte! Dieselben, welche er an seinem Halsbande trägt!....«[442]

Er vollendete seine Worte nicht, sondern bückte sich und hob von der Erde ein kleines, über und über oxydirtes Kästchen aus Kupfer auf, das in einem Winkel der Hütte stand.

Dasselbe war nicht verschlossen und es fiel ein Papier heraus, auf dem Dick Sand folgende wenige Worte las:

»Ermordet.... bestohlen durch meinen Führer Negoro... 3. December 1871.... hier.... 120 Meilen von der Küste.... Dingo!.... bei mir!....


S. Vernon.«


Dieser Zettel sagte Alles. Von seinem Hunde Dingo begleitet, war Samuel Vernon aufgebrochen, um unter Führung Negoro's das Innere Afrikas zu erforschen. Das Geld, welches er bei sich trug, hatte die Habsucht jenes Schurken gereizt und ihn zu dem Entschlusse getrieben, es sich anzueignen. An diesem Punkte des Congo-Ufers angelangt, schlug der französische Reisende sein Lager in eben dieser Hütte auf. Hier ward er tödtlich verwundet, bestohlen, verlassen.... Nach vollbrachter Mordthat ergriff Negoro jedenfalls die Flucht und mochte dabei den Portugiesen in die Hände gefallen sein. Als Agent des Sklavenhändlers Alvez erkannt, wurde er nach San Pablo de Loanda abgeführt und verurtheilt, seine Tage in einer der Strafanstalten der Kolonie zu beschließen. Der Leser weiß, daß es ihm gelang, zu entweichen, nach Neu-Seeland zu entfliehen, und daß er sich auf dem »Pilgrim« mit einschiffte zum Unglück Aller, die die Brigg-Goëlette trug. Was war aber nach dem Verbrechen geschehen? Nichts, was sich nicht fast von selbst erklärte. Der unglückliche Vernon gewann, bevor er den Geist aufgab, offenbar noch Zeit, jene Zeilen niederzuschreiben, welche neben dem Datum und der Veranlassung der Unthat auch den Namen des Mörders nannten. Das Blättchen hatte er in die Cassette gelegt, in der sich vorher jedenfalls das gestohlene Geld befand, und als letzte Lebensäußerung mochte er, gleichsam als Grabschrift, jene beiden Anfangsbuchstaben mit blutender Hand in den Baum geschnitten haben. Gewiß mochte Dingo manchen Tag lang, die beiden gerötheten Buchstaben vor Augen, hier zurückgeblieben sein. Er hatte sie dabei seinem Gedächtniß eingeprägt. Er konnte sie nicht wohl wieder vergessen. Nach der Küste zurückgekehrt, wurde er zunächst an Bord des »Waldeck« und später von dem Kapitän des »Pilgrim« aufgenommen, wo er wie der mit Negoro zusammentraf. Während dieser Zeit moderten und[443] bleichten die Gebeine des Reisenden in diesem verlorenen, innerafrikanischen Urwalde, und jener lebte bei Niemand mehr, außer im Gedächtniß seines treuen Hundes. Gewiß, so mußte sich Alles zugetragen haben, und Dick Sand ging nebst Herkules schon daran, den Ueberresten des Reisenden ein christliches Begräbniß zu bereiten, als Dingo, jetzt aber mit wüthendem Geheul, zur Hütte hinaussprang.

Fast gleichzeitig hörte man einen gräßlichen Angstschrei in kurzer Entfernung. Jedenfalls hatte das Thier einen Menschen gepackt.

Herkules that, was Dingo vorher gethan. Er war mit einem Sprunge aus der Hütte, und Dick Sand, Mrs. Weldon, Jack und Benedict sahen ihn, als sie ebenfalls heraustraten, sich auf einen Mann stürzen, der, auf der Erde liegend, von den gewaltigen Zähnen des Hundes an der Kehle fest gehalten wurde.

Dieser Mann war Negoro.

Auf dem Wege nach der Mündung des Zaïre, von wo aus er sich nach Amerika einzuschiffen gedachte, hatte sich der Schurke, seine übrige Begleitung einstweilen zurücklassend, nach der Stelle begeben, wo er einst den Reisenden, der sich ihm anvertraut hatte, ermordete.

Es geschah das auch nicht ohne Grund, und Alle begriffen, warum jener diesen Weg eingeschlagen hatte, als sie in einem frisch aufgewühlten Loche am Fuße eines anderen Baumes noch ein Häuschen französischer Goldstücke schimmern sahen. Es lag also auf der Hand, daß Negoro nach der Mordthat und bevor er den Portugiesen in die Hände fiel, den Ertrag seines Raubes in der Absicht verborgen hatte, ihn später einmal abzuholen, und eben wollte er sich all' dieses Gold aneignen, als Dingo ihn aufspürte und an der Gurgel faßte. Erschreckt hatte der Elende noch ein Jagdmesser gezogen und den Hund verwundet, als Herkules sich über ihn stürzte.

»Ah, Du Schurke! Jetzt endlich werd ich Dich erwürgen!«

Das erwies sich jedoch unnöthig. Der Portugiese gab kein Lebenszeichen mehr von sich; an der Stelle des früheren Verbrechens selbst hatte ihn die göttliche Wiedervergeltung zu erreichen gewußt. Auch der treue Hund war indeß tödtlich getroffen und verendete, sich noch bis zur Hütte schleppend, auf derselben Stelle, wo Samuel Vernon gestorben war.[444]

Tief in die Erde vergrub Herkules die Reste von dem Reisenden, und auch Dingo wurde, unter herzlichem Bedauern Aller, mit seinem Herrn in dieselbe Grube gelegt.

Negoro existirte nun zwar nicht mehr; die Eingebornen aber, welche ihn von Kazonnde her begleiteten, konnten von hier nicht fern sein. Trafen sie nun jenen nicht wieder, so suchten sie ihn gewiß längs des Flußufers. Hierin lag eine ernstliche Gefahr.

Dick Sand und Mrs. Weldon berathschlagten also, was jetzt zu thun, und was ohne einen Augenblick zu verlieren zu thun sei.

Eines wußten Sie nun sicher, daß dieser Wasserlauf der Congo sei, den die Eingebornen Kwango oder Ikutu ya Kongo nennen und der unter gewissen Breitengraden den Zaïre, unter anderen den Loualaba darstellt. Es war das jene große Pulsader Central-Afrikas, der die Geographen jetzt den Namen »Stanley« geben sollten, zu Ehren des kühnen amerikanischen Journalisten, der vier Jahre später ihren Lauf feststellte.

Konnte man aber nicht mehr daran zweifeln, den Congo vor sich zu haben, so meldeten doch die Zeilen des französischen Reisenden, daß seine Mündung noch 120 Meilen von hier entfernt sei, und zum Unglück war der Strom hier nicht schiffbar. Mächtige Fälle – wahrscheinlich die Katarakten von Niemo – machten hier unbedingt jeder Beschiffung des Stromes ein Ende. Man sah sich also gezwungen, dem einen oder dem anderen Ufer zu folgen, mindestens bis unterhalb der Fälle, vielleicht ein oder zwei Meilen weit, um dann vielleicht ein Floß zu bauen und sich auf diesem nochmals von der Strömung hinabtragen zu lassen.

»So wäre nun, sagte schließlich Dick Sand, zu unterscheiden, ob wir auf dem linken Flußufer, auf dem wir uns befinden, oder auf dem rechten weiter gehen sollen. Mir erscheinen beide gefährlich, Mistreß Weldon, denn jedenfalls haben wir Eingeborne überall zu fürchten. Doch denke ich, laufen wir hier noch größere Gefahr, da wir den Begleitmannschaften Negoro's in den Weg kommen können.

– Setzen wir also nach dem anderen Ufer über, sagte Mrs. Weldon.

– Ja, aber wird das auch gangbar sein? warf Dick Sand ein. Der Weg nach den Congo-Mündungen läuft offenbar an diesem linken Ufer hin, da Negoro diesen einschlug. Doch, wie dem auch sei, wir dürfen nicht zaudern. Vor der Ueberschreitung des Flusses aber, Mistreß Weldon, will[445] ich mich überzeugen, ob wir drüben bis unterhalb der Wasserfälle gelangen können.«

Gewiß erschien das rathsam und Dick Sand wollte sein Vorhaben auch sofort ausführen.

Der Strom maß an dieser Stelle nur 150 bis 200 Schritte in der Breite, und es mußte für den jungen Matrosen, der ja mit dem Ruder umzugehen wußte, ein Leichtes sein, über denselben zu setzen. Mrs. Weldon, Jack und Vetter Benedict sollten bis zu seiner Rückkehr unter Herkules' Schutze zurückbleiben.

Nach dieser Vereinbarung wollte Dick Sand eben abstoßen, als Mrs. Weldon zu ihm sagte:

»Du fürchtest doch nicht, nach den Fällen hin gezogen zu werden, Dick?

– Nein, Mistreß Weldon, ich fahre zweihundert Schritt vor denselben hinüber.

– Doch am anderen Ufer?...

– Lege ich gar nicht an, wenn sich die geringste Gefahr zeigt.

– Nimm das Gewehr mit.

– Das thu' ich, doch beunruhigen Sie sich meinetwegen nicht.

– Vielleicht wär' es besser, uns nicht zu trennen, fügte Mrs. Weldon, wie von einem Vorgefühl getrieben, hinzu.

– Nein... lassen Sie mich allein gehen... erwiderte Dick Sand. Die Sicherheit Aller erfordert es. Vor Ablauf einer Stunde bin ich wieder hier. Haltet sorgsam Wacht, Herkules!«

Das Boot wurde losgemacht und trug Dick Sand nach dem anderen Ufer des Zaïre.

Im Papyrusdickicht verborgen, folgten ihm Mrs. Weldon und Herkules mit den Augen.

Bald hatte Dick Sand die Mitte des Stromes erreicht. Ohne gerade sehr stark zu sein, nahm die Strömung dort, durch den Zug der Wasserfälle, doch ein wenig zu. Zweihundert Schritte stromaufwärts erschütterte das Donnern und Brausen der Fluth die ganze Atmosphäre und ein seiner Staubregen fiel, vom Westwind getrieben, auf den jungen Leichtmatrosen nieder. Er zitterte noch bei dem Gedanken, daß die Pirogue in der vergangenen Nacht, bei nur etwas geringerer Aufmerksamkeit, in die Katarakten hinabgerissen worden wäre, welche offenbar nur ihre Leichen weitergeschwemmt[446] hätten. Das war jetzt nicht mehr zu fürchten; hier genügte ein kräftiger Druck mit dem Bootsriemen, dieselbe in ein wenig schräger Richtung zur Strömung zu halten.

Eine Viertelstunde später hatte Dick Sand das jenseitige Ufer erreicht und wollte eben auf dessen Abhang springen...

Da erschallte ein wüstes Geschrei und etwa ein Dutzend Eingeborne stürzten sich auf den Zweig- und Blätterhaufen, der das Boot noch immer verdeckte.

Es waren das Kannibalen aus dem früher erwähnten Wasser-Dorfe. Schon acht Tage lang gingen sie dem rechten Flußufer nach. Unter dem an den Pfählen ihrer Ansiedelung etwas zerstörten Laubdache hatten sie Flüchtlinge gewittert, d.h. eine sichere Beute, da das Stromhinderniß der Wasserfälle die Unglücklichen früher oder später zwingen mußte, an's Land zu gehen.

Dick Sand sah seinen Untergang vor Augen, aber er fragte sich, ob er nicht durch Aufopferung des eigenen Lebens seine Gefährten noch zu retten im Stande sei. In voller Selbstbeherrschung stand er im Vordertheile des Fahrzeugs und hielt mit dem Gewehr an der Schulter die Kannibalen in Respect.

Inzwischen hatten diese jedoch das ganze Bootsdach abgerissen, da sie weitere Opfer darunter vermutheten. Als sie sahen, daß der junge Leichtmatrose allein in ihre Hände gefallen sei, machte sich ihre Enttäuschung nur in noch drohenderem Geschrei Luft. Ein Knabe von fünfzehn Jahren für Zehn!

Da erhob sich aber einer der Eingebornen, streckte den Arm nach dem linken Ufer aus und wies auf Mrs. Weldon und deren Begleiter, die Alles gesehen hatten, und unschlüssig, was sie beginnen sollten, eben das Ufer hinaufstiegen.

Dick Sand dachte nicht im Mindesten an sich, sondern ersehnte vom Himmel eine Eingebung, welche nur die Anderen retten könnte.

Das Boot wurde abgestoßen. Die Kannibalen gedachten, den Strom zu überschreiten. Gegenüber der auf sie gerichteten Flinte sprachen sie kein Wort mehr. Sie kannten die Wirkung der Feuerwaffen recht gut. Einer derselben aber hatte den Bootsriemen ergriffen und handhabte diesen offenbar mit[447] Geschick so daß die Pirogue wieder schräg über den Fluß glitt Bald befand sie sich nur noch fünfzig Schritt vom linken Ufer entfernt.

»Flieht Alle, rief Dick Sand Mrs. Weldon zu, flieht!«


Dingo spürte ihn auf und faßte ihn an der Gurgel. (S. 444.)
Dingo spürte ihn auf und faßte ihn an der Gurgel. (S. 444.)

Weder Mrs. Weldon noch Herkules waren eines Wortes fähig. Es schien, als seien ihre Füße am Boden festgewurzelt.

Entfliehen? Wozu? Vor Ablauf einer Stunde wären sie doch den Kannibalen in die Hände gekommen.


Und der Bootsriemen sprang, von einer Kugel getroffen, in Stücke. (S. 450.)
Und der Bootsriemen sprang, von einer Kugel getroffen, in Stücke. (S. 450.)

Dick Sand verstand sie. Da kam aber die himmlische Eingebung, um welche er im Innern so flehentlich bat, plötzlich über ihn. Er sah den Weg, auf dem er durch Darbringung seines eigenen Lebens Alle retten könnte, die seinem Herzen theuer waren. Er zögerte nicht, ihn zu wählen.[448]

»Gott schütze sie, murmelte er, und mir sei er in seiner Allgüte gnädig!«[449]

In demselben Augenblick richtete Dick Sand sein Gewehr auf denjenigen der Eingebornen, der den Bootsriemen führte, und sofort sprang letzterer, von seiner Kugel glücklich getroffen, in Stücke.

Die Kannibalen stießen einen Schrei des Entsetzens aus.

Die von dem Riemen nicht mehr gehaltene Pirogue verfiel nun dem Zuge des Wassers. Mit zunehmender Schnelligkeit riß sie die Strömung mit sich fort, und in wenigen Augenblicken tanzte sie nur noch fünfzig Schritte vor den Fällen.

Mrs. Weldon und Herkules verstanden, was hier vorging. Dick Sand suchte sie zu retten, indem er die Kannibalen und sich selbst in den Abgrund stürzte. Am Uferabgange knieend, sandten ihm der kleine Jack und seine Mutter das letzte Lebewohl zu. Auch Herkules streckte die jetzt ohnmächtige Hand gegen ihn aus!...

Die Eingebornen machten einen letzten Rettungsversuch und sprangen, um schwimmend das linke Ufer zu erreichen, aus dem Boote, das in Folge dessen kenterte und vollkommen umschlug.

Auch angesichts des drohenden Todes hatte Dick Sand seine bewährte Kaltblütigkeit nicht eingebüßt. So kam ihm denn der Gedanke, daß vielleicht diese Barke, gerade weil sie mit dem Kiel nach oben dahinschwamm, seine Rettung werden könne.

In der That drohten mit dem Moment, da Dick Sand in den schäumenden Abgrund hinabgerissen wurde, gleichzeitig zwei Gefahren: die Erstickung durch das Wasser und die Erstickung durch die Luft. Dieser umgekehrte Bootsrumpf aber glich einem Kasten, etwa einer Taucherglocke, unter welcher er den Kopf über das Wasser heraushalten konnte, während er gleichzeitig vor der Wirkung der äußeren Luft, die ihn beim Hinabreißen unfehlbar erstickt hätte, sicher geschützt blieb. Solche Umstände scheinen es zu ermöglichen, daß ein Mensch dem doppelten Erstickungstode müsse entgehen können, selbst wenn er die Niagara-Fälle hinabglitte.

Dick Sand ward das Alles fast blitzschnell klar. Wie von glücklichem Instinct getrieben, klammerte er sich an eine, die beiden Bordseiten verbindende Bank und fühlte, den Kopf unter dem Schiffskörper immer über Wasser, wie der unwiderstehliche Strom ihn sausend dahinriß, und wie er in fast lothrechtem Falle in die brodelnde Tiefe stürzte.[450]

Die Pirogue versank in die am Fuße des Kataraktes von den Wassermassen eingedrückte Höhlung, tauchte tief hinab, doch auch bald wieder zur Oberfläche des Stromes empor. Dick Sand, ein guter Schwimmer, begriff, daß Rettung jetzt nur von der Kraft seiner Arme zu hoffen sei...

Eine Viertelstunde später erreichte er das linke Ufer des Flusses und fand da auch Mrs. Weldon, den kleinen Jack und Vetter Benedict, welche Herkules in aller Eile hierher geführt hatte.

Die Kannibalen waren schon in dem Wogenaufruhr verschwunden. Sie fanden, da das gekenterte Boot ihnen keinen Schutz verlieh, den Tod schon, bevor sie ganz in die Tiefe des Abgrundes hinabgekommen waren, und ihre Leichen wurden von den spitzen Felsmassen zerrissen, an welchen sich die Strömung weiter flußabwärts brach.

Quelle:
Jules Verne: Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXVII–XXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1879, S. 440-451.
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