II.

[14] Dal besteht nur aus wenigen Häusern, von denen die einen längs einer Straße stehen, die eigentlich nur den Namen eines Fußwegs verdient, und die anderen auf benachbarten Anhöhen zerstreut liegen. Sie wenden die vordere Seite dem Vestfjorddal, den Rücken den Bergen im Norden zu, an deren Fuße hin der Maan verläuft. Alle Gebäude zusammen würden etwa einen der im Lande sehr häufigen »Gaards« bilden, wenn sie von einem einzigen Feldeigenthümer oder einem Zinspächter verwaltet würden. Doch wenn nicht den Namen eines Fleckens, so beanspruchen dieselben doch mit Recht den eines Weilers. Eine kleine, 1855 erbaute Kapelle, deren Chorhaube durch zwei schmale Glasfenster unterbrochen wird, erhebt in der Nähe durch das Baumgewirr ihren vierseitigen Glockenthurm – Alles in Holz. Da und dort sind über die Bäche welche dem Flusse zueilen, einige kreuzförmig gezimmerte Brückchen geschlagen, deren Zwischenräume von bemoosten Steinen ausgefüllt werden.

Etwas weiterhin hört man das Knarren von ein oder zwei sehr ursprünglichen, durch Bergwässer getriebenen Sägemühlen, mit einem Schaufelrade zur Bewegung der Säge und einem anderen zur Fortschiebung des Balkens oder der Planken. Und wiederum in einiger Entfernung scheint das Ganze, Kapelle, Sägemühlen, Häuser und Hütten, in einen weichen Dunst von Grün gebettet, hier dunkel durch Tannen, dort blaugrün durch Birken, in einem Rahmen, den die einzelnen oder in Gruppen stehenden Bäume von den gewundenen Ufern des Maan bis zum Kamme der hohen Berge von Telemarken bilden.

So erscheint der frische und lachende Weiler von Dal mit seinen malerischen, äußerlich farbig angestrichenen Wohnstätten, von denen die einen zarte[14] Farbentöne in Hellgrün oder Lichtrosa, die anderen schreiende Farben, wie lebhaftes Gelb oder Blutroth, zeigen. Ihre mit Birkenrinde abgedeckten Dächer, überzogen mit frischgrünem Rasen, den man im Herbst abmäht, sind mit natürlichen Blumen geschmückt. Alles das ist reizend und gehört zum herrlichsten Lande der Welt. Kurz, Dal liegt eben in Telemarken, Telemarken aber in Norwegen, in Norwegen – mit mehreren tausend Fjords, welche dem Meere gestatten, um den Fuß seiner Berge zu branden.

Telemarken liegt inmitten jenes weit ausladenden, kolbenförmigen Theiles, den Norwegen zwischen Bergen und Christiania bildet. Diese, zu dem Amte Bratsberg gehörige Vogtei hat Berge und Gletscher, wie die Schweiz, aber sie ist nicht die Schweiz; sie hat großartige Wasserfälle, wie Nordamerika, aber sie ist nicht Nordamerika; sie hat Dörfer mit gemalten Häusern und gelegentlich Processionen mit Trachten aus verschwundenen Zeiten bekleideter Einwohner, wie manche Ortschaften Hollands, aber sie ist auch nicht Holland. Telemarken ist schöner, wie diese alle, es ist eben Telemarken, eine durch die natürliche Schönheit, welche sie enthält, vielleicht in der ganzen Welt einzig dastehende Landschaft.

Der Verfasser hat das Vergnügen gehabt, dasselbe zu besuchen. Er hat es auf Schußkarren durchstreift und das Pferd an jeder Station gewechselt – wenn solche zu haben waren – und davon einen tiefgehenden poetischen Eindruck mit heimgebracht, der noch heute so lebhaft in seiner Erinnerung ist, daß er dieser einfachen Erzählung wohl einen Anflug davon verleihen zu können wünschte.

Zur Zeit, wo diese Geschichte spielt – im Jahre 1862 – war Norwegen noch nicht von der Eisenbahn durchfurcht, welche es heute gestattet, von Stockholm über Christiania bis Drontheim zu reisen. Jetzt ist ein ungeheures Schienenband zwischen den beiden skandinavischen Ländern, die so wenig Neigung zeigen, ein gemeinschaftliches Leben zu führen, ausgespannt. Im Waggon der Eisenbahn eingeschlossen, sieht der Reisende freilich, während er schneller als früher mittelst Schuß dahinfährt, nichts oder sehr wenig von der Schönheit der ehemaligen Fahrstraße. Ihm entgeht damit die hochinteressante Fahrt durch das mittlere Schweden, auf dem Göta-Canal, dessen Dampfboote von Schleuse zu Schleuse gehoben, eine Höhe von dreihundert Fuß erklettern. Er verweilt nicht bei den berühmten Trollhättafällen, nicht in Drammen oder Kongsberg, so wenig wie bei den Wundern von Telemarken.


Eine Sägemühle in Dal. (S. 14.)
Eine Sägemühle in Dal. (S. 14.)

[15] Jener Zeit war also die Eisenbahn erst geplant. Noch einige zwanzig Jahre sollten vergehen, ehe man das skandinavische Königreich von einer Küste zur anderen in achtundvierzig Stunden durchfliegen und nach dem Nordcap oder mit Retourbillet nach Spitzbergen gehen konnte. Dal bildete nun damals – und bildet hoffentlich noch lange Zeit – den eigentlichen Mittelpunkt, der fremde oder einheimische Touristen anlockte, welch' letztere übrigens meist aus Studenten von Christiania bestanden. Von hier können dieselben sich leicht über ganz Telemarken und Hardanger zerstreuen, das Vestfjorddal zwischen dem Mjös- und[16] Tinn-See hinabwandern und die wundervollen Wasserfälle des Rjukan erreichen. In genanntem Weiler findet sich freilich nur eine Herberge, aber diese ist so anziehend, so hübsch und bequem, wie man sich eine solche nur wünschen kann, und dazu ziemlich geräumig, denn sie enthält vier Zimmer für Fremde – mit einem Worte, es ist das Haus der Frau Hansen.

Einige Bänke umschließen den hinteren Theil seiner rosenfarbenen Wände, die vom Erdboden durch eine solide Grundmauer aus Granit isolirt sind. Die tannenen Balken und Planken seiner »Mauern« haben im Laufe der Zeit eine[17] solche Härte angenommen, daß eine stählerne Axt daran stumpf werden würde. Zwischen diesen vierkantig zugehauenen, wagrecht übereinander gelagerten Balken füllt eine Ansiedlung von Moos mit etwas Thonerde die Fugen aus, so daß selbst der heftigste Winterregen keinen Eingang findet.


Frau Hansen zählte fünfzig Jahre. (S. 22.)
Frau Hansen zählte fünfzig Jahre. (S. 22.)

In den Zimmern ist die Sparrendecke roth gemalt und sticht damit stark ab gegen die milden und heiteren Farben des Wandgetäfels. In einer Ecke der großen Stube steht der große Kachelofen, dessen Rohr nach der Esse über dem Küchenherd mündet. Hier wieder bewegt die große, von einem Holzkasten umschlossene Uhr ihre schön gearbeiteten und spitz auslaufenden Zeiger über ein großes Emailzifferblatt und bezeichnet jede Secunde durch ein lautes Tiktak. Dort steht der alte Schreibtisch mit braunem Simswerk vor einem eichenartig angestrichenen, dreibeinigen Sessel. Auf einem Untersetzer prangt ein Leuchter aus gebranntem Thon, der, wenn man ihn umkehrt, einen dreiarmigen Kandelaber darstellt. Die schönsten Möbel des Hauses zieren überhaupt diesen Raum. Der Tisch aus Birkenwurzel mit geschweiften Füßen. Die große Truhe mit verzierten Beschlägen, in der sich der Sonn- und Festtagsstaat befindet. Der große hölzerne Lehnstuhl, der schon mehr einem Kirchstuhl gleicht, die Stühle aus bemaltem Holz; das altehrwürdige Spinnrad, dessen grünliche Verzierungen lebhaft mit dem Rocke der Spinnerinnen contrastiren. Ferner der Topf für die eingesetzte Butter und die Rolle zum Festrühren derselben, sowie der Tabakskasten und die Reibe aus geschnittenem Knochen. Ueber der nach der Küche führenden Thür endlich blinken auf breitem Gestelle die Reihen von Kupfer- und Zinngeschirr neben Tellern und Schüsseln mit glänzendem Email aus Fayence und solchen aus Holz, der kleine Schleifstein, der halb in seinem gefirnißten Behälter verschwindet, der alte und ehrwürdige Eierhalter, der nöthigenfalls als Kelch dienen könnte, und dazu die hochinteressanten Wände, welche mit Stickereien in Leinwand bedeckt sind, die in bunten Farben Scenen aus der Bibel wiedergeben. Die Zimmer für Reisende sind zwar einfacher in der Ausstattung, doch nicht minder anheimelnd mit ihren höchst sauberen Möbeln; vor den Fenstern mit dem Vorhange aus frischem Grün, der sich von der Kante des berasten Daches herabzieht, mit dem breiten Bett und dessen weißem Linnenzeug, das ein Blumenmuster zeigt, wie mit den Bettwänden, auf denen, gelb auf rothem Grunde, Bibelsprüche aus dem alten Testament geschrieben stehen.

Unerwähnt darf hierbei auch nicht bleiben, daß die Dielen des größten Raumes, wie die aller Zimmer des Erdgeschosses und des ersten Stockwerks,[18] mit Birken-, Tannen- und Wachholderreisig bestreut sind, dessen Blätter und Nadeln das ganze Haus mit erfrischendem Wohlgeruch erfüllen.

Könnte sich wohl Jemand eine reizendere Posada in Italien, eine entzückendere Fonda in Spanien vorstellen?

Gewiß nicht. Und hier hat der Strom englischer Touristen – wenigstens zur Zeit, wo unsere Erzählung spielt – noch nicht wie in der Schweiz die Preise in die Höhe geschnellt. In Dal wird die Börse des Reisenden nicht gleich um Guineen und Pfunde Sterling erleichtert, hier bildet der silberne Speciesthaler, im Werthe von viereinhalb Mark, die größte Münze; meist handelt es sich beim Bezahlen nur um dessen Unterabtheilungen, die Mark im Werthe von ungefähr siebenundfünfzig Pfennigen und den Kupferschilling, den man ja nicht mit dem englischen Schilling verwechseln darf, denn jener entspricht nur etwa einem französischen Sous.1 Ebenso wenig ist es die anspruchsvolle Banknote, welche der Tourist in Telemarken stets auszugeben oder zu verschwenden hat. Hier sieht man nur den einfachen Papierspecies von weißer Farbe, das Fünfspecies-Billet (blau), das zu zehn (gelb), das zu fünfzig (grün) und zu hundert Species (roth); es fehlen also nur zwei, sonst wären alle sieben Regenbogenfarben vertreten.

Ferner – und damit bietet dieses gastliche Haus einen weiteren beachtenswerthen Vorzug – ist Speise und Trank hier vortrefflich, was man von den anderen Gasthäusern der Umgebung nicht allemal sagen kann. Telemarken rechtfertigt nur zu sehr seinen Spitznamen des »Landes der geronnenen Milch«. Tief im Inneren, wie in Tineß, Listhuus, Tinoset und an anderen Orten, gibt es fast niemals Brot oder doch nur so schlechtes, daß man besser davon absieht; nichts als eine Art Hafermehlscheiben, das trockene schwärzliche und wie steife Pappe harte »Flatbröd«, oder höchstens eine Art groben Kuchen, dem gemahlene Birkenrinde, gemischt mit Mais und Häcksel, zugesetzt ist. Nur selten findet man Eier, außer wenn die Hühner vielleicht schon acht Tage vorher gelegt hatten; in Ueberfluß dagegen ein sehr mittelmäßiges Bier, süße und saure geronnene Milch (Filbunk) und zuweilen etwas Kaffee, diesen aber so dick, daß er mehr einem destillirten Producte der Mokka-, Bourbon- oder Rio-Nunezbohne ähnelt.

Bei Frau Hansen dagegen sind Küche und Keller wohl bestellt, so daß auch verwöhnte Touristen keine Ursache zur Klage haben. Hier gibt es gekochten,[19] gesalzenen und geräucherten Lachs, »Hores«, das sind Binnensee-Lachse, welche niemals im Salzwasser gewesen sind; Fische aus den Flüssen Telemarkens, weder zu hartes, noch zu mageres Geflügel, Eier in Menge, wohlschmeckende Platzkuchen aus Roggen- und Gerstenmehl, Früchte, und vor Allem Erdbeeren, Schwarzbrot von seltener Güte, Bier und abgelagerte Flaschen mit schönem Saint-Julien, der den guten Ruf der Gewächse Frankreichs bis in diese entlegenen Gegenden verbreitet.

In allen Ländern des nördlichen Europa steht die Gjestgisveri von Dal auch in bestem Ansehen.

Das erkennt man außerdem sehr leicht beim Durchblättern des Fremdenbuches mit vergilbtem Papier, in das die Reisenden neben ihrem Namen gern einige Lobsprüche für Frau Hansen eingetragen; in der Mehrzahl sind das Schweden und Norweger, die aus allen Theilen Skandinaviens herstammen.

Zudem finden sich auch viele Engländer darunter, und Einer derselben, der lange Zeit gewartet hatte, um den Nebel vom Gipfel des Gusta sich auflösen zu sehen, hatte als echter Sohn Albions auf eine jener Seiten geschrieben:

Patientia omnia vincit.2

Auch einigen Franzosen begegnet man wohl, von denen der Eine, der hier besser ungenannt bleibt, sich zuschreiben erlaubte:

»Wir haben uns nur lobend auszusprechen über die Aufnahme, die man uns in dieser Herberge »gemacht« hat!«

Auf den grammatischen Fehler kommt hierbei ja nicht viel an. Wenn die Worte mehr lobend als sprachlich richtig sind, so enthalten sie doch eine herzlich gemeinte Anerkennung für Frau Hansen und ihre Tochter, die reizende Hulda des Vestfjorddals.

Fußnoten

1 Neuerdings – seit 1875 – ist in den drei skandinavischen Läudern die Goldwährung eingeführt und die Krone (112 1/2 deutsche Pfennige) Münzeinheit geworden. D. Ueb.


2 »Geduld überwindet Alles.«


Quelle:
Jules Verne: Ein Lotterie-Los. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LI, Wien, Pest, Leipzig 1888, S. 20.
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