III.

[20] Ohne in der Ethnographie allzu sehr bewandert zu sein, kann man doch mit mehreren Gelehrten zu dem Glauben kommen, daß zwischen den Familien der hohen Aristokratie Englands und den alten Familien des skandinavischen[20] Königreichs eine gewisse Verwandtschaft herrscht. Zahlreiche Beweise liefern dafür die alterthümlichen Namen, welche in beiden Ländern übereinstimmend vorkommen. Und doch gibt es in Norwegen keine eigentliche Aristokratie; aber wenn hier auch Demokratie herrscht, so verhindert das keineswegs, im höchsten Grade aristokratisch zu sein. Hier sind so zu sagen Alle an Höhe, statt an Niedrigkeit gleich. Bis in die geringsten Hütten findet man noch den hoch in Ehren gehaltenen Stammbaum, der keineswegs dadurch, daß er in plebejischer Erde Wurzel faßte, minderwerthig geworden ist. Hier viertheilen sich die Schilder der vornehmen Familien aus der Feudalzeit, von denen diese einfachen Bauern abstammen.

Ganz das Nämliche war der Fall mit den Hansen's von Dal, die, wenn auch nur entfernt, jedenfalls verwandt sind mit den gleichnamigen, bald nach dem Einfalle Rollon's von der Normandie geschaffenen Pairs von England. Nehmen sie auch nicht deren hohen Rang ein und erfreuen sie sich nicht des gleichen Reichthums, so haben sie sich doch mindestens den alten Stolz bewahrt, oder vielmehr eine gewisse Würde, welche ja in jeder gesellschaftlichen Stellung am Platze ist.

Doch das kümmerte sie nichts. Trotz seiner Vorfahren von hoher Geburt war Harald Hansen doch Gastwirth in Dal geworden. Das Haus rührte schon von seinem Vater und Großvater her, an deren Stellung im Lande er sich gern erinnerte. Nach ihm hatte auch seine Witwe das Geschäft in einer Art und Weise fortgesetzt, die ihr die öffentliche Achtung sicherte.

Ob schon Harald bei seinem Geschäfte Vermögen erworben, ist nicht bekannt geworden; sicherlich hatte er seinen Sohn Joël und seine Tochter Hulda auf- und erziehen können, ohne daß den Kindern ihre erste Lebenszeit zu beschwerlich gewesen wäre. Außerdem hatte er auch den Sohn einer Schwester seiner Frau, Ole Kamp, den der Tod seiner Eltern seiner Sorge anvertraute, ganz wie seine eigenen Sprößlinge erzogen. Ohne seinen Onkel Harald wäre dieser Waisenknabe unzweifelhaft eines jener armen kleinen Wesen geworden, die nur zur Welt kommen, um sie baldigst wieder zu verlassen. Ole Kamp erwies seinen Pflegeeltern dafür auch eine wahrhaft kindliche Dankbarkeit, und nichts sollte je im Stande sein, die Bande zu sprengen, die ihn mit der Familie Hansen verknüpften. Im Gegentheil sollte seine Verheiratung mit Hulda diese nur noch enger schließen und für das Leben befestigen.

Harald war nun vor achtzehn Monaten gestorben. Außer dem Gasthause in Dal hinterließ er seiner Witwe noch einen kleinen, auf dem Berge gelegenen[21] »Saeter«. Der Saeter ist eine Art einzeln liegender Farm von im Allgemeinen geringem, oft ganz verschwindendem Ertrage. Gerade die letzten Monate waren ziemlich ungünstig gewesen. Alle Culturen hatten darunter zu leiden gehabt, selbst die bloßen Weiden, und zwar in Folge jener »eisernen Nächte«, wie der norwegische Bauer sagt, Nächte mit eiskaltem Nordostwinde, welche Felder und Wiesen bis tief hinab ausdörren und schon so manchen Bauer von Telemarken und Hardanger dem Untergange nahe gebracht haben.

Wenn Frau Hansen gewiß über ihre Lage klar war, so hatte sie darüber doch gegen Niemand, selbst nicht gegen ihre Kinder, etwas fallen lassen. Von kühlem, schweigsamem Charakter, war sie natürlich wenig mittheilsam, was Joël und Hulda oft genug schmerzlich empfanden. Bei der in den nördlichen Gegenden angeborenen Achtung vor dem Haupte der Familie hatten sie jedoch stets hierüber die größte Zurückhaltung bewahrt, so peinlich ihnen das zuweilen sein mochte. Frau Hansen nahm auch nicht gern Rath oder Hilfe an, da sie – nach dieser Seite eine echte Norwegerin – von der Sicherheit des eigenen Urtheils unerschütterlich überzeugt war.

Frau Hansen zählte jetzt fünfzig Jahre. Hatte das Alter auch ihre Haare gebleicht, so hatte es doch weder ihre hohe Gestalt gebeugt, noch die Lebhaftigkeit des glänzenden blauen Auges verblassen können, dessen Azur sich in den Augen ihrer Tochter widerspiegelte. Ihr Teint allein hatte den gelblichen Schein von Actenpapier angenommen, und einige Falten begannen die freie Stirn zu runzeln.

»Die Madame«, wie man von den Frauen niederer Stände in ganz Skandinavien sagt, trug stets einen großfaltigen schwarzen Rock als Zeichen der Trauer, den sie seit dem Ableben ihres Gatten Harald noch niemals abgelegt hatte. Durch den Ausschnitt ihres Leibchens traten die Aermel eines ungebleichten Leinwandhemdes hervor. Ein dreieckiges Tuch von dunkler Farbe kreuzte sich über ihrer Brust, hier bedeckt von dem Latze der Schürze, die auf dem Rücken mit großen Spangen zusammengehalten wurde. Den Kopf bedeckte stets ein dichtes Seidenmützchen, eine Art Kinderhaube, welche man sonst nur selten sieht. In gerader Haltung auf dem Holzlehnstuhle sitzend, ließ die ernste Gastwirthin von Dal ihr Spinnrad nur aus den Händen, um eine kleine Birkenholzpfeife zu rauchen, deren Wolken sie mit einem leichten Nebel umgaben.

Ohne die Anwesenheit der beiden Kinder hätte das Haus wirklich einen etwas düsteren Eindruck gemacht.[22]

Es war ein tüchtiger Bursche, der Joël Hansen. Fünfundzwanzig Jahre alt, hübsch gewachsen und von großer Gestalt, wie die meisten Bergbewohner Norwegens, bewahrte er einen stolzen Ausdruck ohne Zumischung abstoßender Windbeutelei, und eine entschlossene Haltung ohne Furchtsamkeit. Neben dunkelblondem, fast kastanienfarbenem Haar hatte er tiefblaue, fast schwarze Augen. Sein Anzug ließ die breiten Schultern, welche sich nicht leicht beugten, günstig hervortreten, ebenso die mächtige Brust, in der ein paar Bergführer-Lungen ruhig functionirten, die kräftigen Arme und Beine, welche zu den beschwerlichen Besteigungen der hohen Fjelds von Telemarken wie geschaffen schienen. So wie man ihn für gewöhnlich sah, mußte man den jungen Mann für einen Cavalier halten. Sein mit Schulterlätzen versehenes bläuliches Jaquet, das in der Brust eng anschloß, verlief an der Vorderseite in zwei sich kreuzenden Aufschlägen und zeigte auf dem Rücken bunte Verzierungen, etwa wie man in der Bretagne gelegentlich keltische Westen findet. Der Hemdkragen hatte einen rundlichen Ausschnitt. Das gelbe Beinkleid war unter dem Knie durch ein Band mit Schnalle gehalten. Auf seinem Kopfe saß ein breitkrämpiger Hut mit schwarzer Schnur und rother Einfassung. Die Unterschenkel umschlossen grobe Stoffgamaschen oder dicksohlige Stiefel mit niedrigen Absätzen, in denen das Fußgelenk wie bei den Stiefeln der Strandsischer unter tiefen Falten fast verschwand.

Seinem Berufe nach war Joël eigentlich Bergführer im Gerichtsbezirk von Telemarken und bis weit nach den Gebirgsstöcken von Hardanger hinein Stets bereit, mit aufzubrechen und niemals zu ermüden, verdiente er wirklich mit jenem Rollon dem Läufer, einem sagenberühmten norwegischen Helden, verglichen zu werden. Zuweilen begleitete er englische Sportsleute, welche gern hierher kommen, um den »Riper« zu schießen, jenen fetteren Piarmigan, als den der Hebriden, und den »Jerper«, ein höchst wohlschmeckendes Rebhuhn, das weit zarter ist, als das schottische. Mit Einbruch des Winters lockte sie dagegen die Jagd auf Wölfe hierher, wenn diese, von Hunger getrieben, sich während der schlechten Jahreszeit über die gefrorenen Seen hinabwagen. Im Sommer wieder die Jagd auf Bären, wenn diese Thiere, von ihren Jungen gefolgt, frisches Grasfutter zu suchen kommen, denen man meist auf Plateaus von tausend bis tausendzweihundert Fuß Höhe nachspüren muß. Mehr als einmal verdankte Joël sein Leben nur der ungeheuren Körperkraft, die es ihm ermöglichte, den Umarmungen der gewaltigen Thiere zu widerstehen, und seiner unerschütterlichen Kaltblütigkeit, die ihm gestattete, sich denselben zu entwinden.


Joël verdankte sein Leben nur der ungeheuren Körperkraft. (S. 23.)
Joël verdankte sein Leben nur der ungeheuren Körperkraft. (S. 23.)

Hatte er aber keine Vergnügungsreisenden durch das Vestfjorddal zu führen und keine Jäger nach den[23] verlassenen Fjelds, so beschäftigte sich Joël mit dem kleinen, etwas entfernt in den Bergen gelegenen Saeter. Hier wohnte ein im Sold der Frau Hansen stehender junger Schäfer, dem es oblag, ein halbes Dutzend Kühe und gegen dreißig Stück Schafe zu versorgen, da der Saeter außer Weiden kein Culturland enthielt.

Von Natur war Joël zuvorkommend und dienstwillig und deshalb in allen Gaards von Telemarken bei allen Leuten beliebt. Für drei Wesen aber bewahrte[24] er eine grenzenlose Hingebung, und diese waren neben seiner Mutter Ole und seine Schwester Hulda.

Als Ole Kamp Dal verlassen hatte, um sich zum letzten Male einzuschiffen, beklagte es Joël schmerzlich, seine Schwester nicht gleich ausstatten zu können, um ihr den Verlobten zu erhalten. Wäre er das Leben auf dem Meere gewöhnt gewesen, so hätte er gewiß keinen Augenblick gezögert, an Stelle seines Vetters auf den Fischfang auszuziehen. Zum Anfang der neuen Ehe bedurfte es jedoch einigen Geldes. Da auch Frau Hansen sich nach dieser Seite nicht verpflichtet[25] gehabt hatte, erkannte Joël daraus, daß sie von dem Besitzthum der Familie nichts abzugeben vermöge. Ole hatte also in weite Ferne, nach der anderen Küste des Atlantischen Oceans, ziehen müssen und Joël begleitete ihn auf der Straße nach Bergen bis zur letzten Grenzmarke ihres Heimatthales. Nachdem er ihn da lange umschlossen gehalten, hatte er ihm noch eine gute Fahrt und glückliche Heimkehr gewünscht; dann war er nach Hause zurückgekehrt, um seine Schwester zu trösten, die er nicht nur wie ein Bruder, sondern fast auch wie ein Vater liebte.


Hulda zählte zu jener Zeit achtzehn Jahre. (S. 26.)
Hulda zählte zu jener Zeit achtzehn Jahre. (S. 26.)

Hulda zählte jener Zeit achtzehn Jahre. Sie spielte nicht etwa die »Piga«, wie man die Aufwärterinnen in den norwegischen Gasthäusern nennt, sondern weit mehr das »Fröken«, die Miß der Engländer, das Fräulein der Deutschen, wie ihre Mutter die »Madame« des Hauses war. Welch' reizendes von blondem, fast goldglänzendem Haar umrahmtes Gesicht, das unter dem leichten Leinenhäubchen, das hinten offen war, um die langen, dicken Flechten hinabfallen zu lassen, hervorschaute! Welch' hübsche Taille unter dem rothen, grün eingefaßten, prächtig anliegenden Leibchen, das am Brustlatz ein wenig offen stand und mit bunten Stickereien verziert war, während das schneeweiße Hemd daraus hervorsah, dessen Aermel an den Handgelenken von Bändern zusammengehalten wurden! Dazu nehme man noch den rothen Gürtel mit Silberfiligranschloß, der den grünlichen Rock hielt, über welchen sich noch eine Schürze mit bunten Vierecken breitete; und darunter glänzte der weiße Strumpf hervor, der in dem recht hübschen, mit Fransen versehenen Schuhwerk, wie es in Telemarken üblich ist, verschwand.

Ja, die Verlobte Oles war reizend mit der etwas melancholischen und gleichzeitig lächelnden Physiognomie der Mädchen des Nordens. Wenn man sie sah, dachte man unwillkürlich an jene »blonde Hulda«, deren Namen sie führte und welche die skandinavische Mythologie als glückverheißende Fee um den häuslichen Herd schweben läßt.

Ihre mädchenhafte, bescheidene und kluge Zurückhaltung that doch der liebenswürdigen Gewandtheit, mit der sie die Tagesgäste der Herberge zu Dal empfing, keinen Eintrag, und man kannte sie in der ganzen Touristenwelt. War es nicht eine besondere Anziehung, mit Hulda einen »Shake-Hand« zu wechseln, jenen herzlichen Händedruck, mit dem man hier Jeden und Jede bewillkommt?

Und hatte man dann zu ihr gesagt:[26]

»Ich danke für das Mahl, Tak for mad!...«

Wie lieblich klang es dann, wenn sie mit ihrer frischen, volltönenden Stimme erwiderte:

»Möge es Ihnen wohlbekommen, Wel bekomme!«

Quelle:
Jules Verne: Ein Lotterie-Los. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LI, Wien, Pest, Leipzig 1888, S. 20-27.
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