Dreizehntes Kapitel.
Der Aviso »Essex«.

[157] Gegen vier Uhr des Nachmittags ertönte ein Ruf aus Tony Renaults Munde.

Er lautete aber nicht »Land!«, sondern »Schiff in Sicht!«

Vor Backbord und in der Entfernung von fünf bis sechs Seemeilen stieg im Westen eine Rauchsäule über den Horizont heraus.

Ein offenbar mit großer Geschwindigkeit fahrender Dampfer kam dem »Alert« entgegen. Eine halbe Stunde später war schon sein Rumpf sichtbar und nach einer weiteren halben Stunde lag er nur noch eine Viertelseemeile vom »Alert« entfernt.[157]

Auf dem Vorderkastell stehend, tauschten die Passagiere ihre Bemerkungen über das Vorkommnis aus.

»Das ist ein Schiff von der Flotte, sagte der eine.

– Gewiß, bestätigte ein anderer, vom Top des Großmastes weht ja ein Wimpel.

– Noch mehr; es ist ein Engländer, setzte der erste hinzu.

– Mit dem Namen ›Essex‹«, vervollständigte der zweite dessen Worte.

Mit Hilfe eines Fernglases konnte man wirklich am Heck des Schiffes dessen Namen erkennen, als der Dampfer gerade eine Wendung machte.

»Seht da, rief Tony Renault, ich wette darauf, der will zu uns herankommen.«

Das schien wirklich so, denn der »Essex«, ein Aviso von fünf- bis sechshundert Tonnen, zeigte jetzt auch seine Flagge.

Die Angst, die sich der Schurken dabei bemächtigte, kann man sich wohl ausmalen. Weder Harry Markel noch die Mannschaften konnten die Absicht des Avisos verkennen. Der »Essex« wollte offenbar mit dem »Alert«, dem er sich langsam näherte, in Verbindung treten. Nun war es ja recht leicht möglich, daß schon vor einiger Zeit auf den englischen Antillen eine Depesche eingetroffen, auf die eine oder andere Weise bekannt geworden wäre, was sich in Queenstown vor der Abfahrt des »Alert« zugetragen hatte: dessen Überrumplung durch die Bande Markels sowie die Ermordung des Kapitäns Paxton und seiner Leute. Dann ließ sich aber auch vermuten, daß der »Essex« ausgesendet worden wäre, die Verbrecher wieder einzufangen.

Doch nein, es mußte sich wohl anders verhalten. Wie hätte Harry Markel, der die Passagiere gewiß ebensowenig geschont hätte wie die Leute des Kapitäns Paxton, es wagen können, dennoch nach den Antillen zu segeln? Wie hätte er die Tollkühnheit so weit treiben können, den »Alert« nach seinem Bestimmungsort zu führen, statt zu entfliehen? Einer solchen Unklugheit konnte sich doch niemand versehen.

Harry Markel wartete der Dinge, die da kommen sollten, mit mehr kaltem Blute als John Carpenter und Corty. Wenn der Kommandant des »Essex« mit ihm sprechen wollte, werde er ja sehen, was da herauskam. Der Aviso hatte jetzt übrigens, nur einige Kabellängen seitwärts, gestoppt und dem »Alert« durch ein Signal befohlen, zu brassen. Die Raaen wurden also so eingestellt, daß sich die Wirkung des Windes auf die Segel aufhob und der Dreimaster fast bewegungslos[158] liegen blieb. Auf jeden Fall mußte der »Alert«, da der »Essex« seine Flagge gehißt hatte, auch die seinige zeigen.

Hätte Harry Markel nämlich den Weisungen eines zur Flotte gehörigen Schiffes nicht nachkommen wollen, so wäre er unnachsichtlich dazu gezwungen worden. Der Verfolgung des Avisos, der den Vorteil größerer Schnelligkeit und reichlicherer Machtmittel hatte, hätte der Dreimaster doch nicht entgehen können... einige Geschützkugeln würden ihn schnell zur Ohnmacht verdammt haben.

Harry Markel dachte auch gar nicht an ein Entweichen. Ließ der Kommandant des Avisos ihn auf sein Schiff einladen, so würde er sich dahin begeben.

Patterson, Louis Clodion, Roger Hinsdale und die übrigen interessierte das Erscheinen des »Essex« und dessen Verlangen, sich mit dem Dreimaster in Verbindung zu setzen, natürlich im höchsten Grade.

»Sollte das Kriegsschiff dem ›Alert‹ etwa entgegengeschickt sein, um uns an Bord zu nehmen und noch früher nach einer der Antillen zu befördern?«

Ein solcher Gedanke konnte nur in einem so abenteuerlichen Kopfe wie in dem Roger Hinsdales aufkommen, er wurde auch von keinem anderen geteilt.

Inzwischen war eines der Boote des »Essex« zu Wasser gelassen worden und zwei Offiziere nahmen darin Platz.

Nach wenigen Ruderschlägen lag das Boot an der Seite des Dreimasters.

Die Offiziere bestiegen die Falltreppe am Steuerbord, und der eine fragte:

»Der Kommandant?...

– Hier ist er, antwortete Harry Markel.

– Sie sind der Kapitän Paxton?

– Wie Sie sagen.

– Und das Schiff ist der ›Alert‹, der Queenstown am vergangenen dreißigsten Juni verlassen hat?

– Jawohl, an diesem Tage.

– Sie haben als Passagiere die Preisträger der Antilian School an Bord?

– Da sind sie,« antwortete Harry Markel, nach dem Vorderkastell auf Patterson und dessen Begleiter weisend, denen von dem Gespräch kein Wort entgangen war.

Die Offiziere traten auf die Gruppe zu, wobei ihnen Harry Markel folgte und der, der zuerst das Wort geführt hatte, ein Leutnant der britischen[159] Flotte, sagte nach einer kurzen Begrüßung in dem knappen und kalten, den englischen Offizier kennzeichnenden Tone:


Die Leute stellten sich am Großmast auf. (S. 163.)
Die Leute stellten sich am Großmast auf. (S. 163.)

»Kapitän Paxton, der Kommandant des ›Essex‹ ist erfreut, den ›Alert‹ getroffen zu haben, und wir sind es ebenso, bei Ihnen alles wohlauf zu finden.«

Harry Markel verbeugte sich in der Erwartung, daß der Leutnant ihn nun über den Zweck seines Besuches aufklären werde.

»Haben Sie eine gute Überfahrt gehabt, fragte der Offizier, und ist das Wetter günstig gewesen?


Zuckerfabrik und -Plantage in Manati (Injenio).
Zuckerfabrik und -Plantage in Manati (Injenio).

– Sehr günstig, erwiderte Harry Markel, mit Ausnahme weniger stürmischer Tage, die uns bei den Bermudas außer Kurs brachten.

– Das verursachte Ihnen eine Verzögerung?

– Ja, wir mußten achtundvierzig Stunden lang beilegen.«

Der Leutnant kehrte sich jetzt mehr der Gruppe der Passagiere zu und sprach den Mentor an.

»Herr Patterson... von der Antilian School... nicht wahr? begann er.

– In eigener Person, Herr Leutnant,« bestätigte der Verwalter, indem er sich mit aller Grandezza der ihm eigenen Höflichkeit verbeugte.

Dann fuhr er fort:

»Ich habe die Ehre. Ihnen hier meine jungen Reisebegleiter vorzustellen und bitte Sie, die Versicherung meiner unbegrenzten Hochachtung entgegenzunehmen.

– Unterzeichnet: Horatio Patterson!« murmelte Tony Renault.


Zentral-Zuckerrohrspeicher.
Zentral-Zuckerrohrspeicher.

Darauf wurden freundliche shake hands mit der anglosächsischen Händen eigenen, automatischen Sicherheit gewechselt.

Der Leutnant wendete sich nun wieder Harry Markel zu und verlangte, die Mannschaft zu sehen, was John Carpenter recht verdächtig und beunruhigend vorkam. Warum wollte der Offizier sie denn Revue passieren lassen?...

Auf den Befehl Harry Markels hin ließ er die Leute jedoch nach dem Deck kommen, und diese stellten sich am Großmast auf. So viel Mühe sich die Banditen aber auch gaben, als ehrsame Leute zu erscheinen, mochten die Offiziere doch denken, daß sie kein recht vertrauenswürdiges Aussehen zeigten.

»Sie haben nur neun Matrosen? fragte da der Leutnant.

– Neun Mann, erklärte Harry Markel.

– Uns ist aber mitgeteilt worden, daß die Mannschaft des ›Alert‹ aus zehn Mann bestände, natürlich ohne Sie, Kapitän Paxton.«

Das war eine recht verfängliche Sache, auf die Harry Markel zuerst nicht einging, indem er selbst nun fragte:

»Wollen Sie mir sagen, Herr Leutnant, aus welchem Grunde Sie mich mit Ihrem Besuch hier an Bord beehrt haben?«

Eine Frage hiernach erschien ja ganz natürlich, und der Offizier beantwortete sie also ohne Zögern.

»O, dieser Grund liegt einfach in der Beunruhigung, die auf Barbados wegen des Ausbleibens des ›Alert‹ erweckt wurde. Auf den Antillen wie in[163] Europa sind die betreffenden Familien wegen dieser Verzögerung schon in arger Sorge gewesen. Mrs. Kathlen Seymour hatte sich deshalb an den Gouverneur gewendet, worauf Seine Exzellenz den ›Essex‹ dem ›Alert‹ entgegenschickte. Das ist der einzige Grund unserer Gegenwart hier draußen, und ich wiederhole Ihnen, wir fühlen uns sehr glücklich, daß alle Besorgnisse grundlos gewesen sind.«

Gegenüber diesem Beweise von Interesse und Teilnahme konnte Horatio Patterson unmöglich stumm bleiben. Im Namen der jungen Passagiere und im seinigen sprach er mit großer Würde aller Beteiligten wärmsten Dank aus, ebenso dem Kommandanten des »Essex« und dessen Offizieren, wie der vortrefflichen Mrs. Kathlen Seymour und Seiner Exzellenz dem Generalgouverneur der englischen Antillen.

Harry Markel glaubte jedoch bemerken zu sollen, daß eine Verspätung um achtundvierzig Stunden solche Besorgnisse doch keineswegs zu erwecken brauchte, daß man sogar einen Aviso zur Aufklärung aussendete.

»Die Besorgnisse waren gerechtfertigt infolge eines anderen Umstandes, über den ich Sie noch aufklären werde,« antwortete der Leutnant.

John Carpenter und Corty sahen einander etwas verdutzt an; sie bedauerten wahrscheinlich, daß Harry Markel mehr als nötig gefragt hatte.

»Es war also am Abend des dreißigsten Juni, wo der ›Alert‹ unter Segel gegangen ist?

– Ganz richtig, versicherte Harry Markel, der seine volle Kaltblütigkeit bewahrte. Gegen halb acht Uhr haben wir den Anker aufgewunden. Als wir draußen waren, schlief der Wind gänzlich ein und der ›Alert‹ mußte noch den ganzen nächsten Tag unter dem Lande, dicht bei Roberts-Cove, still liegen bleiben.

– Nun, Kapitän Paxton, nahm der Leutnant wieder das Wort, am nächsten Tage hat man ebenda einen Leichnam gefunden, der von der Strömung an die Küste getragen worden war. Aus den Knöpfen seiner Jacke erkannte man, daß er zu den Matrosen des ›Alert‹ gehört hatte.«

John Carpenter und die anderen durchrieselte bei dieser Mitteilung ein kalter Schauer. Der Tote konnte kein anderer sein, als einer der Unglücklichen, die am Abende vorher hingeschlachtet worden waren, und wahrscheinlich handelte es sich daher um den, den auch die Passagiere nahe dem Ankerplatze bei Roberts-Cove gesehen hatten.[164]

Der Offizier vom »Essex« erklärte weiter, daß die Behörden auf Barbados von diesem Vorfalle telegraphisch in Kenntnis gesetzt worden seien, und daß man sich deshalb auch wegen des längeren Ausbleibens des »Alert« beunruhigt habe. Dann setzte er noch hinzu:

»Sie haben also einen von Ihren Leuten verloren, Herr Kapitän?

– Ja, Herr Leutnant, den Matrosen Bob. Der Mann stürzte schon ins Meer, als wir noch bei der Farmarbucht festlagen, und trotz aller Bemühungen war er nicht mehr zu erspähen und konnte also auch nicht gerettet werden.«

Diese Erklärung erregte keinerlei Verdacht, vorzüglich weil sich daraus gleichzeitig ergab, warum an der Mannschaft des »Alert« ein Matrose fehlte.

Den Passagieren mußte es natürlich seltsam erscheinen, daß sie von dem Unglückssalle gar nichts erfahren hatten: einer der Leute war nach ihrem Eintreffen an Bord ertrunken, und sie, sie wußten gar nichts davon?...

Auf eine Frage, die Horatio Patterson deshalb an Harry Markel richtete, antwortete dieser aber, er habe das Unglück den jungen Preisträgern nur verschwiegen, damit diese ihre Seereise nicht gleich mit einem traurigen Eindruck belastet antreten sollten.

Diese recht annehmbare Antwort schnitt auch jeden weiteren Einwand ab.

Es erregte deshalb nur einige Überraschung, der sich freilich eine gewisse Erregung beimischte, als der Leutnant weiter hinzusetzte:

»Die von Queenstown in Barbados eingetroffene Depesche erwähnte auch, daß der an der Küste gefundene Leichnam – also wahrscheinlich der des Matrosen Bob – eine Wunde mitten in der Brust gehabt habe.

– Eine Wunde?« fuhr Louis Clodion auf, während Patterson dastand wie einer, der von der ganzen Sache nichts begriffe.

Harry Markel wollte und konnte eine Antwort nicht schuldig bleiben.

»Ja, erwiderte er ruhig, Bob war von der Mars des Fockmastes auf das Gangspill gestürzt, woran er sich schwer verletzt haben wird, dann erst prallte er von da ab und hinaus ins Meer. Über Wasser hat er sich deshalb natürlich nicht halten können, und das machte wohl unsere Ausschau nach ihm nutzlos.«

Diese Worte hätten den Unfall ebenso glaubhaft erklärt wie die früheren Antworten, wenn der Leutnant seine Mitteilung nicht noch weiter vervollständigt hätte.[165]

»Die an dem Kadaver klaffende Wunde, sagte er nämlich, rührte aber unmöglich von einem Falle her, sondern von einem Dolchmesser, das ins Herz gedrungen war.«

John Carpenter und seine Kameraden ängstigten sich jetzt natürlich aufs neue, wußten sie doch nicht, wie die Sache noch ausgehen würde. Hatte der Kommandant des »Essex« vielleicht Befehl, den »Alert« aufzubringen und ihn nach Barbados zu führen, wo dann eine weitere Untersuchung stattfand, die für sie doch traurig auslaufen mußte?... Jedenfalls würden sie dabei ja identifiziert und darauf nach England zurückgeschafft werden, wo sie der Bestrafung für ihre Schandtaten gewiß nicht noch einmal entgehen konnten. Jedenfalls war es ihnen aber unmöglich, das Verbrechen zu begehen, das sie für die Zeit geplant hatten, wo der »Alert« die Gewässer Westindiens wieder verlassen haben würde.

Da kam ihnen, als auch Harry Markel für jenen Dolchstich keine Erklärung abgeben konnte, unerwartet der Zufall zu Hilfe.

»Herr mein Gott, hatte Horatio Patterson mit zum Himmel erhobenen Händen gerufen, der Unglückliche wäre einem mörderischen Stahle durch die Hand eines Verbrechers zum Opfer gefallen?

– Die Depesche sagte weiter, fuhr der Leutnant ruhigen Tones fort, daß der Matrose die Küste wohl noch lebend erreicht haben werde. Dort trieb sich aber eine Bande aus dem Gefängnisse in Queenstown entwichener Verbrecher umher, in deren Hände er gefallen und von denen er ermordet worden sein werde.

– Da kann es sich, fiel jetzt Roger Hinsdale ein, doch nur um die Seeräuberrotte von der ›Halifax‹ handeln, von der wir bei unserer Ankunft in Queenstown hörten, daß sie aus dem Kerker ausgebrochen wäre.

– Diese elenden Schurken! rief Tony Renault. Und man hat sie noch nicht eingefangen, Herr Leutnant?

– Nach den letzten Mitteilungen, antwortete der Offizier, hat man ihre Fährte noch immer nicht entdeckt. Jedenfalls erscheint es unmöglich, daß sie Irland verlassen haben könnten, und früher oder später wird man sie schon verhaften.

– Das wäre sehr wünschenswert, Herr Leutnant,« sagte Harry Markel noch mit demselben ruhigen Tone, den er von Anfang an beibehalten hatte.

»Ein Hauptkerl, unser Kapitän, flüsterte John Carpenter dem Corty zu, als er mit diesem bald darauf auf dem Vorderdeck zusammentraf.[166]

– Ja... mit dem gehen wir bis ans Ende der Welt!« versicherte Corty.

Die Offiziere richteten nun an Patterson und die Preisträger die Grüße aus, die Mrs. Kathlen Seymour ihnen für die Gesellschaft aufgetragen hatte. Die Dame freue sich ungemein darauf, die Reisenden zu empfangen, und es sei ihr lebhafter Wunsch, sie recht lange auf Barbados bei sich zu sehen, wenn sie nicht länger als unbedingt nötig auf den anderen Antillen verweilten, wo die jungen Leute ja auch sehnsüchtig erwartet würden.

Im Namen seiner Kameraden antwortete Roger Hinsdale dem Offizier, den er gleichzeitig bat, der Mrs. Kathlen Seymour ihren innigsten Dank für das zu übermitteln, was sie für die Antilian School getan hätte. Nachher beendigte Horatio Patterson das Gespräch durch einen der wortreichsten und salbungsvollen Speechs, die seine Eigentümlichkeit waren, und schloß diesen mit einem, für einen Mann seines Schlages recht ungewöhnlichen Schnitzer indem er einen Vers des Horaz mit einem solchen Virgils verwechselte.

Die Offiziere wurden endlich, nach kurzer Verabschiedung vom Kapitän und den Passagieren, nach der Falltreppe geleitet und bestiegen sofort ihr Boot. Doch ehe dieses abstieß, rief der Leutnant noch herauf:

»Ich nehme an, Kapitän Paxton, daß der ›Alert‹ morgen vor Sankt-Thomas eintreffen wird, denn bis dahin sind's nur noch fünfzig Meilen.

– Ich hoffe das ebenfalls, antwortete Harry Markel.

– Dann werden wir Sie, nach unserer Ankunft in Barbädos, sofort mittels Depesche anmelden.

– O, ich danke bestens, Herr Leutnant, und ersuche Sie, dem Kommandanten des ›Essex‹ meine Empfehlung zu überbringen.«

Das Boot stieß von der Bordwand ab, und in weniger als einer Minute hatte es die kleine Strecke bis zum Aviso zurückgelegt.

Harry Markel und die Passagiere salutierten noch den Kommandanten, der auf der Brücke seines Schiffes stand, und der Gruß wurde angemessen erwidert.

Inzwischen war das Boot aufgehißt worden, die Dampfpfeife ertönte schrill und der »Essex« setzte sich mit Volldampf in Gang. Er steuerte dabei nach Südwesten und eine Stunde später sah man von ihm nichts mehr als eine lange Rauchsäule, die sich am Horizonte hinzog.

Der »Alert« schlug aber mit so gebraßten Raaen, daß er backstags segeln konnte, und mit Steuerbordhalfen die Richtung nach Sankt-Thomas ein.


Charlotte-Amalia, die Hauptstadt der Insel Sankt-Thomas.
Charlotte-Amalia, die Hauptstadt der Insel Sankt-Thomas.

Harry Markel und seine Spießgesellen konnten also, soweit der Besuch des »Essex« in Frage kam, vollkommen beruhigt sein. Weder in England noch auf den Antillen hegte jemand den Verdacht, daß sie hätten auf einem Schiffe entfliehen können, und obendrein, daß dieses Schiff gerade der »Alert« wäre. Es schien also, als sollte ihnen das Glück bis zum Ende hold bleiben. Sie konnten kühn den Archipel anlaufen, würden überall mit Ehren empfangen werden, dann von Insel zu Insel segeln, ohne Angst erkannt zu[167] werden, und endlich würden sie die Fahrt mit einem Aufenthalt auf Barbados abschließen; dann aber... ja, dann aber nicht wieder nach Europa zurückkehren. Am Tage nach der Abfahrt sollte der »Alert« schon nicht mehr der »Alert«, Harry Markel nicht länger der Kapitän Paxton sein, und weder der steife Herr Patterson noch seine jungen Reisegenossen würden sich noch an Bord befinden. Das tollkühne Wagnis wäre dann geglückt, und in Irland würde die Polizei vergeblich nach den Seeräubern von der »Halifax« sachen.

Der letzte Teil der Fahrt verlief unter den günstigsten Umständen. Das prächtige Wetter bei beständig wehendem Passat gestattete dem »Alert«, alle seine Segel, sogar die Leesegel zu tragen.


Einfahrt in den Hafen von Sankt-Thomas.
Einfahrt in den Hafen von Sankt-Thomas.

[168] Horatio Patterson war allgemach seefester geworden. Kaum verursachte ihm bisweilen ein stärkeres Stampfen oder Schlingern des Schiffes ein merkbares Unbehagen. Er hatte sogar seinen Platz an der Tafel wieder einnehmen und den Kirschkern entfernen können, den er bisher immer im Munde herumzuwälzen pflegte.

»Sie haben recht, Herr Patterson, äußerte ihm gegenüber Corty wiederholt, bis jetzt gibt es noch kein anderes Mittel gegen die Seekrankheit.

– Das glaub' ich auch, guter Freund, antwortete Patterson, und glücklicherweise bin ich damit durch die Vorsorge meiner Gattin reichlich versehen.«

So ging der Tag zu Ende. Peinigte die jungen Preisträger früher die Ungeduld abzureisen, so fieberte in ihnen jetzt das Verlangen, endlich anzukommen. Schon zu lange hatte es gedauert, bis sie auf die erste Insel der Antillen den Fuß setzen konnten.

Mit der Annäherung an den Archipel wurde das Meer durch zahlreiche Fahrzeuge immer belebter, durch Segel- und Dampfschiffe, die entweder durch die Straße von Florida dem mexikanischen Meerbusen zustrebten, oder durch die, die daraus hervorkamen und nach den Häfen der Alten Welt steuerten.[169]

Welcher Jubel für die jungen Leute, hier die amerikanische, die englische, französische und spanische Flagge – die auf diesem Seewege am häufigsten auftauchen – herzlich zu begrüßen!

Bei Sonnenuntergang lief der »Alert« auf dem siebzehnten Breitengrade, in der Höhe von Sankt-Thomas, wovon er nur noch zwanzig Seemeilen entfernt war. Das war die Sache weniger Stunden.

Nicht ohne Grund wollte sich Harry Markel in der Nacht aber nicht in das Gewirr von Eilanden und Klippen hineinwagen, das sich um die Grenzen des Archipels hinzieht, und John Carpenter mußte auf seinen Befehl die Segelfläche verkleinern. Der Bootsmann ließ also Oberbram- und Bramsegel, auch die Topp- und das Briggsegel einbinden, und der »Alert« behielt nur seine beiden Marssegel, nebst dem Fock- und den Klüversegeln.

Die Nacht verlief übrigens ungestört. Der Wind hatte sich fast ganz gelegt, und am Morgen stieg die Sonne an einem klaren Horizonte heraus.

Gegen neun Uhr ertönte ein Ruf von der Mars des Großmastes.

Tony Renault jubelte mit lauter Stimme:

»Land... Steuerbord voraus... Land!«

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 157-161,163-170.
Lizenz:

Buchempfehlung

Aristophanes

Lysistrate. (Lysistrata)

Lysistrate. (Lysistrata)

Nach zwanzig Jahren Krieg mit Sparta treten die Athenerinnen unter Frührung Lysistrates in den sexuellen Generalstreik, um ihre kriegswütigen Männer endlich zur Räson bringen. Als Lampito die Damen von Sparta zu ebensolcher Verweigerung bringen kann, geht der Plan schließlich auf.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon