XIII.

[390] Besonders bemerkenswerthe Gebäude besitzt Kopenhagen nicht. Die von Christian IX. in Backstein aufgeführte Börse zeigt ein eigenthümliches Gepräge und wird von einem, aus vier verschlungenen, phantastischen Ungeheuern gebildeten Thurm überragt.. Ferner wären zu erwähnen das Schloß Christiansborg, der Sitz des Reichstages; der Palast Amalienborg, im Geschmacke des 18. Jahrhunderts, worin die königliche Familie wohnt; das Nationaltheater an Kongens Nytorv, ein in jeder Hinsicht vortrefflicher Bau, und das Rosenborgschloß, erbaut 1607 in dem Parkgarten gleichen Namens.

Neben der Kirche Unserer lieben Frau, deren Schiff mit dreizehn Marmorbildwerken Thorwaldsen's, Christus und die zwölf Apostel, und der Altarplatz mit dem berühmten »Engel der Taufe« geschmückt ist, nenne ich besonders die Frelser- (Erlöser-) Kirche auf der Insel Amager, an der anderen Seite des Hafens. Das Gebäude selbst hat keinerlei architektonischen Werth; es wird jedoch von einem hohen Glockenthurme überragt, zu dessen Spitze man auf einer, in Schneckenwindungen außen um den Thurm führenden Treppe gelangen kann. Es gehört indeß eine gute Portion kaltes Blut dazu, diese Ersteigung ungestraft aus zuführen. Mein Bruder schildert in seiner »Reise nach dem Mittelpunkt der Erde« eine solche Lection gegen das Schwindligwerden, welche Professor Lidenbrock seinem Neffen Axel auf dieser lustigen Treppe ertheilt.

Als wir, mein Sohn und ich, da hinaufstiegen, war schönes klares Wetter. Weithin erstreckte sich die herrliche Aussicht über den Sund, in dessen ganzer Länge von Norden nach Süden; leider wehte eine ziemlich scharfe Brise aus Osten, welche jede genauere Beobachtung erschwerte. Kaum genügten unsere beiden [390] Hände, um uns an dem eisernen Geländer gegen die Gewalt des Windes aufrecht zu erhalten; an Benutzung der Fernröhre war unter solchen Umständen natürlich gar nicht zu denken. So vermochten wir auch nicht die Flagge eines schnell einherdampfenden Schiffes mit zwei gelblichen Schornsteinen zu erkennen, das auf der Rhede von Kopenhagen ankam und die dänische Flagge auf der Citadelle Frederikshavn mit einundzwanzig Kanonenschüssen begrüßte.

Nach Norden zu erblickt man am Ende des Sundes die kleine Stadt Helsingör. Zwischen diesem und Kopenhagen liegt ein ungeheuerer Wald mit riesigen Bäumen und mit zahlreichen Landsitzen durchsäet. Längs dieses Waldes, dessen vorderer Theil Thiergarten genannt wird und der gewissermaßen eine Vorstadt Kopenhagens bildet, führen zwei herrliche Promenaden, die lange Linie und der große Strandweg, nahe dem Ufer des Meeres hin, wo reiche dänische Familien ihre Sommersitze aufgeschlagen haben. Man gelangt dahin durch viele Dampfer, welche alle Küstenpunkte berühren und an langen Piers anlegen, die vom Ufer weit hinaus in's Wasser gebaut sind. Eine Fahrt an der Küste Seelands hin bis Helsingör gewährt einen so herrlichen Ausflug, wie man ihn kaum irgendwo wiederfinden dürfte. Wir hatten beschlossen, denselben am folgenden Tage auszuführen, und Helsingör nebst dem Schlosse Kronborg zu besuchen.

Dieses Schloß vertheidigte ehemals den Eingang zum Sunde, und hierher hatte Shakespeare die große Scene in seinem Hamlet verlegt.

Trotz der wahrhaft entzückenden Aussicht vom Thurme der Frelserkirche mußten wir des scharfen Windes wegen doch an die Rückkehr denken. Manchmal schien wirklich der ganze Thurm unter den heulenden Stößen zu erzittern.

Mein Sohn begann allmählich ernstlich darunter zu leiden, denn man wird leicht glauben, daß diese Empfindung eines unsicheren Standpunktes in einer Höhe von fast hundert Metern über der Erde peinlich genug ist. Er wird zusehends gelb und grün, als hätte ihn die Seekrankheit befallen, sein Blick wird unsicher... es war höchste Zeit, hinabzusteigen.

Wir begannen also die Niederfahrt. So sehr ich es gewöhnt bin, auf schwindligen Bergpfaden herabzuklettern, muß ich doch gestehen, daß diese korkzieherförmige Treppe auch mir eine peinliche Empfindung erregte. Ohne gerade so grün zu werden wie mein Sohn, erbleichte ich doch ebenfalls, und es hätte vielleicht nicht mehr langer Zeit bedurft, um mich in denselben hilflosen Zustand zu versetzen wie ihn.


 (Frelserkirche.) Das beste war also zu verhandeln. (S. 394.)
(Frelserkirche.) Das beste war also zu verhandeln. (S. 394.)


[391] Schon waren wir ein Dutzend Meter hinabgestiegen, als uns plötzlich ein unerwartetes Hinderniß entgegenstand.

Eine starke Dame von einigen fünfzig Jahren, mit gewaltigem rosafarbenen Hute auf dem Kopfe und umspannt von einem engen apfelgrünen Kleide, sperrte den schon für eine Person etwas schmalen Weg.

Der würdigen Dame folgten nicht mehr als elf leibliche Kinder. Ja, ich wiederhole es, elf ihrer Kinder, denn wer kann wissen, ob sie deren nicht noch mehr besitzt.

[392] Die von ihr angeführte Karawane schloß fünf bis sechs Meter weiter unten ein sehr dicker Herr, ohne Zweifel der Gatte und Vater seiner Vorgänger, der sich schwitzend und keuchend den steilen Weg hinaufarbeitete.

Was war zu thun? Der Fall schien kritisch. Wieder zurückzukehren war ich kaum im Stande. Es blieb uns nichts übrig, als vorwärts zu dringen, aber dann mußten wir die ganze Menschenschlange wieder hinabdrängen, denn hier konnte Niemand an einem Anderen vorüberkommen. Die Sache wurde unangenehm. Die Mutter schleuderte mir wüthende Blicke zu und schien sich schon [393] zu einem Kampfe vorzubereiten. Ihr Mann, der zu weit zurück war, um die Ursache der Störung erkennen zu können, wetterte aus den unteren Regionen herauf und mochte nicht bei bester Laune sein.


Schloß Kronborg. (S. 395.)
Schloß Kronborg. (S. 395.)

Das beste war also, mit den Neuangekommenen zu verhandeln und sie zum Umkehren zu bestimmen.

»Wir können nicht zurück, Madame, es ist absolut unmöglich.

– Aber, mein Herr, antwortete sie in fremdländisch betontem Französisch, wir sind unzweifelhaft berechtigt...

– Ganz sicher... Doch, Sie wissen, es giebt Fälle, wo Gewalt vor Recht geht, oder vielmehr wo die Noth kein Gebot kennt, und wir – wir sind gezwungen, bald hinunter zu gelangen!«

Bei diesen Worten wies ich auf das leichenähnliche Gesicht meines Sohnes.

Das wirkte; die Karawane wich ohne Widerrede über Hals und Kopf zurück. Binnen zwanzig Secunden war der Weg frei, der Feind verschwunden und wir stiegen ruhig die zwanzig Meter hinunter, die uns noch von der inneren Treppe der Frelserkirche trennten.

Quelle:
Paul Verne: Von Rotterdam nach Kopenhagen an Bord der Dampfyacht »Saint Michel«. In: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX– XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 353–404, S. 390-394.
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