Ihrer schönheit übernatürliche würkung

[297] Ich sah, als ihr gesicht, der morgenrötin gleich,

als ihre zwillingbrust, so weiß als schnee zu sehen,

und ihren glatten hals vil tausend ringlein reich

von ihrem krausen gold umgeben, sie aufstehen.

Aufstehen sah ich sie, so kunstlos als liebreich,

mit solcher schönheit schatz ohn müh, ohn sorg versehen,

daß sie so schön, so früh in der lieb königreich

kont andren um mittag gezieret weit vorgehen.

Alsbald ich sie ersah, »O wunder!« schrie ich bald:

»was kan von diser brunst und disem band mich freien?

wan götlich sie an macht und götlich an gestalt!

Und wan, als sie mir wolt ihr angesicht verleihen,

je bloser ihre brust, je stärker ihr gewalt,

je freier ihre haar, je mehr sie mich entfreien.«

Quelle:
Georg Rodolf Weckherlin: Gedichte, Leipzig 1873, S. 297-298.
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