Klagelied eines Irländers

[212] Nach Mrs. Blackwood


Nun sitz ich auf der Bank, Mary,

Auf der wir saßen traut

An dem schönen Morgen im Monat Mai,

Als einst du meine Braut.

Es sproßte frisch und grün das Korn,

Und die Lerche sang so weit;

Dein Mund war rosarot, Mary,

Dein Auge voll Lieblichkeit.


Die Bank ist ganz wie sonst, Mary,

Schön ist des Morgens Glühn.

Wie damals steigt die Lerche auf,

Und das Korn ist wieder grün;

Doch fühl ich nicht den Druck der Hand,

Nicht deines Atems Hauch,

Nicht tönt mir deine Stimme mehr,

So oft ich horche auch.


Zur kleinen Kirche will ich gehn,

Den Turm seh ich von hier;

In jener Kirche wurd ich einst,

Mary, getraut mit dir.

Doch übern Kirchhof müßt ich ja –

Möcht stören deine Rast,

Lieb Mary, die du tief im Grab

Dein Kind am Busen hast.
[212]

Verlassen bin ich – neue Freunde,

Der Arme findet sie so schwer;

Doch oh, die wen'gen, die er findet,

Er liebt sie desto mehr!

Und du warst ja mein Alles, Mary,

Mein Stolz und meine Lust,

Und Alles, ach, verlor ich, Mary,

Als sterben du gemußt.


Mit deinem treuen, guten Herzen,

Wie hofftest du so lang,

Als mit dem alten Gottvertrauen

Mein Arm ermattet sank!

Trost sprachst du mir in meine Seele

Und sahst mich bittend an –

Und Dank sei, Mary, dir für Alles,

Was du mir Liebes getan!


Dank dir für dein geduldig Lächeln,

Als du, vom Hunger geplagt,

Deine Qual verbargst um meinetwillen

Und nicht ein Wort gesagt!

Und Dank dir für dein letztes Grüßen,

Als ach, dein Herze brach,

Und oh, es freut mich, daß du weilest,

Wo nichts nun kränken dich mag.
[213]

Ade! Von dannen muß ich ziehen,

Muß lassen der Heimat Strand;

Doch werd ich auch dein gedenken, Mary,

In dem fernen, neuen Land.

Man sagt, dort gibt es Brot genug,

Und die Sonne geht nimmer zur Ruh –

Doch nimmer vergeß ich, Alt-Irland, dich,

Wär's auch dreimal schöner als du!


In jenen alten, großen Wäldern

Will ich sitzen, ein einsamer Mann;

Und zurück nach dem Ort, wo Mary ruht,

Wird reisen mein Herze dann,

Bis ich meine, ich sähe die kleine Bank,

Wo zusammen wir saßen traut

An dem schönen Morgen im Monat Mai,

Als einst du meine Braut.
[214]

Quelle:
Georg Weerth: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band 1, Berlin 1956/57, S. 212-215.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon