Zweyte Scene.

[301] LADY JOHANNA welche ihre Mutter noch nicht gewahr wird.

Der Tag bricht an, die Stunde nähert sich!

Zum letzten Mahl, o Sonne, sieht mein Auge

Dein süsses Licht! Bald wird mein Ohr die Stimme

Der Freundschaft nicht mehr hören, bald mein Mund

Zum letzten Mahl zu Segnungen sich öffnen! –

Und ist es denn gewiss? und werd' ich heute,

Von diesem Leib enthüllt, das wahre Leben

Der reinen Geister leben? Bin ich wirklich

Der Seligkeit so nah? – O meine Feinde!

Ihr liebet mich, da ihr mich hassen wollet!

Ihr wollt mich strafen, und ihr macht mich glücklich!

Ihr brecht den Kerker ab, worin

Mein königlicher Geist vielleicht noch lange

Nach seiner angebornen Freyheit

Geschmachet hätt'! – Empfanget meinen Segen

Für eure Wohltat![302]

LADY SUFFOLK. sich nähernd.

Schönste aller Seelen,

Die je die Sterblichkeit umhüllte,

Wie viel verliert mit dir –

LADY JOHANNA.

Was hör ich? Welche Stimme?

O! Meine Mutter!

LADY SUFFOLK.

Theuerste Johanna!

O! Glänzte nicht aus deinem Auge schon

Der Engel, der sich bald enthüllen soll, hervor,

Wie könnt ich diesen Augenblick ertragen!

LADY JOHANNA.

Vortrefflichste der Mütter, möchtest du

In meine Seele blicken können!

Der Tod hat keine Bitterkeit für mich,

Als diese, dass er mich aus deinen Armen reisset.

LADY SUFFOLK.

Warum will mir Maria nicht erlauben,

Mit dir zu sterben? Ach! was zwingt man mich,

Diess ohne dich verhasste Licht noch länger[303]

Zu sehn? – Beweine mich, Johanna, wein'

Um deine Mutter, die ihr zürnend Schicksal

Dich überleben heisst. Was ist für mich das Leben?

Was soll mein Auge sehn? Was soll ich hören?

Du warst das liebste, was mein Auge sah;

Das süsseste, war je mein Ohr entzückte,

War deine Stimme. Jeder neue Anblick

Der blühenden Entfaltung deiner Jugend,

Gab mir die Freuden meiner Jugend wieder!

Ach! Wenn das Grab dich deckt, dann schmachtet nur

Die Hälfte noch von mir. Mit dir stirbt mein Vergnügen,

Mein Stolz, mein Ruhm! Was bleibt mir übrig,

Als jeden Abend, jeden dunkeln Morgen,

Dein Grab mit meinen Thränen zu begiessen!

Und wenn mein Arm den kalten Grund umfassen,

Wo deine Asche ruht –

LADY JOHANNA.

O theure Mutter!

Erweiche nicht mein zärtlich Herz zu sehr!

Erinnre mich an nichts, was meine Lust

Zum Sterben hemmen könnt'! – Ich bin dem Tode[304]

Geheiligt! – Zwinge nicht in dieser Feyerstunde

Noch einen Seufzer, – der mein Herz entweihte,

Aus meiner Brust! –

SIDNEY.

O Himmel! – theurste Lady!

Dein Guilford kommt!


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 4, Leipzig 1798, S. 301-305.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Nachkommenschaften

Nachkommenschaften

Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon