Drittes Buch

[354] Die Schöne lag auf ihrem Ruhebette,

Und hatte (fern, vermutlich, vom Verdacht

Daß sie bei Phanias sich vorzusehen hätte)

Ihr Mädchen fortgeschickt. Es war nach Mitternacht;

Ein leicht Gewölke brach des Mondes Silberschimmer,

Und alles schlief: als plötzlich, wie ihr deucht,

Den Gang herauf zu ihrem kleinen Zimmer

Mit leisem Tritt – ich weiß nicht was sich schleicht.[354]

Sie stutzt. Was kann es sein? Ein Geist, nach seinen Tritten –

Besuch von einem Geist! den wollt ich sehr verbitten,

Denkt sie. Indem eröffnet sich die Tür,

Und eh sie's ausgedacht, steht – Phanias vor ihr.


»Vergib, Musarion, vergib, (so fing der Blöde

Zu stottern an) die Zeit ist unbequem –

Allein« – »Wozu«, fiel ihm die Freundin in die Rede,

»Wozu ein Vorbericht? Wenn war ich eine Spröde?

Ein Freund ist auch zur Unzeit angenehm:

Er hat uns immer was, das uns gefällt, zu sagen.«


»Dein Ton (erwidert er) beweist,

Wie wenig dieser Schein von Güte meinen Klagen

Mitleidiges Gefühl verheißt.

Du siehst mein Innerstes, und kannst mich lächelnd plagen?

Siehst, daß ein Augenblick mir hundert Jahre scheint,

Und findest noch ein grausames Behagen

An meiner Qual? Du treibst mich zum Verzagen,

Kaltsinnige, und nennst mich deinen Freund?

Wie grausam rächst du dich!« –


»Ich?« – fällt sie ein, »mich rächen?

Träumt Phanias? – Er liebte mich vordem;

Er hörte wieder auf! War dieses ein Verbrechen?

War's jenes? Mir, mein Freund, war beides angenehm.

Wir Mädchen sehn doch immer mit Vergnügen

Die Weisheit eines Manns zu unsern Füßen liegen.

Allein, als Freundin säh ich dich

Noch lieber kalt für mich – als lächerlich.«


»Wie du mich martern kannst, Musarion! Viel lieber

Stoß einen Dolch in dieses Herz, das du

Nicht glücklich machen willst!« –

»Nichts tragisches, mein Lieber!

Komm, setze dich gelassen gegen über,

Und sag uns im Vertraun, wie viel gehört dazu,

Damit ich dich so glücklich mache[355]

Als du verlangst?« – »Mich lieben, wie ich dich!« –

»So liebt mich Phanias, der noch so kürzlich mich

Mit Abscheu von sich warf?« – »Ist (ruft er) dies nicht Rache?

Du weißt zu wohl, ich war nicht Ich

In jener unglückselgen Stunde;

Gram und Verzweiflung sprach aus meinem irren Munde;

Ich lästerte die Lieb, und fühlte nie

Mein Herz so voll von ihr. Ich war zu sehr betroffen,

Zu wissen was ich sprach, und hielt für Ironie

Was du mir sagtest. Konnt ich hoffen,

Daß was Athen von mir, mich von Athen verbannt,

Dein Herz allein mir plötzlich zugewandt?

Erwäge dies, und kannst du nicht vergeben

Was ich mir selbst zwar nicht vergeben kann,

So blicke mich noch einmal an,

Und nimm mit diesem Blick mir ein verhaßtes Leben.

Ob ich dich liebe? ach!« –


»Nun, bei Dianen! Freund,

Die Liebe macht bei dir sehr klägliche Gebärden:

Sie spricht so weinerlich, daß mir's unmöglich scheint

In diesen Ton jemals gestimmt zu werden.

Die hohe Schwärmerei taugt meiner Seele nicht,

So wenig als Theophrons Augenweide:

Mein Element ist heitre sanfte Freude,

Und alles zeigt sich mir in rosenfarbnem Licht.

Ich liebe dich mit diesem sanften Triebe,

Der, Zephyrn gleich, das Herz in leichte Wellen setzt,

Nie Stürm erregt, nie peinigt, stets ergetzt:

Wie ich die Grazien, wie ich die Musen liebe,

So lieb ich dich. Wenn dies dich glücklich machen kann,

So fängt dein Glück mit diesem Morgen an,

Und wird sich nur mit meinem Leben enden.«


Welch einen Strahl von unverhofftem Licht

Läßt dieses Wort in seine Seele fallen!

Er glaubte seinem Ohr den süßen Wechsel nicht;

Allein, er sieht das Glück, das ihm ihr Mund verspricht,[356]

In ihren schönen Augen wallen.

Vor Wonne sprachlos sinkt sein Mund auf ihre Hand;

Wie küßt er sie!

Sein inniges Entzücken

Entwaffnet ihren Widerstand;

Sie gönnet ihm und sich die Lust ihn zu beglücken,

Die Lust die so viel Reiz für schöne Seelen hat;

Selbst da er sich vergißt, bestraft sie ihn so matt,

Daß er es wagt, den Mund an ihre Brust zu drücken.


Die Nacht, die Einsamkeit, der Mondschein, die Magie

Verliebter Schwärmerei, ihr eignes Herz, dem sie

Nur lässig widersteht, wie vieles kommt zusammen,

Das leichte Blut der Schönen zu entflammen!

Allein Musarion war ihrer selbst gewiß:

Und als er sich durch das was sie erlaubte,

Nach Art der Liebenden, zu mehr berechtigt glaubte,

Wie stutzt' er, da sie sich aus seinen Armen riß!


Daß eine Phyllis sich erkläret

Sie wolle nicht, daß sie mit – leiser Stimme schreit,

Und wenn nichts helfen will, euch – lächelnd dräut,

Und sich, so lang es hilft, mit stumpfen Nägeln wehret,1

Ist nichts befremdliches. Ein Satyr kaum verzeiht

Den Nymphen, die er hascht, zu viele Willigkeit.

Sie sträuben sich: gut, dies ist in der Regel;

Und so verstand es auch der schlaue Phanias.

Er irrte sich, es war nicht das!

Sie scherzte nicht, und wies ihm keine Nägel.


Nach mehr als Einem fehl geschlagenen Versuch

Fängt unser Held sehr kläglich an zu krähen.

Und in der Tat, wer hätte sich's versehen?

Man treibt in einem Ritterbuch

Die Tugend kaum so weit! – Doch will er nicht gestehen,

Daß dies Betragen Tugend sei:

Er nennt es Eigensinn und Grillenfängerei;

Er schilt sie spröd, unzärtlich, unempfindlich.[357]

Die Schöne, die gesteht daß sie uns günstig sei,

Macht, seiner Meinung nach, sich zum Beweis verbindlich.


»Und ich, mein Herr, (versetzt sie) die so viel

Beweisen soll, bin ich, nach eurer Sittenlehre,

Nicht auch befugt daß ich Beweis begehre?

Und wie, wenn eure Glut ein bloßes Sinnenspiel,

Ein flüchtiger Geschmack, ein kleines Fieber wäre?

Wenn Phanias mich liebt, so räumt er, hoff ich, ein,

Daß ich, eh ich mich selbst verschenke,

Auf meine Sicherheit vorher ein wenig denke.

Bei Leuten von so warmem Blut

Ist diese Vorsicht wohl nicht allzu weit getrieben.

Verzeihe, wenn sie dir ein wenig Unrecht tut;

Allein du selber willst daß wir im Ernst uns lieben?

Sonst tändelt ich mit Amors Pfeilen nur:

Jetzt, da er mich erhascht, ist's nicht mehr Zeit zum Lachen;

Es ist darum zu tun daß wir uns glücklich machen,

Und nur vereinigt kann dies Weisheit und Natur.«


Unwiderstehlich, sagt man, sei

Der Weisheit Reiz aus einem schönen Munde.

Wir geben's zu, so fern euch nicht dabei

Aus einem Nachtgewand mit nelkenfarbnem Grunde

Ein Busen reizt, der, jugendlich gebläht,

Die Augen blendt und niemals stille steht;

Ein Busen, den die Göttin von Cythere,

Wenn eine Göttin nicht zum Neid zu vornehm wäre,

Beneiden könnt. In diesem Falle fand

Sich, leider! unser Held, von zwei verschiednen Kräften

Gezogen. Mußt er auch so starr und unverwandt

Auf die Gefahr ein lüstern Auge heften?

Natürlich muß der stärkre Sinn

Des schwächern Eindruck bald verdringen;

Und was die Freundin spricht, ihn zu sich selbst zu bringen,

Schwebt ungefühlt an seinen Ohren hin.

Was Amor nur vermag um Spröde zu bezwingen,

Was, wie man sagt, schon Drachen zahm gemacht,[358]

Die Künste, die Ovid in ein System gebracht,

Die feinsten Wendungen, die unsichtbarsten Schlingen

Versucht er gegen sie, und keine will gelingen.


»Ergib dich (spricht zuletzt die schöne Siegerin)

Mit guter Art! Du siehst, wie nachsichtsvoll ich bin

So vielen Übermut zu tragen:

Mehr Eigensinn, erlaube mir's zu sagen,

Beleidigt meine Zärtlichkeit,

Und dient zu nichts, als deine Prüfungszeit

Mehr, als ich selbst vielleicht es wünsche, zu verlängern.

Genug von diesem! Schwatzen wir,

Wenn dir's gefällt, von unsern Grillenfängern.

Ich weiß nicht wie der Einfall mir

Zu Kopfe steigt – allein, ich wollte schwören,

Daß diesen Augenblick – was meinst du, Phanias? –

Mein Mädchen – rate doch! – und dein Pythagoras –«


»Wie? etwa gar die Sphären singen hören?

(Versetzt mit Lachen Phanias)

Das hieße mir ein Abenteuer!

Und doch, wer weiß? Ich merkte selbst so was:

Es wallte, deuchte mich, ein ziemlich irdisch Feuer

In seinem Aug, als Chloens lose Hand

Den Blumenkranz um seine Stirne wand.

Wie viel, Musarion, hab ich dir nicht zu danken!

Was für ein Tor ich war, Gesellen dieser Art,

An denen nichts als Mantel, Stab und Bart

Sokratisch ist, (wie haß ich den Gedanken!)

Ein Paar, das nur in einem Possenspiel

Bei rohen Satyrn und Bacchanten

Zu glänzen würdig ist, für Weise, für Verwandten

Der Götter anzusehn!« –


»Du tust dir selbst zu viel,

(Fällt ihm die Freundin ein) und, wie mich deucht, auch ihnen.

Kein Übermaß, mein Freund, ich bitte sehr!

Du schätztest sie vordem vermutlich mehr,

Jetzt weniger, als sie vielleicht verdienen.«
[359]

»Was hör ich! (ruft er) spricht Musarion für sie?

Du scherzest! Hättst du auch (was du gewißlich nie

Getan hast) dies Gezücht so hoch als ich gehalten,

So müßte dir, nach dem was wir gesehn,

Der günstge Wahn so gut als mir vergehn.

Wie? dieser Stoiker, der nur die Tugend schön

Und gut erkennt, entlarvt in einen alten

Bezechten Faun! – Theophron, der vom Glück

Der Geister singt, indes sein unbescheidner Blick

In Chloens Busen wühlt – Was braucht es mehr Beweise?« –


»Daß sie sehr menschlich sind, (fällt ihm die Freundin ein)

Und in der Tat nicht ganz so weise

Als ihr System, das zeigt der Augenschein. –

Und dennoch ist nichts mächtiger, um Seelen

Zu starken Tugenden zu bilden, unsern Mut

Zu dieser Festigkeit zu stählen,

Die großen Übeln trotzt und große Taten tut,

Als eben dieser Satz, für welchen dein Kleanth

Zum Märtyrer sich trank. Die alten Herakliden,

Die Männer, die ihr Vaterland

Mehr als sich selbst geliebt, die Aristiden,

Die Phocion und die Leonidas,

Ruhmvolle Namen!« – » Gut! (ruft unser Mann) und waren

Sie etwan Stoiker?« – » Sie waren, Phanias,

Noch etwas mehr! Sie haben das erfahren

Was Zeno spekuliert; sie haben es getan!

Warum hat Herkules Altäre?

Den Weg, den Prodikus nicht gehn, nur malen kann,

Den ging der Held« –

»Und wem gebührt davon die Ehre,

Als der Natur, die ihn, und wer ihm gleicht, gebar

Und auferzog, eh eine Stoa war?

Ein Held wird nicht geformt, er wird geboren.«


»Indessen hat, weil ihr der erste Preis gebührt,

Doch Plato nicht sein Recht an Phocion verloren.2

Was die Natur entwirft, wird von der Kunst vollführt.[360]

Die Blume, die im Feld sich unbemerkt verliert,

Erzieht des Gärtners Fleiß zum schönsten Kind der Floren.«


»Gesetzt«, spricht Phanias, »daß dieses richtig sei,

So ist doch was von Zahlen und Ideen

Und Dingen, die kein Aug gehört, kein Ohr gesehen,

Theophron schwatzt, handgreiflich Träumerei?«


»Und mit den nämlichen Ideen

War doch Archytas einst ein wirklich großer Mann!

Auch Seelen dieser Art erzeuget dann und wann

(Zwar sparsam) die Natur. Man wird zum Geisterseher

Geboren, wie zum Feldherrn Xenophon«,3

Wie Zeuxis zum Palett, und Philipps Sohn zum Thron.

Und in der Tat, was hebt die Seele höher,

Was nährt die Tugend mehr? erweitert und verfeint

Des Herzens Triebe so, als glänzende Gedanken

Von unsers Daseins Zweck? – das Weltall ohne Schranken,

Unendlich Raum und Zeit, die Sonne die uns scheint

Ein Funke nur von einer höhern Sonne,

Unsterblich unser Geist, Unsterblichen befreundt,

Und, ahmt er Göttern nach, bestimmt zu Götterwonne!«


»Bei allen Grazien! (ruft lachend Phanias)

Du wirst noch mit der Zeit die Sphären singen hören!

Vor wenig Stunden gab dies Galimathias

Dir Stoff zum Spott« –

»Der Mann, nicht seine Lehren;

Das Wahre nicht, obgleich (nach aller Schwärmer Art)

Sein glühendes Gehirn es mit Schimären paart.

Nur diese trifft der Spott. – Doch stille! wir versteigen

Uns allzu hoch. Ich wollte dir nur zeigen,

Daß dich dein Vorurteil für dieses weise Paar

Nicht schamrot machen soll. Nichts war

Natürlicher in deiner schlimmen Lage.

Der Knospe gleich am kalten Märzentage

Schrumpft, wenn des Glückes Sonnenschein

Sich ihr entzieht, die Seel in sich hinein.[361]

Entfiedert, nackt, von allem ausgeleeret

Was sie für wesentlich zu ihrem Wohlsein hielt,

Was Wunder, wenn sich ihr ein Lehrbegriff empfiehlt,

Der sie die Kunst es zu entbehren lehret?

Der ihr beweist, was nicht zu ihr gehöret,

Was sie verlieren kann, sei keinen Seufzer wert;

Ja, ihren Unmut zu betrügen,

Aus der Entbehrung selbst ein künstliches Vergnügen

Ihr, statt des wahren, schafft? – Was ist so angenehm

Für den gekränkten Stolz, als ein System,

Das uns gewöhnt für Puppenwerk zu achten

Was aufgehört für uns ein Gut zu sein?

Was, meinst du, bildete der Mann im Faß sich ein,

Der, groß genug Monarchen zu verachten,

Von Philipps Sohn nichts bat, als freien Sonnenschein?

Noch mehr willkommen muß, im Falle den wir setzen,

Die Schwärmerei des Platonisten sein,

Der das Geheimnis hat, die Freuden zu ersetzen

Die Zeno nur entbehren lehrt;

Der, statt des tierischen verächtlichen Ergetzen

Der Sinne, uns mit Götterspeise nährt.

Wir sehn mit ihm aus leicht erstiegnen Höhen

Auf diesen Erdenball als einen Punkt herab;

Ein Schlag mit seinem Zauberstab

Heißt Welten um uns her bei Tausenden entstehen;

Sind's gleich nur Welten aus Ideen,

So baut man sie so herrlich als man will;

Und steht einmal das Rad der äußern Sinne still,

Wer sagt uns, daß wir nicht im Traume wirklich sehen?

Ein Traum, der uns zum Gast der Götter macht –«


»Hat seinen Wert – zumal in einer Winternacht«,

Ruft Phanias: »allein auch aus den schönsten Träumen

Ist doch zuletzt Endymion erwacht!

Wozu, Musarion, aus Eigensinn versäumen

Was wachend uns zu Göttern macht?«
[362]

An Antworts Statt reicht sie, zum stillen Pfand

Der Sympathie, ihm ihre schöne Hand.

Er drückt mit schüchternem Entzücken

Sie an sein schwellend Herz, und sucht in ihren Blicken

Ob sie sein Klopfen fühlt. Ein sanftes Wiederdrücken

Beweist es ihm. Mit manchem süßen Ach,

Das ihr im Busen zu ersticken

Unmöglich ist, bekämpft sie allzu schwach

Die Macht des süßesten der Triebe,

Und kämpfend noch bekennt ihr Herz den Sieg der Liebe.


Der schönste Tag folgt dieser schönen Nacht.

Mit jedem neuen fühlt sich unser Paar beglückter

Indem sich jedes selbst im andern glücklich macht.

Durch überstandne Not geschickter

Zum weiseren Gebrauch, zum reizendern Genuß

Des Glückes, das sich ihm so unverhofft versöhnte,

Gleich fern von Dürftigkeit und stolzem Überfluß,

Glückselig, weil er's war, nicht weil die Welt es wähnte,

Bringt Phanias in neidenswerter Ruh

Ein unbeneidet Leben zu;

In Freuden, die der unverfälschte Stempel

Der Unschuld und Natur zu echten Freuden prägt.

Der bürgerliche Sturm, der stets Athen bewegt,

Trifft seine Hütte nicht – den Tempel

Der Grazien, seitdem Musarion sie ziert.

Bescheidne Kunst, durch ihren Witz geleitet,

Gibt der Natur, so weit sein Landgut sich verbreitet,

Den stillen Reiz, der ohne Schimmer rührt.

Ein Garten, den mit Zephyrn und mit Floren

Pomona sich zum Aufenthalt erkoren;

Ein Hain, worin sich Amor gern verliert,

Wo ernstes Denken oft mit leichtem Scherz sich gattet;

Ein kleiner Bach von Ulmen überschattet,

An dem der Mittagsschlaf ihn ungesucht beschleicht;

Im Garten eine Sommerlaube,

Wo, zu der Freundin Kuß, der Saft der Purpurtraube,

Den Thasos schickt, ihm wahrer Nektar deucht;[363]

Ein Nachbar, der Horazens Nachbarn gleicht,4

Gesundes Blut, ein unbewölkt Gehirne,

Ein ruhig Herz und eine heitre Stirne,

Wie vieles macht ihn reich! Denkt noch Musarion

Hinzu, und sagt, was kann zum frohen Leben

Der Götter Gunst ihm mehr und bessers geben?

Die Weisheit nur, den ganzen Wert davon

Zu fühlen, immer ihn zu fühlen,

Und, seines Glückes froh, kein andres zu erzielen!

Auch diese gab sie ihm. Sein Mentor war

Kein Cyniker mit ungekämmtem Haar,

Kein runzligter Kleanth, der, wenn die Flasche blinkt,

Wie Zeno spricht und wie Silenus trinkt:

Die Liebe war's. – Wer lehrt so gut wie sie?

Auch lernt' er gern, und schnell, und sonder Müh,

Die reizende Philosophie,

Die, was Natur und Schicksal uns gewährt,

Vergnügt genießt, und gern den Rest entbehrt;

Die Dinge dieser Welt gern von der schönen Seite

Betrachtet; dem Geschick sich unterwürfig macht,

Nicht wissen will was alles das bedeute,

Was Zeus aus Huld in rätselhafte Nacht

Vor uns verbarg, und auf die guten Leute

Der Unterwelt, so sehr sie Toren sind,

Nie böse wird, nur lächerlich sie findt

Und sich dazu, sie drum nicht minder liebet,

Den Irrenden bedaurt, und nur den Gleisner flieht;

Nicht stets von Tugend spricht, noch, von ihr sprechend, glüht,

Doch, ohne Sold und aus Geschmack, sie übet;

Und, glücklich oder nicht, die Welt

Für kein Elysium, für keine Hölle hält,

Nie so verderbt, als sie der Sittenrichter

Von seinem Thron – im sechsten Stockwerk sieht,

So lustig nie als jugendliche Dichter

Sie malen, wenn ihr Hirn von Wein und Phyllis glüht.


So war, so dacht und lebte Phanias,

Und weil er war – wornach wir andern streben,[364]

So tat er wohl, zu sein, zu denken und zu leben,

So wie er tat. – »Das mag er denn! – Und was

Ward aus dem Manne, der so gerne – Sphären maß?«

Gut, daß ihr fragt, den hätt ich rein vergessen

Er ward in einer einzgen Nacht

Zum γνωϑι σεαυτον in Chloens Arm gebracht;5

Er fand er sei nicht klug, und lernte Bohnen essen.

»Und Herr Kleanth?« – Der kroch, so bald die Mittagssonne

Ihn aufgeweckt, ganz leise auf den Zehn

Aus seinem Stall – vielleicht in eine Tonne;

Kurz, er verschwand, und ward nicht mehr gesehn.
[365]

1

Und sich – mit stumpfen Nägeln wehret – Anspielung auf das Horazische – praelia virginum sectis in juvenes unguibus acrium, in der sechsten Ode des ersten Buchs.

2

Hat Plato nicht sein Recht an Phocion verloren.

Daß dieser unter den Feldherren und Staatsmännern so seltene Mann in seiner ersten Jugend noch den Plato und dessen ersten Nachfolger den Xenokrates gehört, und in ihrer Schule die Maximen eingesogen habe, deren Ausübung ihn sein ganzes Leben durch und bis zu seinem Sokratischen Tode zum tugendhaftesten Manne seiner Zeit machte, bezeugt Plutarch in seiner Lebensbeschreibung.

3

Wie zum Feldherrn Xenophon.

In den vorigen Ausgaben lautete diese Stelle so:

– Man wird zum Geisterseher

Geboren wie zum Held, wie zum Anakreon.

Da das Wort Held kein Indeclinabile ist, und in allen seinen Biegefällen Helden lautet, so mußte es, nicht zum Held, sondern zum Helden, heißen. Da dies aber nicht in den Vers passen wollte, so mußte der Held hier ein Opfer der Sprachrichtigkeit werden, und auch Anakreon, wiewohl unschuldig, konnte seinen Platz nicht behalten. Die neue Lesart, wodurch dem Sprachfehler abgeholfen worden ist, hat außerdem, daß der Gedanke an Wahrheit nichts dadurch verliert, noch den Vorzug, sich mit dem folgenden Verse richtiger zu verbinden. – Daß man von Xenophon vorzüglich sagen könne, er sei zum Feldherrn geboren gewesen, scheint sich hinlänglich dadurch erwiesen zu haben, daß er, als er nach dem Tode des jüngern Cyrus aus einem bloßen Freiwilligen, der die Dienste eines gemeinen Soldaten verrichtete, auf einmal zum Rang eines Feldherrn stieg, auch die Talente eines Feldherren in einem Grade zeigte, der ihm bis auf diesen Tag einen Platz unter den Meistern der Kriegskunst erhalten hat.

4

Ein Nachbar, der Horazens Nachbarn gleicht.

Vermutlich hatte der Dichter die Stelle im 6ten der Horazischen Sermonen (des 2ten Buchs) im Sinne:

Cervius haec inter vicinus garrit aniles

Ex re fabellas, usw.

wo Horaz den alten Nachbar Cervius die berühmte Fabel von der Feldmaus und Stadtmaus in einem so unnachahmlich gutlaunigen und verständigen Ton erzählen läßt, daß man nicht umhin kann, den Dichter eben so sehr wegen seines Nachbars Cervius als wegen seines Sabinums, und des frohen Lebensgenusses, den es ihm gewährte, glücklich zu preisen.

5

Zum γνωϑι σεαυτον, d.i. zur Selbsterkenntnis, welche diese zwei über die Pforte des Tempels zu Delphi geschriebenen Worte empfahlen, als den besten Rat, den der Delphische Gott allen Sterblichen, die sich bei ihm Rates erholten, erteilen konnte.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 4, München 1964 ff., S. 354-366.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Musarion
Musarion oder die Philosophie der Grazien

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon