Der ewige Abc-Schütz

[155] Auf den Rücken geschnallt die nagelneue Mappe,

Fibel und Schiefertafel unter der großen Klappe,

Schwamm und Schieferstift bammelnd an Fädchen

Trollt ich mit kleinen Knaben und Mädchen

Zur Schule nach Abc-Schützen-Art/

Und war doch ein Greis,

Mit Haaren schlohweiß

Und wallendem Bart.


Bald hockt ich auf niedriger Klassenbank

Zwischen Ofen und Klassenschrank;

Der Herr Lehrer saß auf dem Katheder.

Laut und deutlich mußte nun jeder

Aus der Fibel buchstabieren,

Artikulieren, deklamieren.

Vom plärrenden Chorus hallte das Zimmer:

»I, m: Im! Im/ mer.

Ni, m: Nim! Nim/ mer!«

Ich stammelte mit, zerstreut, verlegen,

Wagte kein Auge vom Buch zu bewegen,

Wußte vor Scham mich nicht zu lassen.

Was tat ich nur hier? Ich konnt es nicht fassen.

Das Abc hatt ich längst kapiert,

Hatte Bibliotheken durchstudiert,

War Bücherverfasser, ein Denker, ein Dichter ...

Was tat ich hier zwischen dem Fibelgelichter?[156]

Urplötzlich sah ich zu meinem Schrecken

Des Herren Lehrers hochwürdigen Bauch

Vor meinen Platz sich pflanzen und recken.

»Nun, Brunochen«, sprach er, »sag du's auch!

Ein kleines Blauveilchen ...?«

Ich erhob mich verblüfft, mit Zittern und Zagen;

Was sollt ich sagen? Ein kleines Blauveilchen?

Auf einmal erwachte, Zeile für Zeilchen,

Die Fabel aus meinen Kindertagen,

Und ich konnte mechanisch sagen:

»Ein/ klei/ nes/ Blau/ veil/ chen

Stand eben erst ein Weilchen

Unten im Tal am Bach.«

Da dacht es nach und sprach:

»Daß ich hier unten blüh,

Lohnt sich kaum der Müh;

Muß mich überall bücken

Und drücken;

Bin so ins Niedre gestellt;

Sehe gar nichts von der Welt.

Drum wär es ganz gescheit getan,

Ich stieg ein bißchen höher hinan.«

Und wie gesagt, so getan;

Aus dem Wiesenland

Mit eigener Hand

Zieht es ein Beinchen nach dem andern[157]

Und begibt sich aufs Wandern.

»Drüben der Hügel wär mir schon recht!

Wenn ich den erreichen möcht,

Könnt ich ein Stückchen weiter sehn;

Dahin will ich gehn ...

Dahin will ich gehn ...

Will ich gehn ... '«


»Ja«, sprach der Herr Lehrer, »da hapert's noch sehr.

Gib künftig hübsch acht und lerne mehr!«


Da stand ich alter Esel blamiert/

Und wär am liebsten retiriert

In den Boden hinein ...

Zu meiner Erlösung begann zu schrein

Gellend die Glocke durchs Haus,

Und/ die Schule war aus!


Janhagel sprang mit Jubel und Tanzen

Über die Bänke, griff Mütze und Ranzen

Und lärmte in hundertfüßigem Trab

Holterdipolter die Treppe hinab.

Auf dem Hofe harrten voller Verlangen

Mütter und Tanten ihrer Rangen.
[158]

»Ich bin versetzt!« schrie ein kleiner Junge

Triumphierend aus voller Lunge./

Versetzt? Wie ein Pistolenschuß

Fuhr es mir freudig durch den Kopf:

Heut ist ja Semesterschluß!

Dann bin ich armer alter Tropf

Wohl endlich versetzt zur höheren Klasse!

Daß ich Träumer solche Eröffnung verpasse!


Zu einem Klassengenossen trat ich,

Klopfenden Herzens um Auskunft bat ich.

Der aber höhnte mit Geträtsch:

»Nee/ du bist sitzen geblieben/ ätsch!«


Entsetzen durchschlotterte meine Glieder.

Sitzen geblieben! Schon wieder/ schon wieder!


Da wandte der Bengel sich lachend um:

»Ist der aber dumm!

Ist schon längst in der obersten Klasse

Und will noch versetzt werden!

Wie kannst du versetzt werden?

Es gibt ja keine höhere Klasse!«[159]

Gibt keine höhere Klasse?

Das Unbegreifliche, grob wie ein Sparren,

Ließ alle Gedanken und Sinne erstarren.

Gibt keine!


Auf dem Schulhof stand ich in wirrem Traum,

Schließlich allein mit dem Kästenbaum,

Der im Herbstwind brauste und stöhnte,

Sich dörrender Blätter entkrönte.

Ich blickte hinan, durch Gittergezweige:

»Sonne, wo bist du? Enthülle dich! Zeige

Den Höhenpfad für mein Aufwärtstrachten!

Den Quell, dahin meine Geister schmachten/

Aus dessen überirdischem Rauschen

Sie unerhörte Kunst erlauschen;

Zeige die höhere Klasse mir!«


Ich schaute mich um und/ sah die Mauern/

Und mußte schluchzend zusammenschauern,

Schüttelnd das Haupt/ wie König Lear:

»Es gibt ja keine!«


So bin ich erwacht. Ich zittre und weine.

Es war nur ein Traum!

Doch/ gibt es denn eine?

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 155-160.
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