2127.

[1999] Mel. Nun bitten wir den H. Geist.


1.

Ehrwürdiger ist uns doch keine schul, als seit der lehrer von Gottes stuhl, unsre liebe Mutter, in unsrer mitten, zeugt von der marter, die Gott erlitten für alle welt.

2.

Seitdem blüht zu der fünf wunden ruhm, das blut-und creuz-seminarium, dem Satan zum schrekken und zum entsetzen, Jesu Gemeine zum herz-ergetzen und selger lust.

3.

Dis ist die schule der seligkeit, die sich das Gottes Lamm selbst geweiht, die ehrwürdge stäte, wo Gottes leiden, marter und schmerzlichs von hinnen scheiden in ehren ist.

4.

Fast ist kein plätzgen mehr in der welt, wo man die zünfte der weisen hält, wo man Gottes marter zu ehren dächte; man schämt sich schon, daß mans nennen möchte: daß Gott erbarm!

5.

Daß Gott der schöpfer der creatur aus seinem göttlichen stamme fuhr, und in einer jungfrau ein mensch geworden, ärmer als iemals in unserm orden ein bettler war;

6.

Und daß derselbe, nach dreyssig jahr, nach tausend schmerzen, sich endlich gar an das creuz ergeben, und mit fünf wunden all unser leben und heil erfunden und wiederbracht.

7.

Das ist der ganzen gelehrten zunft, bey der vermeintlichen welt-vernunft, itzo so verächtlich und thöricht worden, daß fast kein einger aus ihrem orden es nennen mag.

8.

Ihr philosophisches herze macht, daß auch ihr kopf mit darüber lacht; und weils demonstriren dazu nichts nutzet,[1999] fluchet das herz, wenn der kopf gestutzet, beym Creuzes-Gott.

9.

Doch das ist nicht ohne ausnahm wahr bey der philosopher kleinen schaar: die machts resonnabel; die theologen, welche die welt bis daher betrogen, sind unverschämt.

10.

Sie mangeln erstlich des wahren lichts, und gläuben selber ins ganze nichts von dem, was sie lehren; es wär denn einer, und der gewitzigten köpfe keiner, der dächt', er gläubt'.

11.

Die andern alle sind zweymal tod zum gefühl seiner fünf wunden roth; droh'n noch über dieses mit fluch und banne, so bald sich einer nur ganz zum manne am creuz bekennt.

12.

So daß es klar in die augen fällt, zwey religionen sind in der welt; denn man ist entweder ein Atheiste oder ein wahrer und selger Christe vom fels gehaun.

13.

Drum sey das Lämmlein gebenedeyt, daß diese lehre zu dieser zeit in dem seminario den sitz genommen, und wir besonders auch mit gekommen zu dieser wahl.

14.

Gott lob! daß weiter bey uns nichts gilt, als dein so seliges leidens-bild, wie du in dem garten voll schweiß gelegen, wie man mit hundert und tausend schlägen dich zugericht.

15.

Wie man dir hände und füsse band, und dich mit nägeln ans creuze spannt; wie man dich mit dornen so schmerzlich crönte; und da dein herz sich nach labung sehnte, gar herbe labt.

16.

Wie sich dein sterbendes haupt geneigt, da deine leiden ihr ziel erreicht; wie man dir die seite da aufgerissen, da man mit unter den wasser-güssen blut quillen sah.

17.

Das macht uns alle so herzlich froh, wallt und schallt im seminario; und wir wissen alle mit herzens-brennen kaum einen andern GOTT mehr zu nennen, als den am Creuz.

18.

Wir sind nun weiser als allzumal unsrer ehmaligen lehrer zahl1, weil wir aus den narben an händ und füssen, und aus der seite auf Gott zu schliessen nun auch gelernt.

19.

Ach Sanct Johannes das liebe herz, der lector von der gedult und schmerz unsers lieben Gottes, der wunden-mahler,[2000] seliger prediger vom bezahler der ganzen welt;

20.

Für dessen heilige gnadenwahl dankt iedes mitglied von unsrer zahl unserm Marter-Lamme, für alle zeilen, die uns das Lämmlein nach allen theilen representir'n.

21.

Er schwimmt nun lange im blutgen meer, und sieht die tausende, die seither sich hinein gewaget, selig versinken, und in dem abgrund des bluts ertrinken mit leib und seel.

22.

Nim uns, Lamm! mit dem Johannes-herz, nach manchem mit uns gehabten schmerz, auf dein liebes herze, und auf den rükken, wo man mit geisseln, und ruth und strikken die fürchen zog.

Fußnoten

1 Ps. 119.


Quelle:
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften, Band 2, Hildesheim 1964, S. 1999-2001.
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