Erdbebenforschung

[243] Erdbebenforschung. Die Erdbeben bevorzugen besonders die Gegenden, in denen die Erdrinde Spalten besitzt.

Ein geradezu klassisches Beispiel bildet die Insel Sizilien mit dem benachbarten Calabrien und den Liparischen Inseln. Auf der kleinen Karte S. 244 (nach Arrhenius) erkennt man fünf solchen Spalten entsprechende gestrichelte Linien, die sich etwa zwischen den Inseln Stromboli und Lipari schneiden. Ferner steht man eine bogenförmige Zone, die, in der Nähe von Palermo beginnend, sich über die Straße von Messina hinweg tief nach Calabrien hineinzieht. Die dieser Zone entsprechende Spalte war die Ausgangsstelle der schweren Beben von 1783 und 1905. Der Vulkan Aetna liegt genau im Schnittpunkte dieser peripheren und einer radialen Spalte, die vom Zentrum über Messina gerade südwärts zieht. Hier ist die Erdkruste einer Glasscheibe vergleichbar, die in einem Punkte einen Stoß erhalten hat und gesprungen ist.

In neuerer Zeit werden die Erdbeben auf zahlreichen seismischen Stationen automatisch registriert. Eine schwere, als Pendel – neuerdings gewöhnlich als Horizontalpendel – aufgehängte Masse wird durch die Erschütterungen in Schwingungen versetzt, die durch ein Hebelwerk auf einen Schreibstift übertragen werden. An diesem Stift wird durch ein Uhrwerk ein Papierstreifen vorbeigezogen. Solange keine Erschütterung eintritt, zeichnet der Stift eine gerade Linie, die aber in zackige Wellen übergeht, sobald das Instrument durch ein Beben in Schwingungen gerät. Erfolgt in irgendeinem Punkte der Erdrinde ein Stoß, so pflanzt sich die Erschütterung mittels kugelförmiger Wellen nach allen Punkten der Erdoberfläche fort. Die Fortpflanzung erfolgt sowohl durch das Erdinnere hindurch als auch längs eines Großkreises auf der Erdoberfläche. Die durch das Erdinnere gehenden Wellen pflanzen sich in Bahnen fort, deren Gestalt durch die verschiedenen Fortpflanzungsgeschwindigkeiten innerhalb der verschieden[243] dichten und verschieden elastischen Schichten bestimmt ist. Die Bahnen sind im allgemeinen bogenförmig, manchmal aber auch geknickt; sie entsprechen, wie die gebrochenen Lichtstrahlen, der Forderung kleinsten Zeitverbrauchs und daher auch dem Brechungsgesetze. Knickungen treten bei plötzlichen Aenderungen der Fortpflanzungsgeschwindigkeit auf. Auf diesen Bahnen pflanzen sich nun zweierlei Schwingungen fort – longitudinale, bei denen, wie beiden Schallwellen, jedes Teilchen in der Bewegungsrichtung schwingt, und transversale, bei denen, wie bei den Lichtwellen, die Schwingung der Teilchen rechtwinklig zur Bewegungsrichtung erfolgt. Aus Beben, deren Herde bekannt waren, hat man gefunden, daß die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der longitudinalen Wellen in verschiedenen Tiefen zwischen 7,0 und 13,3, die der transversalen Wellen zwischen 4,0 und 7,3 km in der Sekunde beträgt. Diese beiden Wellenarten erzeugen die »Vorläufer« des Erdbebens. Die auf der Erdoberfläche verlaufenden Erschütterungen haben nur eine Fortpflanzungsgeschwindigkeit von etwa 3,4 km; sie sind es, die das eigentliche Hauptbeben erzeugen. Ihm pflegen noch weitere Erschütterungen voranzugehen, die durch Reflexion der durch das Erdinnere gegangenen Wellen an der inneren Fläche des äußersten Mantels entstehen. – Aus der Zeit, die an einem gewissen Beobachtungsorte zwischen dem Eintreffen der beiden Vorläufer verstreicht, kann man auf die Entfernung des Erdbebenherdes schließen. – Aus dem Verlaufe der Erdbebenwellen folgt, daß das Erdinnere keine homogene Masse, sondern aus verschiedenen Mänteln oder konzentrischen Schalen zusammengesetzt ist; es zeigen sich nämlich Sprünge in der Konstitution. Die Schalen entsprechen wahrscheinlich den verschiedenen, die Erdmasse bildenden Stoffen, von denen wir werden annehmen dürfen, daß die schwersten sich dem Erdmittelpunkte am nächsten befinden. – E. Wiechert vermutet, daß die äußerste Schale, die eigentliche, aus Gesteinen begehende Erdkruste, sich bis in eine Tiefe von etwa 1500 km erstrecke, daß von 1500 bis etwa 2500 km Tiefe ein in der Hauptsache aus Eisen und Nickel bestehender Mantel folge, und daß in noch größerer Tiefe sich der aus den schwersten Metallen bestehende, am wenigsten elastische Kern befinde. Im Jahre 1911 haben L. Geiger und B. Gutenberg gezeigt, daß aus der Kombination der Zoeppritzschen Laufzeitbeobachtungen mit den Geigerschen Beobachtungen der Amplitudenverhältnisse longitudinaler Erdbebenwellen sich eine in drei Stufen erfolgende Geschwindigkeitszunahme ergibt; die zugehörigen drei Unstetigkeitsflächen liegen in 1194 ± 50, 1677 ± 100, 2436 ± 150 km Tiefe. Die mit dem Doppelzeichen versehenen Zahlen geben den wahrscheinlichen Fehler der ermittelten Werte an. – B. Gutenberg hat in einer neuen Arbeit gezeigt, daß in Tiefen von etwa 3000 km die Geschwindigkeit der Erdbebenwellen sehr stark sinkt, von da bis zum Erdmittelpunkte aber wieder langsam steigt, und daß die beiden am schärfsten ausgeprägten Unstetigkeitsflächen in etwa 1200 und 3000 km Tiefe liegen. – R. Spitaler hat in einer der Wiener Akademie der Wissenschaften übergebenen Abhandlung die Erdbeben mit den schon von Bessel vermuteten, aber erst 1888 von Küstner Zweifellos nachgewiesenen Schwankungen der Erdachse in Verbindung gebracht. Nach Spitaler wächst die Zahl der Erdbeben mit der Größe dieser Schwankungen.


Literatur: [1] E. Wiechert, Ueber Erdbebenwellen, I, II; Nachrichten der K. Gesellsch. der Wissensch. zu Göttingen, Mathem.-physikal. Klasse, 1907. – [2] L. Geiger und B. Gutenberg, in der Physikal. Zeitschr., 12. Jahrg., 1911, Nr. 19. – [3] K. Zoeppritz †, L. Geiger und B. Gutenberg, Ueber Erdbebenwellen, III, V; Nachrichten der K. Gesellsch, der Wissensch. zu Göttingen, Mathem.-physikal. Klasse, 1912. – [4] L. Geiger und B. Gutenberg, Ueber Erdbebenwellen, VI; ebend., 1912.

F. Meisel.

Erdbebenforschung
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 9 Stuttgart, Leipzig 1914., S. 243-244.
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