Horizontalpendel

[137] Horizontalpendel. Dieser Apparat wurde 1830 von Lorenz Hengler [1], [2], später von Zöllner [3] erfunden und besonders von E. v. Rebeur-Paschwitz [4] und Ehlert [7] vervollkommnet und zu wichtigen geophysikalischen Forschungen verwendet.

Bei kleinen Ausschlägen hängt die Schwingungszeit T eines gewöhnlichen Pendels (Vertikalpendels) von dem Trägheitsmoment K, dem Abstand s des Schwerpunktes von der Achse, der Masse M und der Beschleunigung der Schwere g ab nach der Gleichung: T2M g s = π2 K. Das Vertikalpendel schwingt in vertikaler Ebene um eine horizontale Achse. Läßt man aber ein Pendel um eine schiefe Achse schwingen, deren Winkel mit der Lotrichtung die Größe y besitzen mag, so verwandelt sich obige Beziehung in die allgemeinere: T2 M g s sin φ = π2 K. Würde man φ zu Null werden lassen, so würde T unendlich groß, das Pendel hätte keine bestimmte Gleichgewichtslage. Bei kleinen Werten von φ aber besitzt das Pendel, verglichen mit dem Vertikalpendel gleicher Länge, eine große Schwingungszeit um eine mit der Richtung der Schwere um so stärker veränderliche Gleichgewichtsrichtung, je kleiner φ ist. Ein solches Pendel mit kleiner Abweichung der Drehachse von der Vertikalen heißt ein Horizontalpendel. Der Henglersche Apparat war gebildet durch einen horizontalen Stab, der am einen Ende ein Gewicht trug, am andern Ende und in einiger Entfernung von diesem letzteren mittels zweier feineren Fäden mit zwei festen Punkten eines Stativs oder des fest gebauten Gelasses verbunden war, die beinahe senkrecht übereinander lagen. War z.B. der obere feste Punkt in Richtung des Meridians gegen den unteren so verschoben, daß die gerade Verbindungslinie beider mit der Lotlinie den Winkel φ einschloß, so hatte der Stab seine Gleichgewichtslage im Meridian. Wenn nun aber, etwa infolge veränderter Stellung des Mondes oder der Sonne, die Richtung der Schwere gegen Ost oder Welt sich um einen kleinen Winkelbetrag a änderte, so mußte der horizontale Stab sich[137] um den Winkel α/sin φ gegen Ost oder Weit drehen. Ebenso war zu erwarten, daß bei der seitlichen Annäherung einer großen Masse gegen das Pendelgewicht ein Ausschlag des Horizontalpendels die Gravitationskonstante werde berechnen lassen. Auch kleine Schiefstellungen des Bodens, etwa infolge vorüberziehender Erdbebenwellen oder einer etwaigen ostwestlich sich fortpflanzenden Flutbewegung der festen Erdrinde mußten an dem im Meridian aufgestellten Horizontalpendel ihren im Verhältnis sin φ: 1 vergrößerten Ausschlag erzeugen.

Alle diese Erwartungen haben sich bei der exakten Ausführung und Beobachtung des Horizontalpendels durch Rebeur-Paschwitz bestätigt, mit Ausnahme der Verwendbarkeit des Apparats zur Bestimmung der Massenanziehung, für die der Gebrauch von symmetrisch gebauten Apparaten (s. Bifilardynamometer) geeigneter ist, vgl. darüber [4] und [5]; nur sind die Ursachen der Ausschläge nicht allein in wirklichen Veränderungen der Lotrichtung gegen das Niveau des Aufstellungsortes zu suchen, sondern besonders auch in nur scheinbaren, durch die horizontalen Komponenten der Bodenbewegung bei Erdbeben und Erdpulsationen erzeugten Störungen der Lotrichtung [6]. Die Ausschläge des Horizontalpendels sind nicht nur ein zweideutiger Ausdruck entweder der horizontalen Bodenbewegung des Aufstellungsortes oder der Veränderung der Lotrichtung gegenüber dem Boden, sie sind auch wesentlich beeinflußt durch die Eigenschaften des Instruments bezüglich der Periodendauer und der Dämpfung seiner Eigenschwingungen. Der Apparat von Rebeur-Paschwitz besteht ganz aus starren Teilen; er ist um zwei Stahlspitzen eines sehr soliden Stativs drehbar, in die das leicht gearbeitete Pendel mittels Achatschalen eingehängt wird, derart, daß von beiden schiefgestellten Spitzen die obere gegen den Schwerpunkt, die untere vom Schwerpunkt des Pendels weg gerichtet ist. Zwei Spiegel, der eine am Stativ, der andre an der Pendelachse beteiligt, liefern zur photographischen Registrierung ein festes und ein veränderliches Lichtbild, die auf einem durch Uhrwerk vorbeigeführten Papierstreifen die Pendelausschläge verzeichnen. Das Horizontalpendel bildet in verschiedenen Formen seiner Konstruktion [8] die gebräuchlichste Art von Seismometern. Außer den zur photographischen Registrierung eingerichteten Pendeln mit leichter Masse sind, besonders nach dem Vorgang des Japaners Omori, mechanisch registrierende Apparate mit schwerer Pendelmasse im Gebrauch, um deren Vervollkommnung sich die Firma J. & A. Bosch in Straßburg verdient gemacht hat, die auch die photographisch registrierenden Apparate in neuer Vervollkommnung herstellt. Die Figur zeigt das 100-kg-Pendel. An starkem eisernen Stativ ist die mit dem horizontalen Hebel L C verbundene schwere Masse A um die Schneide in L und die Feder L1 leicht drehbar aufgehängt, so daß mittels der Schrauben m, m1, m2, m3 die Aufhängung nach Azimut und Eigenschwingungszeit des Pendels genau reguliert werden kann. Die Bewegung des Erdbodens gegenüber der trägen Masse A wird nach doppelter Hebelübersetzung mittels des Schreibstiftes B durch einen sehr leichten Druck auf. berußtes Papier verzeichnet, das auf die durch Uhrwerk gedrehte Trommel T aufgezogen ist. Die Hörenden Eigenschwingungen des Apparats, die besonders durch Bodenbewegungen von einer mit der des Apparats nahe übereinstimmenden Schwingungsperiode hervorgerufen werden, können durch Dämpfungsvorrichtungen beschränkt werden. Da jedes Horizontalpendel nur die zu seiner vertikalen Hauptebene senkrechten Bodenbewegungen registriert, so pflegt man meist zwei oder drei nach verschiedenen Himmelsrichtungen rotierende Pendel zusammen zu verwenden.


Literatur: [1] Zöllner, Zur Geschichte des Horizontalpendels, Kgl. sächs. Gesellsch. der Wissensch. zu Leipzig, math.-phys. Klasse, November 1872. – [2] Safarik, Beitrag zur Geschichte des Horizontalpendels, Poggend. Ann. 1873, Bd. 150, S. 150. – [3] Zöllner, Ueber einen neuen Apparat zur Messung anziehender und abstoßender Kräfte, Kgl. sächs. Gesellsch. der Wissensch. zu Leipzig, 27. Nov. 1869 und 1. Juli 1871; [1], [2] und [3] auch Zöllner, Wissensch. Abhandl. 4, Leipzig 1880. – [4] Rebeur-Paschwitz, Das Horizontalpendel, Nova acta der Kais. Leop. Carol. Akad., Bd. 60, Nr. 1, oder Seismol. Journal of Japan 1894, Nr. 3; vgl. a. Verhandl. des Naturwissensch. Vereins zu Karlsruhe 1887, Bd. 10. – [5] Ders., Horizontalpendelbeobachtungen auf der Kais. Univ.-Sternwarte zu Straßburg 1892–94; Gerland, Beiträge zur Geophysik, Stuttgart, 1895, Bd. 2, S. 211–535. – [6] Schmidt, A., Die Aberration der Lotlinie, ebend. 1896, Bd. 3, S. 1. – [7] Ehlert, R., Horizontalpendelbeobachtungen, ebend. 131. – [8] Ders., Zusammenstellung und kritische Beurteilung der wichtigsten Seismometer; Gerland, Beiträge zur Geophysik 1897, 111,3, S. 350 ff. Und 481 ff.

Aug. Schmidt.

Horizontalpendel
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 5 Stuttgart, Leipzig 1907., S. 137-138.
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137 | 138
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