Krankenversicherung [1]

[678] Krankenversicherung, ältester Teil der Arbeiterversicherung (Bd. 1, S. 275), durch Gesetz vom 15. Juni 1883 im Deutschen Reiche eingeführt, ist zurzeit durch Gesetze vom 5. Mai 1886, 10. April 1892, 26. Juli 1897, 30. Juni 1900 und 25. Mai 1903 sowie durch Ausführungsbestimmungen geregelt [1] und leistet dem erkrankten Arbeiter und seinen Angehörigen Hilfe durch Krankengeld, Uebernahme der Heilkosten u.s.w. in bestimmtem Maße.

Versicherungspflichtig sind fast alle ständigen gewerblichen Arbeiter und einige andre Arbeitergruppen und ferner diejenigen Betriebsbeamten und die diesen gleichstehenden Personen (Werkmeister, Techniker, Handlungsgehilfen u.s.w.), deren Jahresarbeitsverdienst 2000 ℳ. nicht übersteigt. Eine Ausdehnung des Versicherungszwanges, namentlich auch auf die unständigen [678] Arbeiter, Hausgewerbetreibenden, land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter und Betriebsbeamte kann durch statutarische Bestimmung einer Gemeinde oder eines weiteren Kommunalverbandes, auf gesetzlich nicht ohnehin versicherte in Betrieben oder im Dienste des Reichs oder eines Staates beschäftigte Personen durch Verfügung des Reichskanzlers oder der Landeszentralbehörde bewirkt werden und ist vielfach erfolgt. Eine freiwillige Versicherung ist namentlich den Dienstboten ermöglicht. Im Jahre 1904 waren 8716816 Männer und 2701630 Frauen versichert.

Die Durchführung der Krankenversicherung erfolgt durch auf Selbstverwaltung beruhende Verbände, die als freie Hilfskassen (eingeschriebene, vgl. Gesetz vom 7. April 1876 in der revidierten Fassung vom 1. Juni 1884, und landesrechtliche), denen jeder Versicherungspflichtige wahlweise beitreten kann, oder als Zwangskassen (Orts-, Betriebs- oder Fabrik-, Bau-, Innungs-, Knappschaftskassen) errichtet sind; zur Ergänzung dient die Gemeindekrankenversicherung mit ihren Kassen. Im Jahr 1904 bestanden 22912 Krankenkassen. Ebenso vielgestaltig wie diese Versicherungsträger ist die Organisation der Aufsicht und der Rechtsprechung.

Die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestleistungen umfassen freie ärztliche Behandlung und Arznei und ein Krankengeld vom dritten Tage der Erkrankung ab für jeden weiteren Tag in Höhe der Hälfte des den Beiträgen zugrunde liegenden Tagelohnes; statt dieser Leistungen kann Kur und Verpflegung in einer Heilanstalt gewährt werden, wobei den Angehörigen eine Unterstützung in Höhe der Hälfte des Krankengeldes zu geben ist. Die Zwangskassen haben auch Sterbegeld und Wöchnerinnenunterstützung zu leisten. Mehrleistungen, z.B. freie ärztliche Behandlung und Arznei an Familienangehörige der Kassenmitglieder, Fürsorge für Genesende, höheres Krankengeld, sind zugelassen und werden von vielen Kassen gewährt. Die Verpflichtung der Krankenkassen erstreckt sich mindestens auf 26. Wochen; der Mehrzahl der Kassen ist es jedoch gestattet, die Unterstützungsdauer bis zu einem Jahr zu verlängern. An Krankheitskosten wurden im Jahr 1904 233160688 ℳ. bezahlt, die sonstigen Leistungen betrugen nahezu 4000000 ℳ., entschädigt wurden 4642679 Erkrankungsfälle mit 90051510 Krankheitstagen. Die Aufbringung der Mittel erfolgt durch Beiträge, welche von den freiwillig versicherten Mitgliedern der Zwangskassen und den Mitgliedern der freien Hilfskassen allein, im Falle des Versicherungszwanges dagegen zu zwei Dritteln von den Versicherten und zu einem Drittel von den Arbeitgebern aufzubringen sind; die Höhe der Beiträge ist bei den verschiedenen Kassenarten verschieden, darf aber eine gewisse Grenze nicht überschreiten. Die Gesamteinnahmen betrugen im Jahre 1904 264819404 ℳ., davon Beiträge 251 979997 ℳ.; das Vermögen betrug Ende 1904 212840205 ℳ. Eine segensreiche Wirksamkeit entfalten viele Krankenkassen durch Krankenhauspflege und Genesendenfürsorge (Gesamtaufwendung in den Jahren 1885–1904 1220622719 ℳ.), auch in eignen Kranken-, Erholungs- und Genesungshäusern, dann durch Erholungsstätten und Fürsorge zur Krankheitsverhütung (z.B. Wohnungsuntersuchung bei erkrankten Kassenmitgliedern, Belehrung der Arbeiter über Gesundheitsgefahren).


Literatur: [1] Hoffmann, F., Krankenversicherungsgesetz und Gesetz über die eingeschriebenen Hilfskassen nebst Ausführungsbestimmungen, 3. Aufl., Berlin 1903. – [2] Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, Berlin 1892–1907.

K. Hartmann.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 5 Stuttgart, Leipzig 1907., S. 678-679.
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