Lieben-Röhre

[482] Lieben-Röhre, Relais zur Verstärkung elektrischer Ströme in Form einer elektrischen Entladungsröhre, das hauptsächlich da zur Verwendung kommen kann, wo es gilt, sehr schwach ankommende Zeichen, Stromstöße und Wechselströme wahrnehmbar zu machen. Besondere Vorzüge des Relais sind seine hohe Empfindlichkeit und der fast völlige Mangel an Trägheit, wodurch die getreue Wiedergabe der Form der zu verstärkenden Ströme gewährleistet wird. Gegen mechanische Erschütterungen ist es unempfindlich.

In einer hochevakuierten Glasröhre G (s. die Figur S. 483) sind drei Elektroden, die Kathode K und zwei Anoden A und H angeordnet. Die Kathode K besteht aus einem 1 mm breiten und 0,02 mm starken Platinband, das mit einer dünnen Schicht von Calcium- und Bariumoxyd überzogen und zickzackförmig auf einem Glaskörper aufgewickelt ist. Die Anode A besteht aus einem zur Erzielung einer großen Anodenfläche spiralförmig gewundenen Aluminiumdrähte von 2 mm Durchmesser. Die als Hilfselektrode dienende andre Anode besteht aus einer siebförmig durchlöcherten Aluminiumscheibe und erstreckt sich über den ganzen Querschnitt der Glasröhre. Die Kathode wird durch eine Batterie b von 30 Volt Spannung auf helle Rotglut bis etwa 1000° G. gebracht. Die Einstellung der Elektrodenspannung auf den für den Anodenstrom empfindlichen Wert erfolgt durch die Gleitkontakte des an diese Batterie angeschlossenen Regulierwiderstandes w. Nach einer von Wehnelt gemachten Entdeckung senden Metalloxyde, auf hohe Temperaturen erhitzt, schon bei geringen Spannungen Elektronen in Form von Kathodenstrahlen aus. Die von der erhitzten Metalloxydkathode K in den Raum der Röhre ausstrahlenden Elektronen spalten die in ihr noch enthaltenen Gasmoleküle in positive und negative Ionen, sie[482] ionisieren das Gas und machen damit die Röhre für eine elektrische Strömung leitend. Diese Leitung wird durch Quecksilberdampf unterstützt, den eine geringe am Boden der senkrecht stehenden Röhre liegende Quecksilbermenge infolge der Heizwirkung der Kathode liefert. Die Kathodenstrahlen, die negative Einheitsladungen darstellen, treffen auf ihrer Bahn nach der Anode A zunächst auf die Hilfselektrode H; sie werden von dieser zum Teil absorbiert. Die Hilfselektrode wird dadurch negativ geladen und verzögert nun die weiter ihr zufliegenden Elektronen in ihrer Geschwindigkeit so, daß sie die Gasmoleküle jenseits der Hilfselektrode nicht mehr ionisieren können. Es wird also dadurch das Spannungsgefälle in der Röhre wesentlich erhöht, und zwar um so mehr, je geringer die Oeffnungen in der siebförmigen Hilfselektrode sind. Es bleiben dann für die Ionisierung des Raumes oberhalb der Hilfselektrode nur die wenigen durch ihre Oeffnungen fliegenden Elektronen über. Wird nun der Hilfselektrode von außen ein Potential zugeführt, also z.B. durch den Transformator T, der von der Antenne einer Empfangsstation für drahtlose Telegraphie aufgenommene Hochfrequenzstrom, so wird dementsprechend das Spannungsgefälle in der Röhre verändert. Je größer die Aenderung der Potentialdifferenz zwischen Kathode und Hilfselektrode ist, desto mehr wächst die Geschwindigkeit der von der Kathode gegen die Hilfselektrode fliegenden Elektronen und damit die Zahl der durch die Oeffnungen gehenden freien Ionen. Selbst eine ganz geringe Aenderung des Potentials der Hilfselektrode bringt große Schwankungen des Gasstroms und damit des Verstärkungsstromes aus der an die Anödet und die Kathode K angelegten großen Batterie oder Maschinenstromquelle von 220 Volt Spannung hervor. Diese Stromschwankungen können unmittelbar zur Zeichenaufnahme benutzt werden; gewöhnlich schaltet man aber noch einen Transformator T2 ein, um die empfindlichen Empfangsapparate nicht der hohen Betriebsspannung von 220 Volt auszusetzen. Der Widerstand W soll ein zu starkes Ansteigen des Relaisstromes verhindern; für die verstärkten Wechselströme ist er durch einen Kondensator C überbrückt. Um die Relaiswirkungen zu steigern, können mehrere Lieben-Röhren verwendet werden, indem man den bereits verstärkten Strom des einen Relais auf den Stromkreis der Hilfselektrode des zweiten Relais u.s.w. wirken läßt. Bei Verwendung von vier Röhren kann man auf diese Weise eine Verstärkungszahl von 20000 erzielen. In der drahtlosen Telegraphie und Telephonie kann die Lieben-Röhre unmittelbar als Empfangsapparat oder als Empfangsverstärker benutzt werden; auch für die Drahttelegraphie und Drahttelephonie hat sie als Relais Bedeutung.


Literatur: Elektrotechnische Zeitschr. 1913, S. 1360.

Otto Jentsch.

Lieben-Röhre
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 9 Stuttgart, Leipzig 1914., S. 482-483.
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482 | 483
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