Unfallverhütung [2]

[820] Unfallverhütung. In den letzten Jahren sind die Vorschriften für Unfallverhütung vielfach nach neuen Erfahrungen umgestaltet und ergänzt worden. Zahlreiche Verordnungen wurden von den nach der Reichsgewerbeordnung zuständigen Behörden erlassen.

Sämtliche gewerbliche Berufsgenossenschaften und 43 von den 48 landwirtschaftlichen besitzen jetzt Vorschriften. Für erstere hat der Verband der deutschen Berufsgenossenschaften 1912 neue Normalvorschriften aufgeteilt [9]; für landwirtschaftliche Maschinen hat 1913 die Konferenz der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften neue Normalvorschriften angenommen. Die Zahl der zur Ueberwachung der Betriebe von den gewerblichen Berufsgenossenschaften aufgestellten technischen Aufsichtsbeamten beträgt zurzeit 390, die Zahl der im staatlichen Gewerbeaufsichtsdienst tätigen Beamten 570.

Unfallstatistik. Für die 1907 in der Industrie nach den Unfallversicherungsgesetzen als entschädigungsberechtigt anerkannten Unfälle (81 248) hat das Reichsversicherungsamt eine eingehende Statistik bearbeitet [5]. Weitere statistische Angaben über die jährlich entschädigten Unfälle enthalten die Rechnungsergebnisse der Berufsgenossenschaften u.s.w.

Die Unfallverhütungstechnik ist in den letzten Jahren weitgehend gefördert worden, namentlich durch die allgemein erhobene, auch in vielen Unfallverhütungsvorschriften den Betriebsunternehmern zur Pflicht gemachte Forderung an die Fabrikanten von Betriebseinrichtungen, letztere gleich mit den vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen zu liefern; ferner durch die anwachsende Literatur (vgl. Angaben) und die Bekanntgabe zweckmäßiger Schutzvorrichtungen durch berufsgenossenschaftliche Schriften und Normalblätter, sowie durch Vorführung in der vom Deutschen Reiche eingerichteten Ständigen Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt in Charlottenburg und im Kgl. Bayerischen Arbeitermuseum in München.

Der geschlossene Bau neuerer Kraftmaschinen, besonders der Dampfturbinen, Dynamomaschinen und Elektromotoren ist der Unfallverhütung günstig. Neuere Transmissionsanlagen bieten durch Wegfall gefährlicher vorstehender Teile und Verminderung der Riementriebe größere Sicherheit. Zur Beseitigung der Gefahr des Riemenauflegens von Hand werden besondere Vorrichtungen, z.B. in den Bauarten der Berlin-Anhaltischen Maschinenbau-A.-G. in Berlin und Dessau und von L. Schuler in Göppingen für Stufenscheiben, von Maschinenfabrik J. Krückels in Zeit i. W. und G. Halbach in Schopfheim in Baden verwendet.

Die wachsende Verwendung von Transporteinrichtungen (Hebemaschinen, Aufzüge, Fördermittel für stückige, körnige, mehlige, flüssige Stoffe, Bahnen) hat die Unfallgefahr vermehrt, die aber wirksam durch zahlreiche Sicherheitsvorrichtungen bekämpft wird.

Der Bau der Werkzeugmaschinen wird immer mehr unter Beachtung der Unfallsicherheit durchgeführt, entweder durch Ausrüstung mit zweckmäßigen, dem Bau der Maschine organisch angepaßten, die Arbeit nicht hindernden Sicherheitsvorkehrungen oder durch weitgehende Ausschaltung der Handarbeit (selbsttätige Ein- und Abführung des Materials) oder durch Aenderung in der Gestalt der gefährlichen Teile (z.B. Ersatz der Vierkantwelle durch die runde Sicherheitswelle bei Holzabrichtmaschinen).

Die besonders seit 1906 in der Landwirtschaft durchgeführten Unfallverhütungsmaßnahmen haben weitgehende Ausrüstung der landwirtschaftlichen Maschinen mit Sicherheitsvorkehrungen veranlaßt, die jetzt fast durchgängig mitgeliefert werden.

Die außerordentliche Steigerung in der Verwendung elektrischer Anlagen erforderte Ergänzung der Sicherheitsvorschriften des Verbandes deutscher Elektrotechniker, besonders[820] für Errichtung und Betrieb von Starkstromanlagen, Freileitungen, Bahnen [10], [11]. Weitere Schutzmaßnahmen werden notwendig durch den vermehrten Bau von Ueberlandzentralen und bei der Anwendung des von diesen nach zahlreichen Stellen geleiteten Stromes. Für diese Verwendung in landwirtschaftlichen Betrieben haben die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften Normalunfallverhütungsvorschriften aufgestellt. In der chemischen Industrie sind in der Herstellung und Verwendung giftiger, feuer- und explosionsgefährlicher Spreng-, Schieß- und Zündstoffe neue Gefahren entstanden, die in den letzten Jahren zur Ergänzung der Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie und zum Erlaß mehrerer Polizeiverordnungen, sowie in Befolgung dieser Anforderungen zur weitgehenden unfallsicheren Ausgestaltung der Betriebseinrichtungen und Betriebsführung Anlaß gaben [2].

Gesteigerte Anforderungen an die Sicherheit der Seeschiffahrt erzeugten Ergänzung der behördlichen Verordnungen und der Unfallverhütungsvorschriften der See-Berufsgenossenschaft. In letztere wurden namentlich eingehende Bestimmungen über Freibord (Tiefladelinie) für Dampfer und Segelschiffe aufgenommen. Der Untergang des großen englischen Passagierdampfers »Titanic« im Jahre 1912 hat die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen für den Bau der Schiffe, Ausrüstung mit Rettungsmitteln und drahtloser Telegraphie u.s.w. ergeben. Um solche international zu regeln, fanden 1913–1914 Vereinbarungen der schiffahrttreibenden Nationen statt.

Bauwesen. Zur Erhöhung der Sicherheit bei Ausführung von Bauten haben in letzter Zeit die 12 Baugewerks-Berufsgenossenschaften sich auf Normal-Unfallverhütungsvorschriften geeinigt, die auch die neueren Bauweisen, namentlich den Eisenbetonbau, behandeln.

Bergbau, Steinbrüche, Gräbereien. Die neuerdings vielfach verwendeten sogenannten Sicherheitssprengmittel haben Aenderungen in den Schießvorschriften herbeigeführt (Unfallverhütungsvorschriften der Steinbruchs-Berufsgenossenschaft). Die in Gruben manchmal zu schweren Katastrophen führende Gefahr der Schlagwetter und trockenen Kohlenstaubes erfordert erhöhte Aufmerksamkeit in der Ueberwachung und verstärkte Sicherheitsmaßnahmen, namentlich in der Wetterführung, Befeuchtung trockener Gruben, schlagwettersicherem Bau elektrischer Einrichtungen.

In der Betriebsführung wird in nächster Zeit insofern eine für die Unfallverhütung wichtige Neuerung eintreten, als viele Unternehmer von dem ihnen durch die Reichsversicherungsordnung (s. Unfallversicherung) gegebenen Recht Gebrauch machen, die ihnen für die Unfallverhütung obliegenden Pflichten auf Betriebsangestellte zu übertragen. Hierdurch wird das Interesse der letzteren an Unfallverhütungsmaßnahmen wesentlich gesteigert.

Neuere Literatur: [1] Schlesinger-Hartmann, Unfallverhütung und Betriebssicherheit, Berlin 1910. – [2] Hartmann, Sicherheitseinrichtungen in chemischen Betrieben, Leipzig 1911. – [3] Urban, Unfallverhütung in der Nahrungsmittelindustrie-Berufsgenossenschaft, Berlin 1913. – [4] Bauer-Gary, 25 Jahre Unfallverhütung, Berlin 1910. – [5] Gewerbe-Unfallstatistik für das Jahr 1907. Beihefte zu den Amtlichen Nachrichten des Reichsversicherungsamts, Berlin 1910. – [6] Jahresberichte der gewerblichen Berufsgenossenschaften über Unfallverhütung, Berlin 1907 bis 1913. – [7] Jahresberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten und Bergbehörden des Deutschen Reichs, Berlin. – [8] Eineker, Die Sicherheitsvorschriften für die Bergwerke in Deutschland, Essen 1909. – [9] Normal-Unfallverhütungsvorschriften für gleichartige Gefahren in gewerblichen Betrieben, Berlin 1913. – [10] Weber, Erläuterungen zu den Vorschriften für Errichtung und Betrieb von Starkstromanlagen und Bahnen, Berlin 1912. – [11] Dettmar, Normalien, Vorschriften und Leitsätze des Verbandes deutscher Elektrotechniker, Berlin 1913. – Zeitschriften: Sozialtechnik, Berlin. – Zentralblatt für Gewerbehygiene, Berlin. – Zeitschrift für Gewerbehygiene, Unfallverhütung u.s.w., Wien.

Hartmann.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 9 Stuttgart, Leipzig 1914., S. 820-821.
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