9. Einhorn und Phönix.

[287] Eine polnische Sage1 lautet: Als Noah je ein Paar aller Tiere in die Arche ließ, nahm er auch das Einhorn auf. Doch stieß dieses andere Tiere, und Noah warf es ohne Bedenken ins Wasser. Anfangs schwamm das Einhorn. Aber als das Wasser alle Berge und Bäume überschwemmte, setzte sich eine Menge von Vögeln auf sein Horn und drückte seinen[287] Kopf durch ihr Gewicht nieder, daß es ertrinken mußte. – Ähnlich ist eine kleinrussische Überlieferung.2 Alle Tiere gehorchten Noah, als er sie in die Arche nahm. Nur das Einhorn nicht. Das vertraute seiner Kraft und sagte: Ich will schon schwimmen! 40 Tage und 40 Nächte gab es einen heißen Regen, und. das Wasser kochte wie in einem Topfe, und es wurden alle Höhen überschwemmt, und die Vögel klammerten sich längs der Arche an, und wenn die Arche sich neigte, so versanken alle. Jenes Einhorn aber schwamm und schwamm. Als sich jedoch die Vögel auf sein Horn setzten, ging es unter, und so gibt's denn heutzutage keines mehr. – In einer anderen Version aus der Ukraine3 wird das Einhorn als ein großer Vogel mit einem Horn bezeichnet. Sein Tod erfolgt in derselben Weise durch das Schwergewicht der Vögel.

Anstatt der Menge der Vögel erscheint der Greif in folgender ukrainischer Version4: Noah nahm den Greifen und das Einhorn nicht mit in die Arche, weil sie ihm nicht dienstwillig waren. Der Greif sagte: »Ich werde während der Sündflut in der Luft herumfliegen«; das Einhorn: »Ich habe Kraft genug, in dem Wasser der Sündflut zu schwimmen.« Der Greif flog lange, bis er endlich ermattete. Da erblickte er das schwimmende Einhorn und ließ sich auf ihm nieder, um auszuruhen. Das Einhorn war aber schon geschwächt und konnte die neue Last nicht mehr ertragen. So kamen sie beide um.

Hierzu stellt sich eine jüdische Sage, die ich in den Rabbinischen Mythen, Erzählungen und Lügen (von G.G. Bredow), Hadamar 1802, S. 73 gefunden habe, die sich aber gewiß auch sonst nachweisen läßt. Sie lautet:


Als die Sündflut über die Erde kam, begehrte das Einhorn auch in die Arche Noahs gelassen zu werden. Doch Noah vermochte nicht, es einzunehmen, sondern band seine Nasenlöcher innerhalb des Kastens, sein Horn aber außerhalb desselben an, auf der Seite, wo durch ein Wunderwerk das Wasser der Sündflut kalt war. So weit ist die Übereinstimmung vollständig. Aber das Einhorn geht hier nicht zugrunde, sondern David findet es später in der Wüste.5

[288] Sagenhaft wie das Einhorn6 ist auch der Phönix, und auch diesen weiß die Fabelei mit der Arche zusammenzubringen. In dem Buche Simchas hannefesch, Frankf. 1706, fol. 31 b wird erzählt von einem Vogel, »der lebt ewig, weil er Noah in der Arche nicht gequält hat: er hat kein Essen von ihm verlangt«.7

Fußnoten

1 Zbiór wiad. V, 133, Nr. 19.


2 Etnogr. Zbirnyk XII, Nr. 33. Vgl. Žytie i Słovo II, 182 Nr. 4. Dobrovolskij, Smolenskij Sbornik I, 237 ff, Nr. 18 (am Ende).


3 Revue des trad. pop. II, 405 – Dragomanov, Malorusskija predania S. 95, Nr. 7; vgl. Čubinskij, Trudy I, 211. Etn. Zbirn. XIII, 211. 212. Žytie i Słovo II, 185, Nr. 12. Romanov, Bjelorusski Sbornik IV, 10, Nr. 2. Ebenso bei Kaindl, Die Huzulen S. 96.


4 Nowosielski, Lud ukraiński I, S. 11. Eine unklare Erinnerung an diese Version bei Dragomanov, Mal. pred. S. 94 Nr. 6: Noah nahm von allem Getier ein Paar. Nur den Falken nahm er nicht mit sich. Die Sündflut dauerte zwölf Tage und zwölf Nächte. Die ganze Zeit hindurch flog der Falke außerhalb und blieb am Leben.


5 In diesem Zusammenhange darf auch folgende rabbinische Tradition erwähnt werden: Der Tachasch, dessen Haut sich Moses zum Bau des Stiftzeltes bediente, war ein eigentümliches, bloß zu diesem Behufe erschaffenes und seitdem verschwundenes Tier, welches mit einem Horn auf der Stirn versehen war. Sabbat. 28, 2.


6 Vgl. Ivan Franko, die Einhornsage und ihre bulgarische Variante (Sbornik za narodni umotv. 1896, S. 570–620). Diesen Aufsatz habe ich leider nicht benutzen können.


7 Grünbaum, Jüdisch-deutsche Chrestomathie S. 246; ebd. S. 181 wird aus einer Bibelübersetzung mit Kommentar vom Jahre 1755 mitgeteilt, daß der Vogel Phönix belohnt worden sei, weil er allein nicht von der verbotenen Frucht aß, während die übrigen Vögel sich davon geben ließen. Vgl. Eisenmenger, Entdecktes Judentum (1711), 1, 371. 829. 867 ff. Bereschit Rabba Par. XIX, cap. III, v. 6 (Wünsche S. 83).


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 289.
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