X. Die Vögel am Kreuze.

A. Der Kreuzschnabel.

[218] Der Kreuzschnabel ist ein heiliges Tier. Als Christus am Kreuze hing, versuchte der Kreuzschnabel, die Nägel aus seinen Händen und Füßen zu ziehen und ihn vom Kreuze loszumachen. Dabei hat sich der Schnabel verbogen. (Nach einer Variante kamen zwei Kreuzschnäbel und wollten die Nägel aus den Wanden des Herrn ziehen, einer den linken, der andere den rechten. Sie brachten die Nägel aber nicht heraus und krümmten sich daran die Schnäbel. Deswegen gibt es zweierlei Kreuzschnäbel. Bei den einen stehen die Schnäbel links, bei den andern rechts übereinander.)


  • Literatur: Frischbier, Altpreuß. Monatsschr. 22, S. 280. Zingerle, Sitten, Bräuche u. Meinungen des Tiroler Volkes, 2. Aufl., 1871, S. 83. Zingerle, Sagen aus Tirol, 2. Aufl., S. 178. Vonbun, Beitr. 111. Reusch, Sagen des preuß. Samlandes, 2. Aufl., 1863, S. 39. Pröhle, Harzbilder, 1855, S. 87. Panzer, Beitr. z. deutsch. Mythol. 2 (1855), S. 171, aus der Oberpfalz. Mitt. d. Vereins f. schles. Volksk. 2, 48. Grohmann, Abergl. u. Gebr. Nr. 524 = Krolmus 1, 160 (nordbömisch). Zbiór wiad. do antrop. Kraj. 5, 142, Nr. 37. Poetisch bearbeitet in einem lateinischen Gedicht in Schwenckfelds Theriotropheum Silesiae, Lignicii 1603, p. 253 f. (nach Swainson, Folklore of British Birds p. 68); ferner von Longfellow und Rückert (Abt. Märchen, Jugend- und Heimatgedichte.)

Erweiterung in Steiermark.


Als der Herr Jesus gekreuzigt wurde, trauerten alle Vögel. Auch Gimpel und Krummschnabel legten ihr Leid an den Tag. Sie setzten sich auf das Kreuz und versuchten mit den Schnäbeln die Nägel herauszuziehen. Im Eifer aber bogen die einen sich hierbei den Schnabel krumm, während die Gimpel sich ihn stumpf hieben; zugleich bespritzten sich diese Brust und Leib mit rotem Blut.


  • Literatur: Baumgarten I, S. 91.

B. Das Rotkehlchen.

1. Aus den Niederlanden.


Als Jesus voll Pein und Schmerz am Kreuze hing, sah er nicht weit davon ein kleines Vöglein im Walde. Das trauerte am Rande seines Nestes, und bittere Tränen rannen ihm aus den Augen, als es die scharfen stacheligen Dornen sah, die das Haupt unseres lieben Heilandes durchbohrten. »Niemand,« sagte es zu sich, »niemand kommt, sein Leiden zu lindern. So will ich ihn zu trösten suchen.« Es fliegt zum Kreuze, und es glückt ihm, einen Dorn aus dem Haupte zu lösen. Zur selben Zeit aber springt ein Blutstropfen auf des Vögleins Brust. Und Jesus sprach: »Zum ewigen Gedächtnis, liebes Vöglein, sollst du und deine Nachkommen dies rote Fleckchen auf der Brust behalten, und die Menschen sollen Euch Rotkehlchen nennen«.


  • Literatur: Joos, Vertelsels 1, Nr. 20 (niedl. roodborstje). Bei Mont en Cock, Vlaamsche Vertelsels 57, fällt ein Tropfen vom Blut des sterbenden Christus auf das R., als es mitleidig am Fuß des Kreuzes sitzt; in einer Var. netzt es ein Blutstrahl aus der von der Lanze durchstochenen Seite. – Parallelen zur Hauptform der Sage: Ons Volksleven 9, 176 Sébillot, Folklore 3, 157. = J. Lecœur, Esquisses du Bocage normand 1, 248, A. Orain,[218] Le Folklore de l'Ille-et-Vilaine 2, 69, Dyer, English Folklore S. 66, Swainson, Folklore of british birds p. 15 (= C. Barbé, La Bretagne p. 361, Le Foyer breton 1, 107, Gubernatis, Mythologie des plantes 1, 130), Sloet, de Dieren in het Volksgeloof 219 (erwähnt ein Volkslied aus der Bretagne), Notes and Queries 5. ser. 4, 96 (»Sage der griechischen Kirche«).

2. Wallonische Variante.


Die Stunde des Leidens war da. Von Schmähungen erschöpft, unter seinem Kreuz gebeugt, wankte Jesus langsam zum Calvarienberge. Alle kleinen Vögel nähern sich ihm und stoßen Schmerzensrufe aus. Man kommt an dem Ort der Qual an, die Soldaten reißen dem Opfer die Kleider ab, die Vögel flattern um ihn und suchen die Henker zu verjagen. Diese vertreiben sie mit Steinen. Das Kreuz erhebt sich, die Vögel stoßen Klagerufe aus. Plötzlich durchbohrt eine Eisenspitze Jesu Seite, das Blut fließt, und die Vögel beeilen sich, es zu stillen. Sie kommen nicht dazu, und des Kampfes müde weinen sie.

Jesus ist tot. Aber die Vöglein haben an ihrer Kehle ein blutrotes Zeichen bewahrt, das ihre ganze Schönheit ist.


  • Literatur: Wallonia 2, 207, vgl. Sébillot légendes chrétiennes 20, III und Folklore 3, 157.

3. Aus Malta. Übertragung auf den Dompfaff.


a) Als Christus am Kreuze hing, kam der Dompfaff herbei. Er war in der Ferne gewesen und hatte von der Leidensgeschichte des Herrn nichts erfahren. Jetzt wurde er von unsäglicher Trauer erfüllt. Klagend machte er sich daran, die großen Nägel zu lösen, mußte aber davon ablassen, weil ihm die Kraft fehlte. Aber da er auf jeden Fall seine Liebe bezeigen wollte, stellte er sich auf den Kopf des Heilands und begann an der Dornenkrone zu zerren. Aber auch diese Mühe war vergebens, da das Schnäblein wenig Kraft hatte. So sagte er: »Kann ich nicht helfen, so kann ich doch lindern!« und stemmte sein Oberköpfchen so an den großen Dorn, der dem Heiland die Zunge durchbohrte, daß er sich lockerte und nicht weiter dringen konnte. Davon färbte sich sein weißes Häubchen rot, und er trägt es bis auf den heutigen Tag.


  • Literatur: Mitt. von Frl. B. Ilg.

4. Baskische Parallele.


Einmal fiel ein kleines Stück Strohhalm in das Auge der Jungfrau Maria. Das Rotkehlchen, das auf einem Busch in der Nähe saß, sah ihre Tränen. Was tat es? Es flog sogleich zu seiner Freundin, der Schwalbe, und dann holte es in seinem Schnabel klares Wasser aus einem nahen Fluß, kam mit der Schwalbe zurück und ließ sich auf dem Gesicht der Maria nieder. Während nun das Rotkehlchen vorsichtig das Wasser in das Auge tröpfelte, fuhr die Schwalbe sanft mit ihrem Flügel unter das Augenlid und entfernte den Strohhalm.


  • Literatur: Swainson, Folk Lore of British Birds, p. 15.

C. Elster und Rotkehlchen.

Das Verhalten des Rotkehlchens wird durch den Gegensatz der mitleidlosen Elster in folgenden Varianten hervorgehoben:


1. Aus Frankreich.


Als der Heiland am Kreuze hing, kamen zwei Vögel geflogen und setzten sich darauf. Der eine war eine Elster, die damals der allerschönste Vogel war. Sie hatte eine Federkrone auf dem Kopf und einen Schwanz, der war so schön wie der des Pfauen. Doch war sie leider so böse wie schön und wagte es, Christus[219] am Kreuz zu verspotten. Der andere Vogel war klein und hatte ein graues Federkleid an, er näherte sich schüchtern dem Gekreuzigten und stieß einige klagende Laute aus, mit seinen Flügeln wischte er die Tränen ab, die aus den Augen des Heilands fielen, und mit seinem Schnabel zog er die Dornen heraus, die auf des Heilands Stirn drückten. Da fiel von der Stirn ein Blutstropfen auf die Kehle des Vögleins und färbte für immer sein bescheidenes Federkleid. »Sei gesegnet,« sagte Christus zu ihm, »weil du Mitleid hast mit meinen Schmerzen. Wo du hingehst, wird dich Glück und Freude begleiten. Deine Eier sollen die Farbe des Himmels haben, und du wirst der Gottesvogel, der Über bringer freudiger Nachrichten sein. Du aber«, wandte er sich an die Elster, »wirst ein verwünschter Vogel sein. Die Federkrone und die schönen Farben, mit denen du dich brüstest, und die du doch nicht verdienst, sollst du verlieren. Dein Gefieder soll die Farbe der Trauers und des Unglücks zeigen. Geh, schlechter Vogel, so sehr du dich mühst, so wird doch der Regen vom Himmel stets dein Nest durchnässen.«


  • Literatur: Rolland, Faune pop. 2, 263: Aus der Bretagne (Chasse illustré, 30. Dez. 1872). Vgl. Sébillot, Folklore 3, 172. Orain, Le Folkl. de l'Ille-et-Villaine 2, 68 = Sébillot, Folkl. 3 170.

2. Wallonische und französische Variante.


Während das Rotkehlchen die Wunde an Jesu Seite zu schließen sucht, schwatzte die Elster: rac, rac, rac! denn sie sah vorher, daß es nichts erreichen würde. Seitdem kann sie weiter nichts sagen und ist ein verwünschter Vogel: ihre Begegnung bringt Unglück. Ihr einst glänzender Schmuck ist stumpf und gemein geworden. Es ist ihr verboten, ihr Nest unter dem Laube zu bauen, und da sie die Gabe wohlzutun verloren hat, bleibt sie den vier Winden ausgesetzt und wird beim geringsten Regen vom Himmelswasser durchnäßt.


  • Literatur: Wallonia II, 207. Vgl. Sébillot, petites légendes chrétiennes p. 20 (Basse-Bretagne), Rolland, faune pop. 2, 264 (Saintonge). Orain, Le Folklore de l'Ille-et-Vilaine 2, 69–70. Sébillot, Folklore 3, 158 u. 161.

3. Aus Schottland.


Elster und Rotkehlchen am Kreuz, die Elster unbarmherzig, das Rotkehlchen gut, die Elster war schön und sang schön, Rotkehlchen beides nicht Die Elster wurde häßlich und stimmlos, das Rotkehlchen schön.


  • Literatur: Calcutta Review 1901 July-Oct. p. 72.

4. Aus England.


Nach der Kreuzigung legte die Elster nicht tiefe Trauer an, wie die anderen Vögel es taten. Ihre Strafe dafür ist, daß sie sich neunmal von einem Zweig herabhängen muß, ehe sie ein Ei legen kann.


  • Literatur: Swainson, Folklore of British Birds, p. 77.

D. Die Schwalbe.

1. Wallonische und französische Sage.


Die Schwalbe kam, um die Dornen, die Jesu Stirn zerrissen, nacheinander in ihrem Schnabel wegzutragen. Auch ist sie wohlwollend geblieben. Sie bringt Glück den Einwohnern des Ortes, wo sie sich ihr Nest baut. Im Dorfe würde der, welcher ein Schwalbennest zerstört, als Tempelschänder gelten, und man glaubt, daß er sich unfehlbar die Strafe des Himmels zuziehen würde.


  • Literatur: Wallonia 2, 208 und J.-M. Noguès, Mœurs d'autrefois en Saintonge 66, vgl. Sébillot, Folklore 3, 168. Mont en Cock, Vlaamsche Vertelsels S. 56 Anm. 2.

[220] 2. Bretonisch.


Die Schwalbe zog Dornen aus Christi Krone, die scharfen Dornen verwundeten sie, daher die rote Brust.


  • Literatur: Swainson, Folklore of British Birds, p. 53.

3. Spanisch.


Die Schwalben folgten dem Heiland zugleich mit den heiligen Frauen auf den Calvarienberg und waren ebenso untröstlich wie jene. Dann holten sie die Stacheln aus der Dornenkrone, und als Jesus gestorben war, trauerten sie um ihn und nahmen ein schwarzes Gewand an, das sie nie wieder ablegten.


  • Literatur: Caballero, cuentos, orac., adivinas, Madrid 1877, p. 227.

4. Slowenisch.


Als Christus im Sterben war, saß eine Schwalbe auf seinem Kreuze und tröstete den Heiland durch ihr Gezwitscher; darum dürfen Schwalben sich auch während des Meßopfers auf den Altar setzen, ohne verjagt zu werden; sie sollen nicht getötet, ihre Nester nicht zerstört werden.


  • Literatur: Zeitschr. f. öst. Volksk. 4, 1898, S. 152.

E. Schwalbe, Kiebitz, Storch.

1. Aus Dänemark und Norwegen.


Drei Vögel kamen um die sechste Stunde nach Golgatha. Zuerst der Kiebitz. Er flog ums Kreuz und schrie: »pin ham! pin ham! (peinigt ihn!).« Darum ist er verflucht auf ewig, findet nimmer Ruh noch Rast, und seine Eier werden geraubt. Der Storch jammerte: »styrk ham! styrk ham! (stärkt ihn!).« Darum ist er gesegnet und überall willkommen. Die Schwalbe flehte: »sval ham! sval ham! (labet ihn!).« Darum wird sie von allen geliebt und baut sicher bei Menschen ihr Nest.


  • Literatur: Schrader, Wundergarten der deutschen Sprache S. 122. Vgl. Menzel 2, 418 aus »Gesellschafter« 1832, S. 943; Swainson, British Birds p. 185. Norwegisch: ebenda S. 53, auch Folklore Journal 7, 55.

Die Schwalbe gilt aber in andern Sagen als verflucht.1


2. Niederländische Sage.


Früher konnten die Schwalben schön singen, und sie fanden ihre Nahrung auf der Erde. Als Christus in Todesqual auf dem Calvarienberg war, setzten sich ein paar Schwalben auf die Kreuzesarme und hörten nicht auf zu singen. Die Schmerzen des Sterbenden waren so heftig, daß er den Gesang nicht ertragen konnte, und er sagte zu den Schwalben: Weil ihr mich belästigt mit eurem Singen, sollt ihr von nun an nur zwitschern können, auch wird euch die Erde keine Nahrung mehr geben.

Seitdem können die Schwalben nicht mehr singen und müssen ihre Nahrung im Fluge ergreifen.


  • Literatur: A. de Cock, Revue des trad. pop. 10, 302 = Vlaamsche Vertelsels S. 56; vgl. Joos, Vertelsels 1, Nr. 18 (im -wesentlichen gleichlautend, nur belästigt dort eine Schwalbe den Erlöser durch ihr lustiges Lied).

[221] 3. Aus Tirol.


Als unser Heiland am Kreuze hing, trauerte die ganze Natur. Die Vögel schwiegen, die Bäume zitterten, die Erde tat sich auf, und die Sonne wurde verfinstert. Da hörte Jesus plötzlich ein fröhliches Zwitschern und erblickte ein paar Schwalben auf einem Baume, die miteinander um die Wette sangen. Darob wurde unser Herr höchlich erzürnt, und er sprach den Fluch über die leichtsinnigen Vögel aus.

Deshalb wird man nie mehr eine Schwalbe auf etwas Grünem sitzen sehen, sondern sie hüpfen den ganzen Tag auf kotigen Wegen herum, um ihrer Beute nachzujagen, wobei sie fast immer schnattern.


  • Literatur: Zingerle, Sagen aus Tirol. 2. Aufl., S. 178.

F. Der Sperling.

1. Aus Rumänien.


Früher waren die Sperlinge viel größer, als sie jetzt sind; daß sie so klein geworden sind, kam aber so:

Als Christus am Kreuze hing, flogen Sperlinge um ihn herum und zwitscherten: »Jivivu, jivivu« = »er lebt, er ist lebendig!«

Wie nun die Sperlinge Jesus nicht in Ruhe sterben ließen, verfluchte er sie und sagte: »Möget ihr ganz klein werden, euch nur von Brosamen am Wege nähren, mögen euch die Kinder mit Netzen und die Reisenden mit Peitschen töten!«

Und so ist es von da an geworden.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 8, 602 aus Marianu, Ornitologia pop. rom.

2. Aus Rußland.


a) Als die Juden Christus gekreuzigt hatten und ihn begraben wollten, setzte sich der Spatz aufs Kreuz und rief: »živ! živ!« (er lebt, er lebt!) Infolgedessen wurde die Bestattung verlegt. Da verwirrte Gott dem Spatz zur Strafe die Füße, und seit der Zeit hüpfen die Spatzen.


  • Literatur: W.N. Jastrebow. Mat. po ethn. Nowoross. kraja p. 17. Vgl. Čubinskij, Trudy 1, 59–60.

b) Als Christus am Kreuze hing, rief er: »živ!« (er lebt!) Dafür ist er verurteilt, immer zu hüpfen und zu rufen: »živ! živ!«


  • Literatur: Ethnograf. Sbornik 6 (1864) Abt. 1, S. 124.

G. Sperling und Schwalbe.

1. Sage der Kosaken im Terekgebiet.


[Als Christus gekreuzigt werden sollte, fehlten seinen Henkern die Nägel.] Da rief einer der Pharisäer, der sich mit Zauberei und Hexenkunst beschäftigte, die Vögel an, die ihm gehorsam waren und seinen Ruf verstanden. Und es flog herbei zu ihm eine große Menge Vögel: da waren Adler, Weihen, Falken, der Kuckuck, die Nachtigall und die Schwalbe, Sperlinge und viele andere. Und da sagte der Hexenmeister zu ihnen, sie möchten schneller als der Wind zur Stadt fliegen in die Schmieden, Nägel mit sich nehmen und so rasch wie möglich zurückkehren. Alle Vögel weigerten sich, diesen Befehl zu erfüllen, und flogen nach allen Seiten davon, nur die Sperlinge gehorchten dem Pharisäer, flogen in die Stadt und brachten Nägel mit sich. Da ergriffen die Henker Christum und kreuzigten ihn. Als aber Christus die Augen schloß und seinen Geist aufgab, flogen die Sperlinge[222] zum Pharisäer, dem Zauberer, und zwitscherten ihm ins Ohr: »živ, živ!« (er lebt! er lebt!); dadurch taten sie ihm kund, daß Christus noch nicht gestorben wäre. Der Pharisäer befahl darauf einem Krieger, mit dem Speer die Seite des Herrn zu durchbohren. Alsdann verließ der Pharisäer die Stätte, und mit ihm flogen die Sperlinge davon. Nun kamen die Schwalben, setzten sich auf das Kreuz Christi und sangen klagend, den Tod Christi beweinend. Und später, als Christus in die Höhle zur Beisetzung getragen wurde, flatterten sie hinterher und sangen voller Jammer. Darnach aber, bei der Auferstehung, flogen die Schwalben frohlockend umher und verkündeten als erste der Mutter Gottes vom freudigen Geschehnis. Und bei der Himmelfahrt sagte Christus zu den ihn begleitenden Schwalben: »Dafür, daß ihr mich liebt, werden auch die Menschen euch lieben. Und ich werde euch ein sanftes, stilles Wesen verleihen, und niemand von den Menschen wird euch gram sein.« Die Sperlinge aber verfluchte er: »Über die ganze Erde sollt ihr euch zerstreuen, wie sich auch meine Peiniger auf ihr zerstreuen werden. Und ihr werdet den Menschen Schaden zufügen, die aber werden euch hassen und ausrotten wollen.«


  • Literatur: Sbornik materialov dlja opisanija městnostej i plemen kavkaza 34, 2, 1 f.

2. Russische Variante.


Vor der Kreuzigung Jesu trugen die Schwalben die Nägel fort, die für die Henker hingelegt worden waren, aber die Sperlinge brachten sie wieder. Und als der Herr am Kreuze hing, riefen die Sperlinge immerfort voll böser Absicht: »žif! žif!« das heißt: er lebt, er lebt, um seine Peiniger zu neuen Grausamkeiten anzustacheln. Dagegen riefen die Schwalben: »Umer, umer!« er ist tot, er ist tot, damit man ihn nicht länger quäle. Darum ist es eine Sünde, eine Schwalbe zu töten, und ihr Nest bringt einem Hause Glück. Aber der Sperling ist ein unwillkom mener Gast, und wenn er in die Hütte kommt, so ist er ein Vorbote des Unglücks. Zur Strafe für seine Sünden sind seine Füße durch unsichtbare Ketten miteinander verbunden, und darum kann er nur hüpfen, aber nicht laufen.


  • Literatur: Ralston, Russian Folktales 331 = Afanasiev, narodn. russk. legendy 13. Vgl. Dragomanov Nr. 28. 29. Šejn, Materiali Nr. 119 (aus Jekaterinoslav).

G. Sperling und Krähe.

Aus Galizien (rutenisch).


Die Krähe ist sehr erpicht auf Menschenfleisch und Viehaas. Als die Juden Christum kreuzigten, beklagten alle Vögel Christi Qualen, nur die Spatzen kamen aufs Kreuz geflogen, saßen auf dem Querpfahl und riefen lachend: »živ, živ!« (er lebt, er lebt!). Die Krähe aber wollte wieder Blut trinken, welches aus Christi Wunde zur Erde tropfte; darum auch hat sie solch blutbefleckten Unterschnabel, den wohl eine jede Krähe hat bis zu dieser Stunde. Denn Gott hat diesen Vogel verflucht.


  • Literatur: Zbirnyk 12, S. 117, Nr. 135.

J. Lerche.

Aus Polen.


Die dreijährige Lerche, die im Polnischen einen besonderen Namen, nämlich Cierpiatka führt, ist deshalb so genannt, weil sie, während Christus am Kreuze hing, ihn umflatterte und rief: »cierpi, cierpi«, d.h. dulde, dulde!


  • Literatur: Nach Zbiór wiad. d. anthrop. kraj. 9, 71 Nr. 6.

K. Lerche und Krähe (Schwalbe, Rabe).

[223] 1. Aus Bayern.


Alle Vögel waren betrübt über den großen Durst unseres Herrn. Die Lerchen wollten ihm Wasser zutragen. Zum Lohne erhielten sie den hohen Flug und den schönen Gesang. Denn vorzeiten konnten sie nicht so hoch sich emporschwingen und auch nicht so herrlich singen. Die Krähen dagegen blieben ungerührt. Darum müssen sie in dem heißesten Monat August Durst leiden, die Schnäbel aufreißen, können aber nicht trinken.


  • Literatur: Panzer, Bayerische Sagen und Gebräuche = Beitrag zur deutschen Mythologie 2 (1855), S. 171 (aus Königstein).

2. Aus Luxemburg.


Die Lerchen brachten klares Brunnenwasser, die Schwalben Mistpfuhl. Letztere sind den Kindern verhaßt, und ihre Berührung ist giftig. Wer aber eine Lerche tötet, kommt in die Hölle.


  • Literatur: Gredt, Sagenschatz des Luxemburger Landes, S. 465.

3. Aus Malta.


Als Christus am Kreuze litt, kam die Wiesenlerche und setzte sich hin an den Fuß des Kreuzes, ohne sich zu regen und ohne einen Ton von sich zu geben. Das Leiden des Herrn hatte sie nämlich stumm gemacht und ihr die Flüglein gelähmt. Da kam der Rabe herbei, flog aus purer Neugierde einige Male um das Kreuz und sagte dann zu ihr: »Du machst dich ja durch deine Geschäftigkeit unentbehrlich! Wie nett, daß du so große Vorliebe für Leichname hast! Mein Geschmack sind sie nicht!« Aber der leidende Heiland erhob seine arme Stimme und sagte: »Deine Speise holst du dir hinfür von den verwesenden Leichnamen, deine Stimme aber verliere Schmelz und werde zum abstoßenden Gekrächze, du mitleidsloser Rabe, du Schwarzkittel! – Deine Stimme aber, o Lerche, schwelle an, je höher dich deine Flüglein tragen, und deine Augen blicken täglich in das Paradies hinein. Nur dich soll dein Flug bis zu den Sternen tragen!« Seitdem ist die Lerche ein gesegneter Vogel, während der Rabe ein schwarzes Kleid trägt, da er stets mit den verwesenden Leichnamen zu tun hat.


  • Literatur: Frdl. Mitt. von Frl. Bertha Ilg.

L. Taube.

1. Aus Schweden.


Die Turteltaube setzte sich auf einen nahen Baum und seufzte: »Kurrie! Kurrie!« was soviel bedeutet als das griechische Kyrie: Herr! Seitdem ist sie nicht mehr froh und ruft immer: Kurrie.


  • Literatur: Afzelius, Schwed. Volkssagen übers. von Ungewitter 3, 243; Folklore Journal 7, 55. Zu diesem Rufe vgl. flg. Parallele aus dem Talmud:

Chulin 139 b berichtet über die Tauben, die der König Her ödes sich hielt: »Ich sah, erzählte jemand, von diesen Tauben 16 Reihen, je eine Meile lang, und sie riefen κύριε, κύριε Herr, Herr.« Da war eine einzige Taube unter ihnen, welche »Mein Herr ein Diener!« rief, weshalb die Diener des Herodes sie ergriffen und töteten.


  • Literatur: Lewysohn, Zoologie des Talmuds 1858, S. 25.

[224] 2. Aus Belgien (Wallonisch).


Die Turteltaube hat den Schmerzensschrei bewahrt, den sie ausstieß, als sie auf einem der Arme des Kreuzes des Erlösers saß. Und dennoch ist sie Dank der himmlischen Gunst immer glücklich, von den Menschen mehr geliebt als jeder andere Vogel, denn sie ist sanft und gut.


  • Literatur: Wallonia 2, 207.

3. Aus Posen.


Es flog eine Taube am Kreuze vorbei, und aus Mitleid mit dem Dulder zerfloß ihr die Galle. Seit dieser Zeit haben die Tauben keine Galle mehr.


  • Literatur: Knoop, Sagen und Erzählungen aus der Provinz Posen S. 169. – Alter Aberglaube, vgl. z.B. Walther v.d. Vogelw. 19, 13 Lachm.

M. Der Würger.

Der Würger (la pie-grièche) brachte die Dornen herbei, mit denen Jesus gekrönt wurde. Das Ei des Würgers trägt an seinem breiten Ende den deutlichen Abdruck einer Krone.


  • Literatur: Laisnel de la Salle, Le Berry 2, 291. Vgl. Sébillot, Folklore 3, 168.

Fußnoten

1 Vgl. hierzu Tractat Chullin, fol. 65 a (= Wünsche, babylon. Talmud S. 95): R. Simeon ben Eleasar sagt: Jeder Vogel, der in der Luft die Beute erschnappt, ist unrein. – Zbiór wiad. 7, 114, nr. 23: Weil die Schwalbe die Bienen fraß, welche Wachs zu Kirchenlichtern bereiten, gab ihr Jesus ein nur zweijähriges Leben. Nach diesem gehen sie ins Wasser und finden dort ihr Ende.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 225.
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