III. Ursprung der Kahlheit.

[10] 1. Estnische Sage.


Der Teufel sah einst, wie die Frauen Schafe schoren. Der Teufel hatte Lust, es ebenfalls zu tun, und dachte bei sich: Diese Arbeit kann ich ebenso gut machen wie die Frauen! Er begann auch eifrig zu scheren, hatte aber statt des Schafes ein Schwein gefangen. Das Schwein schrie entsetzlich und sträubte sich heftig. Mit großer Mühe gelang es dem Teufel endlich, den Bauch des Schweines[10] abzuscheren. Nun war aber auch die Geduld aus; er ließ das Schwein laufen und sagte ärgerlich: »Viel Geschrei und wenig Wolle!« Seitdem hat das Schwein unterm Bauch nur wenig Haare.


  • Literatur: Aus dem handschr. Nachlaß von J. Hurt. – Vgl. Bd. 1, S. 192 (Lettische Sage). In Paderborn erzählt man Ähnliches von Eulenspiegel: Dieser wollte einst eine Maas scheren. Die kleine Handvoll Haare betrachtend, rief er aus: »Viel Geschrei und wenig Wolle 1« Daher das Sprichwort (Ztschr. d.V.f. rhein. u. westf. Volksk. 6, 25.)

2. Lettische Sage.


Früher hatte die Fliege ein Fellchen, das mit Haaren bewachsen war. Aber der Bär lud sie einst in die Badstube ein, und während sie im Dampf brühte, zog er ihr das ganze Fellchen ab; darum muß sie jetzt nackt herumfliegen.


  • Literatur: Živaja Starina 5, 438 = Zbiór wiad. 15, 269, Nr. 22 = Ulanowska 1, 89.

3. Aus Louisiana.


Wißt ihr, warum der Bussard kahl ist? Nein. So will ich's euch erzählen. Auf einer Eiche brütete Frau Bussard in ihrem Nest. Ihr Mann aber war ein Taugenichts und sorgte so wenig für sie, daß sie immerwährend am Verhungern war. Am Fuße des Baumes war ein großes Loch, worin ein Kaninchen wohnte. Es war groß und fett, und immer, wenn Frau Bussard es sah, wünschte sie es zu fressen. Eines Tages, als das Kaninchen schlief, nahm sie etwas Moos und verstopfte und vermauerte die Höhle. So sollte das Kaninchen nicht mehr herauskönnen und Hungers sterben.

Als das Kaninchen aufwachte und sah, daß es in der Höhle eingeschlossen war, bat es Frau Bussard, es herauszulassen, aber sie erwiderte jedesmal: »Nein, ich bin hungrig, und ich muß dir das Fleisch von den Knochen fressen!«

Als das Kaninchen sah, daß Bitten nichts half, hörte es auf zu reden; Frau Bussard aber war so froh, es gefangen zu haben, daß ihr das Wasser im Munde zusammenlief, wenn sie an das schöne Essen dachte, an dem sie sich gütlich tun wollte. Da sich nun das Kaninchen nicht mehr rührte, so hielt sie es für tot und entfernte das Moos und die Mauersteine, die die Höhle verschlossen. Kaum aber schickte sie sich an, in die Öffnung hinunterzusteigen, so machte das Kaninchen einen Sprung und entkam ins Freie. »Siehst du«, rief es aus der Entfernung, »du bist der Gefangene, nicht ich!« Es rannte weg und begab sich in das Haus eines seiner Freunde, denn es fürchtete sich, in den Eichbaum der Frau Bussard zurückzukehren. Einige Tage darauf machte Frau Bussard mit ihren Kindern, die eben ausgekrochen waren, einen Spaziergang und kam am Hause von des Kaninchens Freund vorbei. Da freute sich das Kaninchen und bedachte, wie es an Frau Bussard Rache nehmen könne. Es rannte in die Küche, nahm eine große Zinnpfanne voll Glühkohlen und heißer Asche, und als Frau Bussard und ihre Kinder vorübergingen, warf es alles, was es in der Zinnpfanne hatte, herunter, um sie zu verbrennen. Aber die Bussards haben dicke Federn; die schützten sie, so daß sie die Kohlen und die Asche einfach abschüttelten; doch waren sie nicht schnell genug, um zu verhindern, daß die Kopffedern bis auf die Haut niederbrannten.

Deshalb sind die Bussarde kahlköpfig; auch mögen sie keine Kaninchen essen.


  • Literatur: Fortier, Louisiana Folk Tales S. 23.

4. Sage der Cheroki.


Der Bussard hatte einst einen schönen Kopfschmuck, auf den er so stolz war, daß er sich weigerte, Aas zu essen. Und während die andern Vögel von einem toten[11] Hirsch oder einem andern Tiere, das sie gefunden hatten, aßen, stolzierte er umher und sagte: »Ihr mögt alles nehmen! Es ist nicht gut genug für mich.« Sie beschlossen, ihn zu bestrafen, und mit Hülfe des Büffels führten sie einen Anschlag gegen ihn aus, durch den er nicht nur den Kopfschmuck, sondern auch noch fast alle andern Federn seines Kopfes verlor. Zu gleicher Zeit verlor er auch seinen Stolz, so daß er jetzt bereitwillig Aas ißt, um sein Leben zu fristen.


  • Literatur: Mooney, Myths of the Cherokee, 8. 293.

5. Sagen der Sauks- und Fox-Indianer.


a) Der Bussard trug einst Ictinike auf dem Rücken über den Fluß. Dann sah er sich nach einem hohlen Baum um, und als er einen fand, ließ er Ictinike hineinfallen. Dort mußte er bleiben, bis Frauen ein Loch in den Stamm schnitten. Nachdem Ictinike nun befreit war, überlegte er sich, wie er dem Bussard mit Gleichem vergelten könne, und mit Hilfe der Adler, Elstern und anderer Vögel gelang es ihm, den Bussard am Hals zu packen; er riß die Federn vom Hals, und daher, sagt man, sehen Kopf und Hals des Bussard jetzt aus wie rotes Fleisch.


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore 5, 302.

b) Die Sonne befiehlt, daß der Bussard Wī'sa'kä zu ihm tragen soll.

Nun war der Bussard unglücklich, als W. ihm dies sagte. Damals war der Bussard das schönste Geschöpf. Das Blau und Rot und Gelb und Grün und Weiß seiner Federn war so glänzend, daß es die Augen aller blendete, die ihn ansahen. Und der Bussard wurde stolz, so stolz, daß er mit den Seinigen weit oben im Himmel wohnte, wo ihm niemand nahen konnte. Er wurde faul und liebte es über alles, sich zu beschauen. Er wußte aber, daß er der Sonne und W. nichts abschlagen durfte. So bückte er sich und ließ W. auf seinen Rücken klettern, sich am Halse fest halten. Und als W. festsaß, breitete er seine Flügel aus und flog in die Luft, hoch und höher, bis kein Geschöpf der Erde sie mehr sehen konnte.

Die Reise war lang und dauerte viele Tage. Endlich sah die Sonne ihren Enkel kommen, sie sah ihn in großer Entfernung und ging ihm entgegen. Langsam kam der Bussard näher, schon nahe genug, daß die Sonne W.'s Hand hätte erfassen können, aber als W. den Hals des Bussards losließ, um die Hand der Sonne zu erfassen, flog der Bussard schnell unter ihm fort. Da fiel W., jetzt kopfüber, jetzt auf dem Rücken, jetzt mit den Füßen zuerst und jetzt sich fortwährend überschlagend. Wäre er so auf die Erde gefallen, so wäre er sicherlich getötet worden. Aber sein Großvater, der Baum, sah ihn und fing ihn in seinen Armen auf und rettete ihn vom Tode.

Nun war W. voll Zorn, und um diese Zeit kam sein Freund, der Elch, um ihn zu besuchen. W. erzählte ihm alles (Erz. hier weggelassen) und endigte; »So möchte ich dich bitten, mir den Bussard zu bringen. Bringe ihn, wie du kannst, und sobald du kannst.«

Der Elch ging glücklich fort, denn er freute sich über den Auftrag W/s, den er liebte. Er wußte schon, wohin er gehen mußte, und ging an einen Ort, den alle Tiere besuchten, legte sich hin und stellte sich tot. Der Wolf war der erste, der ihn dort fand, und es schmerzte, als der Wolf seine Zähne eingrub, um ans Fleisch zu kommen. Darauf kam die Krähe, deren scharfer Schnabel durch die Haut hackte. Aber der Elch lag still, als ob er ganz tot wäre. Endlich kam der Bussard auf einen Hügel in der Nähe geflogen. Immer näher hüpfte er, bis er so nahe war, daß er ins Fleisch hacken konnte. Der Elch hielt alles aus, bis der Bussard ihm mit dem Schnabel am Kopf vorbeikam. Da sprang er auf, packte den Bussard am Kopf und lief mit ihm zu W.'s Wohnung.

[12] W. sah gar nicht böse aus und schalt auch den Bussard nicht. Er sagte nur: »Geh nach Hause und komm mit deiner Verwandtschaft wieder. Ich habe einen Auftrag an sie, wenn sie alle beisammen sind.«

Der B. ging nach Hause und meinte, W. habe seinen Fall aus dem Sonnenland vergessen. Bald kam er mit all den Seinen wieder, und sie versammelten sich vor W.'s Wohnung und warteten auf die Botschaft W/s.

Da kam W. heraus und sagte dies: »Du hieltest es wohl für einen guten Spaß, Bussard, mich aus dem Land meines Großvaters fallen zu lassen, nachdem du mich dahin getragen hattest. Ich bin zornig über dich und werde dich strafen.

Du siehst, das Land ist überall eben. Nun wünsche ich, daß du Flußläufe gräbst, Hügel und Berge machst und die Erde gestaltest. Wenn du dies getan hast, werde ich Menschen schaffen und sie auf der Erde wohnen lassen, und du wirst ihnen das verächtlichste aller Geschöpfe sein. Die schönen Farben deiner Federn werden erdfarben werden. Und dein Hals und Kopf, einst so schön gestaltet, sollen so entstellt bleiben, wie der Elch sie machte, als er dich zu mir trug. Nun geht an die Arbeit, die ich euch befohlen habe.«


  • Literatur: Journal of Am. Folklore 16, 235 ff.

6. Aus Korea.


Ein koreanisches Märchen erzählt von der Liebe zweier Sterne Ching Yuh und Krjain oo, die sich heirateten. Da sie aber seitdem lässig in ihrem Berufe wurden, setzte Gott den einen an die äußerste Spitze des östlichen Himmels, den andern an das äußerste Ende des westlichen, dem großen Flusse gegenüber, der die Ebenen des Himmels teilt (d.i. die Milchstraße). Auf diese Weise waren sie so weit voneinander getrennt, daß sie gerade ein halbes Jahr brauchten, um sich zu treffen, oder ein ganzes Jahr zu der Hin- und Rückreise. Statt diese weite Reise zu unternehmen, begnügten sie sich damit, sich von den Ufern des breiten Stromes aus zu besuchen. Und dies ging nur zu der Zeit möglich zu machen, wenn die Krähen die große Brücke über den Fluß fertig gemacht hatten. Die Krähen tragen nämlich das Material zu dieser Brücke auf ihren Köpfen herbei, was jedermann wissen muß, der sich die Mühe gegeben hat, zu beobachten, wie kahl die Köpfe der Krähen im 7. Monat des Jahres sind.

Natürlich werden die Liebenden sehr entmutigt und traurig darüber, daß sie sich nach einer so kurzen Glücksdauer so bald und so weit wieder trennen müssen, und man wird es nicht wunderbar finden, wenn sie vor Kummer weinen. Sie weinen dann aber so viel, daß die ganze Erde davon mit Regen überschüttet wird.

Diese traurige Zusammenkunft kommt mit seltener Ausnahme nur einmal im Jahre vor, und zwar am 7. Tage des 7. Monats. In einem solchen Ausnahmefall tritt die gewöhnliche Regenzeit nicht pünktlich ein, und dann vereinigt die durstige und vertrocknete Erde ihre Klagen mit denen der Liebenden, deren vermehrte Leiden sie so traurig machen, daß selbst die Tränen sich weigern, ihnen Erleichterung zu verschaffen.


  • Literatur: H.G. Arnous, Korea, S. 92 f.

7. Aus Annam (Provinz Quangbinh).


Gegen den 7. Monat des annamitischen Jahres pflegen sich die Raben in großen Scharen zu versammeln; sie haben in dieser Zeit, wie der Volksmund behauptet, kahle Köpfe. Denn sie mußten darauf eine Brücke tragen oder Steine dazu herbeiholen.


  • Literatur: Globus 81, 303. Die Sage, auf die diese Ätiologie anspielt, soll – wie hierzu bemerkt[13] ist –, eine chinesische Sage sein, in der »die Ehegatten im Himmel stets« auf entgegengesetzten Seiten der Milchstraße ihren Platz erhalten und nur im 7. Monat des Jahres auf der von den Raben gebauten Brücke zueinander kommen.

8. Mongolische Sage.


Burchan-bakši sendet jeden Sommer den Kuckuck aus, um zu erfahren, wie das Korn steht, wie die Ernte ausfallen wird. Der Kuckuck bringt dem Burchan-bakši Samen von dem Kraut »guši-ibjusu«, das zur Zeit des Kuckucksrufes reif wird. Der Kuckuck kehrt zurück auf den Köp fen der Elstern, die sich zu diesem Zwecke nebeneinanderstellen und eine Brücke bilden. Darin besteht der Dienst der Elstern. Darum gehen den Elstern im 7. Monat die Federn an den dunklen Stellen aus.


  • Literatur: Potanin, Okraina 2, 349, Nr. 11.

9. Schwedische Variante s. Natursagen 1, 198.


10. Syrisch-arabische Sage (Nachtrag zu Natursagen 1, 326).


Als Salomo einst auf der Reise auf seinem verzauberten Thron saß, der sich dahin bewegte, wo er ihn hinbefahl, brannte ihm die Sonne auf den Hals. Er bat einige Geier, die in der Nähe flogen, ihn mit den Flügeln zu beschatten, aber sie verweigerten dies grob. Die Wiedehopfe indes boten ihre Dienste dafür an. Da verfluchte Salomo die Geier, daß sie kahle Hälse haben sollten, aber den Wiedehopfen dankte er und ließ sie eine Gnade erbitten. Der König der Wiedehopfe hätte etwas für sich erbeten, aber seine Frau überredete ihn, um goldene Kronen zu bitten. Fortsetzung wie in Naturs. 1, 326.


  • Literatur: Indian Antiquary 3, 20.

11. Aus British Guiana.


Nach der Flut öffnete Noah die Tür der Arche und hielt es für gut, den befreiten Tieren einen Rat mitzugeben. »Meine Kinder«, sagte er, »wenn ihr seht, daß ein Mann auf euch zukommt und sich bückt, so geht fort, denn er nimmt einen Stein auf, am euch zu töten«. »Gut und schön«, sagte der Truthahngeier (cathartes aura), »aber wenn er nun schon einen in der Tasche hat?« Noah wurde ganz verwirrt darüber, dann beschloß er aber, daß der Truthahngeier als Zeichen seiner großen Weisheit kahl geboren werden sollte.


  • Literatur: Folkl. Journ. 6, 321 = Peacock, Roraima and Britisch Guiana p. 334. Willkürliche Ätiologie auf eine bekannte Fabel aufgepfropft.

12. Sage der Mordwinen.


Erklärung, warum die Fledermaus einen kahlen Schwanz hat: siehe Bd. 1, S. 95.


13. Isländische Sage.


Erklärung, warum die Vögel nackte (federlose) Füße haben: siehe Bd. 2, S. 261.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 10-14.
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