1. Kapitel.

Die Gestalt und körperliche Eigenart der Tiere.

Alles Beobachten fordert zum Vergleichen auf. Die Weite des Gesichtsfeldes, die Menge des Anschauungsstoffes ermöglichen sowohl größere Sicherheit des Urteils als auch reichere Fülle der Erkenntnis.

Auch die naturdeutende Volksdichtung ist ohne vergleichendes Beobachten nicht denkbar. Sobald die Phantasie in diese bunte Welt der Formen und Erscheinungen eintaucht, drängt von allen Seiten her Ähnliches und Verschiedenes, Allgemeines und Besonderes an sie heran, und aus unendlichen Quellen schöpft die Sage unendliches Befruchten.

Nun ist aber im großen Haushalt der Natur nichts so unmittelbar faßlich, nichts dem Volksempfinden so vertraut wie die Tiere. Wer in und mit der Natur lebt, dem gilt jedes einzelne unter ihnen als vollwichtiges Glied der Schöpfung; auch das kleinste, das unscheinbare ist ihm des Nachsinnens wert. Und da alle an Gestalt und Aussehen wie an Lebensart und Eigenwesen leicht miteinander zu vergleichen sind, so entstehen Tiersagen, die alle anderen Natursagen an Zahl und an Reichtum des Inhalts übertreffen.

Der erste Eindruck, den ein Tier auf den oberflächlichen Beschauer macht, wird durch Gestalt und Farbe bestimmt. Beide prägen sich dem Auge ein, ohne daß Mühe oder Übung des Sehens notwendig wäre. Auf beiden beruht im wesentlichen das Aussehen, die Art des Gesamtbildes. Dieser Eindruck gibt dem naiven Menschen genug zu denken. Die Fragen des Kindes: Wer hat das Tier so groß gemacht? Warum ist es schwarz? Warum hat es Hörner? sind auch die seinigen. Um Antworten ist er nicht verlegen.

Die Gestalt, mit der wir es im folgenden zunächst zu tun haben, finden wir teils als Ganzes, teils in Einzelheiten erfaßt und durch Ursprungssagen gedeutet. Indem man kleine Tiere mit großen verglich, kam man auf den Gedanken, daß auch sie einst groß gewesen und erst später durch ein besonderes Verfahren, etwa durch Zusammendrücken, verkleinert worden seien. Umgekehrt erschienen andere Tiere als zerdehnt. Die Körperbedeckung (Fell, Schale, Stacheln) und andererseits die Kahlheit waren auffallend genug, um zum Erforschen der Ursachen anzuregen. Ähnlichkeit mit menschlichen Gebrauchsgegenständen ließ sich durch Annahme von Verkörperungen erklären. Die sonstige Beschaffenheit des Leibes und seiner[1] Teile, durch die sich die Tiere voneinander unterscheiden, wurde auf die mannigfaltigsten Gründe zurückgeführt.

Zu den im folgenden mitgeteilten Sagen werden im Verlaufe der Kapitel noch vielerlei Ergänzungen hinzukommen, die infolge gewisser Motive der Handlung zu bestimmten Gruppen zu rechnen und daher in besonderen Abschnitten zu behandeln sind.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 1-2.
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