2. Andere Vögel.

[380] 1. Märchen aus der Oberpfalz.


Die Hüntaube war eine Mutter. Sie hatte nur einen Sohn, welcher Kuh und Kalb hüten mußte. Mal schlief der Knabe ein, und Kuh und Kalb verliefen sich im Wald. Er suchte, fand sie aber nicht und kehrte zu seiner Mutter zurück. Diese schlug ihn und sprach: »Du darfst nicht eher wiederkommen, bis du Kuh und Kalb hast.« Der Knabe ging und suchte. Inzwischen kam die Kuh mit dem Kalb in den Stall. Nun lief die Mutter in den Wald, rief ihr Kind, sah und hörte aber nichts mehr1 von ihm. Darüber fing sie kläglich zu weinen an und sprach: »Ach, wenn ich eine Taube wäre, daß ich mir genug weinen könnte!« Und sogleich wurde sie in eine Taube verwandelt. Die weint immer und ruft den verlorenen Sohn: »Sühn, Sühn, kumm! Kuh is schon kumma und 's Kalb aa!«


  • Literatur: Panzer, Beitrag 2, 171.

2. Aus Estland.


Ein junger Mann bemerkt, daß in seinem Haus des Nachts eine Gestalt herumgeht, und um Klarheit zu gewinnen, geht er zu einem Weisen (tark). Der Weise versteht gleich, worum es sich handelt, und lehrt ihn, er solle des Nachts, wenn er die Tür knarren hört, einen Pflock in die Öffnung des Türriegels schlagen. Das tut der junge Mann und findet am Morgen nach dem Erwachen ein schönes junges Mädchen im Zimmer sitzen. Auf die Frage, wie es dahingekommen, weiß es keinen Bescheid zu geben. Das Mädchen gefiel dem jungen Manne sehr, er nahm es sich zum Weibe. Sie lebten glücklich miteinander und hatten bereits zwei Kinder, eine[380] Tochter und einen Sohn, die »Krööt« und »Pill« hießen. Eines Tages, als die Frau das Kind an der Brust stillte, sagte der Mann: »Weißt du, wie du hierher gekommen bist?« Und den Pflock aus der Riegelöffnung ziehend, sagte er: »Durch dieses Loch bist du hereingekommen.« Kaum hatte er das gesagt, als die Frau in der Gestalt eines schwarzen Vogels zum Loch schwirrend hinausflog und dabei noch: »Krööt, Krööt, Krööt – Pill!« rief.

Nun fliegt das Weib noch heute in der Gestalt des Schwarzspechtes im Walde herum und ruft mit klagender Stimme nach ihren Kindern.


  • Literatur: Aus dem hdschr. Nachlaß von J. Hurt.

3. Aus Thracien.


In alter Zeit liebte in diesem Lande ein König seine Schwägerin und tat ihr Gewalt an, und damit es seine Frau nicht erführe, schloß er sie in den Keller seines Palastes und ließ sie von einem furchtbaren Drachen bewachen. Nach langer Zeit kam ein Vogel und setzte sich auf die Fenstergitter ihres Gefängnisses und sang. Aber sowie er die Finsternis und die schlechte Luft des Gefängnisses merkte und das schöne Mädchen klagen hörte, fragte er sie, was sie habe, daß sie so weine. »Gib mir,« sprach sie zu ihm, »eine Feder aus deinen Flügeln und deine weiße Brust, damit ich meine Leiden aufschreibe, und bringe sie meiner Schwester.«

Der Vogel brachte die bitteren Worte der Königin. Diese war eine Zauberin, und eines Tages, als der König auf der Jagd war, schläferte sie den Drachen durch Beschwörungen ein, ergriff ihre Schwester, und um ihren Mann zu bestrafen, tötete sie ihren Sohn, welcher Itsos hieß, briet seine Leber und setzte sie auf den Tisch, damit sie ihr Mann essen sollte. Als er kam und sich zu Tisch gesetzt hatte, rief von dem Teller die Leber seines Kindes. Er stürmte fort, die böse Mutter zu erwürgen, und alle wurden Vögel. Und der Vater irrt durch die ganze Erde und ruft seinen Sohn: »Itso, Itso!«


  • Literatur: Politis, παραδόσεις Nr. 363. Vgl. Natursagen, Bd. IV.

4. Aus Griechenland.


Es waren einmal zwei Brüder, und der eine von ihnen war Hüter in den Weinbergen. Zu diesem sagte einst der andere, Antonis mit Namen: »Heut' Abend komm ich und stehle dir Trauben.« Da entgegnete jener: »Komm nur, ich erschieße dich!« Am Abend kam Antonis wirklich und versuchte, Weintrauben zu stehlen. Sein Bruder schoß, nur um ihn zu erschrecken, traf ihn jedoch wider Willen, und als er näher kam, fand er ihn in seinem Blute. Da bat er Gott in seinem Schmerz, er möge ihn in einen Vogel verwandeln, auf daß er ewig seinen Bruder beweine. Gott erhörte ihn und verwandelte ihn in den Vogel Gkion (eine kleine Eulenart). Seitdem klagt er um seinen Bruder Antonis und ruft in einem fort: »Nton! Nton!«


  • Literatur: B. Schmidt, griech. Sagen 132, 3 = Politis, Nr. 359.

5. Albanesische Sage.


Der Kuckuck war einst die Schwester des Gjon. Den erstach sie durch unglücklichen Zufall – als sie plötzlich von ihrer Näharbeit aufsprang – mit ihrer Schere. In ihrer großen Betrübnis ward sie in den Vogel verwandelt, und nun ruft sie: »Ku, ku?« d.h. zu deutsch: wo bist du? Sie hatte noch einen andern Bruder, der auch Gjon hieß. Dieser wurde zum Vogel gleichen Namens und ruft nun bei Nacht den Namen des Toten: »Gjon! Gjon!«


  • Literatur: Hahn, Griech. u. alban. Märchen 2, 144; auch bei Swainson, British Birds, p. 120.

[381] 6. Rumänische Sagen.


a) Eine Türkenbande raubte einem Popen alle seine Habe und führte ihn selbst mit Frau und Tochter in die Gefangenschaft. Als der Sohn heimkam und das Haus verwüstet fand, machte er sieh als Grieche verkleidet auf die Suche nach den Seinen. Aber vergebens irrte er umher, bis er endlich in Verzweiflung zu Gott betete. Dieser verwandelte ihn in den Pirol, dessen Gewand noch heute an die griechische Tracht erinnert, ebenso der rote Seidenfaden, den er in sein Nest zu legen pflegt.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 2, 135.

b) Es waren einmal drei heiratsfähige Schwestern; die jüngste war am hübschesten und wurde von den Freiern besonders begehrt. Darüber neidisch, beschlossen die älteren Schwestern, sie zu vernichten. Sie gingen mit ihr in einen dichten Wald, dort ließen sie sie allein und gingen heim. Das Mädchen im Walde begann zu klagen, als es den Betrug merkte. Dann aber machte es sich daran, einen Ausweg zu finden, und gelangte an das Ende des Waldes. Dort fand es ein Ziegenfell, das es anzog, und kam weiter zu einer Platane neben einer Quelle. Auf diesem Baume ließ es sich nieder. Bald kam ein Knecht des Königs, der das Pferd zum Tränken führte. Das Tier aber erschrak, als es das Bild des Mädchens im Wasserspiegel sah, und wollte nicht trinken. Schließlich kam der Königssohn selbst; dieser fand das Geheimnis und beschloß, das Mädchen zu heiraten. Wie sollte er es aber vom Baum herunterbekommen? Da fragte er eine alte Frau um Rat. Diese nahm Backtrog, Nudelteig usw. und begann unter dem Baume zu backen. Absichtlich stellte sie alles verkehrt an. Das Mädchen rief ihr zu, sie mache ja alles falsch, und kam schließlich vom Baume herunter, um die Alte zu belehren. Sogleich aber wurde sie in den Palast gebracht. Die Königin fand jedoch keinen Gefallen an der Geliebten ihres Sohnes in dieser Ziegengestalt; erst als das Mädchen ihre Schönheit offenbart hatte und die Ziegenhaut verbrannt war, erlaubte sie die Hochzeit. – Die beiden anderen Schwestern kamen schließlich an den Hof und sahen das Glück ihrer Schwester mit Neid und Schrecken. Sie beschlossen, sie zu töten. Als sie zu ihr kamen, stießen sie ihr Nadeln in Kopf und Hände, und sogleich verwandelte sie sich in eine Nachteule. Auch ihre drei Knaben stachen sie, und auch diese wurden zu Nachteulen. Als die Schwiegermutter den Gesang dieser Vögel hörte, befahl sie, sie zu fangen. Man ergriff die drei kleinen Vögel, entdeckte und entfernte die Nadeln, und sogleich entstanden wieder die drei Knaben. Die Alte aber konnte man nicht fangen; sie fliegt noch heute umher und klagt um ihre Kinder, die man ihr genommen. (Aus Mazedonien.)


  • Literatur: Nach Papahagi, din lit. pop. a Aromînilor S. 782. Ausführlich in meinen Naturgeschichtl. Volksmärchen3 1, 42 nach Revue des trad. pop. 8, 414. (Den Vorwand, unter dem die beiden älteren Mädchen die jüngste im Walde zurücklassen, habe ich für das Jugendbuch leicht geändert. Im Original heißt es, daß sie einen Totenkuchen machen und die Schwester auffordern, sie zu begleiten, weil sie den begrabenen Körper der Mutter holen wollen. Im Walde erklären sie, daß sie ihr Handwerkszeug vergessen hätten und die Erde nicht wegschaufeln könnten; sie wollen es angeblich holen und verlassen die Schwester.)
    Zur Entdeckung des Mädchens im Baum vgl. Grimm, Nr. 65 (Allerleirauh), zum Spiegelbild im Wasser, vgl. z.B. Andrejanoff, Lettische Märchen (Lpz., Reclam), S. 19 ff., Hahn, gr. u. alb. M. Nr. 49, Kunos, Turkish Fairy Tales transl. by R.N. Bain 1896, S. 1 ff. (wo auch die List der Alten, durch verkehrte Hantierung das Mädchen herabzulocken, übereinstimmt), Transactions of Asiatic Society of Japan 10, Suppl. p. 121 = Folklore 10, 309:

[382] Hohodemi will sich der Tochter des Seegottes, Toyo-tama-hime, bemerkbar machen und klettert auf einen Baum vor dem Palast, der am Brunnen steht. Sie sieht ihn im Wasserspiegel.


  • Literatur: Zum Mädchen im Ziegenkleid: Hahn, gr. Märch. Nr. 14, 57. Zur Entzauberung durch Verbrennen der Tierhülle: Hahn, Nr. 14, 31, 43, 57, 100, Grimm Nr. 108, 144, Wuk Karadžić Nr. 9. Zur Nadel im Kopf: Zingerle, Kinder- u. Hausm. aus Tirol = Dähnhardt, Märchenbuch 1, 110. Ferner
    Reinisch, Die Nuba-Sprache, S. 222:

Der Zauberer Senib nahm sieben Zaubernadeln, um die Jünglinge zu verzaubern, indem er ihnen die Nadeln in den Kopf zu stechen beabsichtigte. Als nun die Jünglinge von der Reise heimkamen, steckte ihnen der Zauberer Senib die Nadeln hinein, und die Jünglinge wurden zu Stieren.


7. Aus dem Kaukasus.


Zwei Brüder suchen ihre Schwester und werden in Zwergohreulen verwandelt.


  • Literatur: Sbornik mat .... kavk. 9, 2, 127.

8. Mohammedanische Sage.


Der Kiebitz war einst eine Prinzessin, die, als sie von der Rückkehr eines lange abwesenden Lieblingsbruders hörte, einen Topf heißer Milch vom Feuer riß, da sie ihn mit einer Erfrischung begrüßen wollte, ihn auf den Kopf stellte und nach der Seite hin eilte, von der ihr – fälschlich – gesagt worden war, daß er käme. Sie achtete nicht auf die Brandwunden, die ihr das heiße Gefäß machte. Jahrelang suchte sie noch nach ihrem Bruder und rief: »Bruder, o Bruder!« bis Allah voll Mitleid ihr Flügel gab und sie in einen Kiebitz verwandelte, damit sie ihr Vorhaben besser ausführen könne. Darum sieht man diesen Vogel so oft in langen Bogen einherfliegen, als ob er jemand suche, und hört ihn traurig rufen: »Bruder, o Bruder!«

Die mohammedanischen Frauen nennen den Kiebitz die Schwester des Bruders, und wenn sie abends seinen Ruf hören, kommen sie aus ihren Häusern und werfen Wasser in die Luft, damit der Vogel es brauchen möge zur Linderung des Schmerzes der Brandwunde auf seinem Kopfe, welche Stelle durch ein paar schwarze Federn bezeichnet ist.


  • Literatur: Swainson, British Birds, p. 186 = Jones, Credibilities Fast and Present, p. 382.

9. Aus Indien.


a) Ein eifersüchtiger Mann bezweifelte die Treue seines Weibes und tötete ihren kleinen Sohn in ihrer Abwesenheit, kochte ihn und setzte ihn ihr vor. Nichtsahnend aß sie davon, entdeckte aber bald an einem Finger, daß es ihr Kind war. In Todesangst floh sie in den Wald und wurde in den Kauz (Syrnium indrani) verwandelt, dessen jammernde Rufe ihr Schreien darstellen. (Ceylon.)


  • Literatur: Folklore Journal 5, 352. Vgl. Indian Antiquary 33, 231.

b) Ein Mann, der seine Frau im Verdacht der Untreue hatte, tötete sein Kind, machte eine Speise daraus und gab sie der Mutter. Als sie davon aß, fand sie einen Finger' des Kindes, floh in den Wald, tötete sich und wurde als der un-heil- und todverkündende Teufelsvogel (ulumâ) wiedergeboren.


c) Eine Frau legte Blumen der Bassia longifolia (mîmal) zum Trocknen hin und trug ihrem kleinen Sohn auf, sie zu bewachen. Als sie trocken wurden, lagen sie flach am Boden, und man konnte sie nicht sehen. Die Mutter fand sie nicht und tötete das Kind seiner Nachlässigkeit wegen. Ein Regenschauer zeigte ihr da[383] die verdorrten Gräser. In Reue tötete sie sich und wurde als gefleckte Taube (alukobeyiyâ) wiedergeboren, die nun klagt: »Mîmal latin daru nolatin pubbaru putê pûpû!« (= Ich bekam die Blumen wieder, aber nicht mein Kind, o mein kleiner Sohn, mein kleiner Sohn!)


  • Literatur: Indian Antiquary 33, 231.

d) Die Prachtdrossel war einst ein Prinz, der eine schöne Prinzessin sehr liebte. Sein Vater sandte ihn auf Reisen, und als er wieder kam, war die Prinzessin tot. Nun klagt er um sie und ruft sie. (Ceylon.)


  • Literatur: Folklore Journal 5, 354.

e) Die Prachtdrossel ist ein Prinz, der um seine schöne Braut Ayitta trauert.


  • Literatur: Indian Antiquary 33, 231.

10. Aus China.


a) Es gibt im Süden von China einen Vogel, Ko Ko. o. o., der – wenn er auch oft gehört wird – doch selten gesehen wird. Er ist von Gestalt wie die braune Drossel, aber etwas größer. Seine Farbe ist schwarz, und sein Gesang besteht hauptsächlich aus einem lauten Doppelton, der durch die Worte: »Ko Ko. o.o.« dargestellt werden kann. Die Chinesen erklären sein Dasein durch folgende Sage:

Es ist lange her, niemand weiß, wie lange, da entflohen zwei junge Mädchen, von der schönen Mondnacht verlockt, geräuschlos aus ihrem Hause, und gingen auf die Hügel, um die Blüten des Erdbeerbaums (myrica sapida) zu sehen, von dem man sagt, er warte bis zur Nacht, um seine Blüten zu öffnen. Das ältere der beiden Mädchen hieß Ah Ko und hatte vor kurzem den Bruder Ah Saw's, des anderen Mädchens, geheiratet. Sie lebte jetzt nach chinesischer Sitte bei ihrer Schwiegermutter, und es ist wohl kaum nötig, zu erzählen, daß der junge Mann noch sehr verliebt war. Die Mutter vergötterte ihren Sohn wie alle chinesischen Frauen, und erzeigte der jungen Frau zahlreiche Aufmerksamkeiten und war in ihrem Wunsche, den Sohn zu erfreuen, vielleicht mehr um deren Wohlergehen besorgt, als um das ihrer Tochter Ah Saw. Wie die beiden Mädchen so heiter schwatzend zusammengingen, sprang ein großer Tiger plötzlich zwischen sie, erfaßte Ah Ko mit seinen mächtigen Zähnen und trug sie in das Dickicht des nahen Waldes. Die arme Ah Saw war so entsetzt, daß sie lange Zeit nur wie versteinert auf den Fleck starrte, wo Ah Ko und der Tiger verschwunden waren. Endlich kamen ihr die Sinne wieder, und sie lief in wilder Hast zum Hause ihrer Mutter zurück. Die Mutter wartete voll Angst um ihre Töchter an der Türe, und als sie von Ah Saw das Gräßliche gehört hatte, war sie so in Furcht darüber, was ihr Sohn dazu sagen würde, daß sie im Augenblick ganz vergaß, daß sie doch Mutter zweier Kinder war, und daß die arme Ah Saw, wenn sie auch kein Knabe war, doch ein Anrecht auf ihre Liebe hatte. Sie wandte sich zornig zu dem armen Mädchen und jagte sie von der Schwelle. Sie verbot ihr, ohne ihre Schwägerin wiederzukommen.

Das Mädchen ging weg und wanderte ziellos im Lande umher und rief: »Ah Ko Ko. o.o.!« bis der Tod, der barmherziger war als ihre eigene Mutter, sie hinwegnahm.

Trotz der Grausamkeit ihrer Mutter muß Ah Saw eine gute Tochter gewesen sein, da sie ihren Ruheplatz verließ und in Gestalt eines Vogels in diese Welt zurückkam und so noch heute versucht, ihrer Mutter Befehl zu erfüllen. Darum hört man den Ruf: »Ko Ko. o. o!« so oft in Südchina.


  • Literatur: Folklore Journal 5, 124.

[384] b) Der Vogel Ti Tai Tai – oder der schwarze »Bohnenvogel« – ist ein Vogel ähnlich der Lerche, fliegt mit süßem Gezwitscher auf, dann in gerader Linie hoch und höher, bis man ihn aus dem Gesicht verliert, und singt fortwährend dabei. Von ihm erzählt man folgendes:

Einst lebte ein Mann, dem starb die Frau bei der Ge burt eines Sohnes. Der Vater war nicht lange genug verheiratet gewesen, um der Ehe überdrüssig zu werden, und beschloß, den Versuch noch einmal zu wiederholen. Darum nahm er sich eine zweite Frau. Die junge Frau liebte Kinder sehr und verwöhnte ihren Stiefsohn, und Ah Kwaï war sehr glücklich über seine Wahl. Nach einiger Zeit gebar sie auch einen Sohn. Der Vater glaubte, daß dieses neue Kindlein Ah Ti (d.i. »kleiner Bruder«) die Liebe in der Familie noch mehr befestigen würde. Aber fortan wandte Ah Lien all ihre Liebe ihrem eigenen Sohne zu, so daß sie zuletzt ihrem Stiefkind weder Nahrung noch Kleidung gönnte. Eines Tages rief sie beide Knaben zu sich und gab ihnen einen Korb mit grünen Bohnen und befahl ihnen, dann wiederzukommen, wenn die grünen Blätter aus der Erde sprossen würden. Sie hatte aber ihres Stiefsohns Teil gekocht und war sicher, ihn nie wiederzusehen. Unterwegs bemerkte Ah Ti, daß seines Bruders Bohnen größer waren als die seinigen, und tauschte mit ihm. Als sie zu dem Felde kamen, pflanzten sie die Bohnen und warteten auf das junge Grün. Nach einigen Tagen wachte Ah Pun eines Morgens auf und fand sein Land grün. Wiewohl er gern bei seinem Bruder geblieben wäre, wagte er nicht, dem Befehl seiner Mutter ungehorsam zu sein, und ging nach Hause. Als Ah Lien ihn sah, erriet sie, was geschehen, und schickte ihn zurück, seinen Bruder zu suchen.

Als er aber an das Feld kam, war Ah Ti nicht mehr zu sehen. Er wagte nicht zurückzukehren und wanderte umher und rief: »Ah Ti tai tai?« (kleiner Bruder, wo bist du?), bis er vor Erschöpfung starb und in den Vogel verwandelt wurde, der jetzt seinen Klageruf ertönen läßt.


  • Literatur: Süd-China: Folklore Journal 5, 125.

11. Sage der Eskimos in Baffinland und Hudson Bay.


Vor langer Zeit lebte eine alte Frau mit ihrem Kind im Schneehaus. Eines Abends sagte das Kind zur Großmutter: »Großmutter, erzähle mir eine Geschichte!« »Ich kenne keine Geschichte, schlafe,« und dann sagte sie, um das Kind zu erschrecken: »Ich sehe einen Lemming ohne Haar, – und dort noch einen und noch einen!« Dann sprang sie in die Höhe, als ob sie sich vor ihnen fürchtete, und schrie. Dadurch erschrak das Kind so, und es machte sich so klein, daß es zu einem kleinen Vogel wurde und voll Angst davonflog. Da war die Großmutter traurig über den Verlust ihres Kindes. Sie schrie und klagte: »Now, now, now« [= wo?] und rieb sich die Augen, bis die Haut abging. Sie hängte sich einen Sack um den Hals und steckte die Nadel in ihren Stiefel, flog fort und wurde zu einem Schneehuhn. Der Sack ward zum Magen und die Nadel zum Beinknochen.


  • Literatur: Boas, Eskimo of Baffi Land, p. 320.
    Vgl. ebd. S. 302 folgende Variante: Enkel: »Großmutter, erzähle mir eine Geschichte!« Großmutter: »Schlaf ein, ich weiß keine.« Enkel: »Großmutter, erzähle mir eine Geschichte!« Großmutter: »Dorther, dorther, aus der kleinen Zeltecke, kam ein kleiner Lemming ohne Haar und ging unter jemandes Achselhöhle.« Dabei kitzelte die Großmutter den Knaben, und er flog fort. Da rief sie: »Enkel, Enkel, wo bist du, wo bist du?«[385] Der Knabe, der fortflog, und seine Großmutter wurden zu Schneehühnern, und der charakteristische Schrei dieser Vögel wird »Nauk, nauk« = »wo? wo?« gedeutet. Der rote Fleck über dem Auge der Schneehühner soll vom Weinen der Großmutter nach dem Enkel herrühren.
    Bull. Am. Mus. of Nat. Hist. XV, 302.

12. Indianersagen.


a) Weiter oben am Flusse wohnte ein Mann, der Schwan, mit seiner Frau, dem Kranich. Eines Tages saßen sie vor der Tür des Hauses, da kam ein Boot vorbei, in dem ein Mann, die Schwalbe, saß. Der Schwan fragte ihn: »Wohin gehst du?« Jener versetzte: »Meine Frau ist gestorben. Ich gehe jetzt in den Wald und werde den ganzen Sommer da bleiben.« In Wirklichkeit war aber folgendes geschehen: Seine Frau war ausgegangen, Zederbast zu holen, und hatte die Gelegenheit zu einem Stelldichein mit ihrem Liebhaber benutzt. Die Schwalbe hatte das erfahren und sich dann gerächt. Sie ging mit ihrer Frau in den Wald unter dem Vorwande, ihr beim Rindesammeln behülflich sein zu wollen. Als sie nun auf eine Zeder geklettert war, band er sie auf der Spitze des Baumes fest. Dann schälte er die Rinde ab, so daß der Stamm ganz glatt wurde, und verließ sie. Der Schwan lud ihn ein, in seinem Hause zu rasten. Nach einiger Zeit hörte der Schwan eine Stimme im Walde. Es war die Frau der Schwalbe. Sie sang: »AtSE lSQuā'Quakuē'wul« (d.h. der Stock dringt in meinen After), und ihr Blut floß an dem Stamme herunter. Der schwan ging mit seinen Leuten in den Wald, um die Stimme zu suchen, und fand endlich die Frau. Erst nach langen Mühen gelang es einem seiner Leute, auf den Baum zu steigen und die Frau herunterzuholen. Sie sagte: »Wenn ich tot bin, so sollt ihr mein Blut trinken. Und wenn es regnet1, so sprecht von mir.« Sie starb dann und wurde in Brombeeren verwandelt. Der Schwan war sehr böse auf die Schwalbe, und als diese im Herbst wiederkam, sagte er: »Wenn du mit dem Ostwinde zurückkommst, will ich flußabwärts ziehen und dich vermeiden.« In diesem Augenblick kam Quäls des Weges und sprach: »Gut! Ihr sollt Vögel werden. Du, Schwalbe, sollst im Sommer im Walde umherfliegen und deine Frau suchen. Bemale dein Gesicht jetzt, wie wenn du deine übernatürliche Macht anlegst.« Er bemalte sich dann schwarz und weiß und steckte lange Federn an den Rücken. Da wurde er ein Vogel und fliegt seither Sommers im Walde umher und sucht seine Frau mit dem Rufe: »El, El, El


  • Literatur: Vom unteren Fräser River. Boas, Sagen von der nordpacif. Küste, S. 21.

b) Die Sonne hatte die ersten Menschen eingeschlossen in eine Höhle und vor dem Eingang einen Riesen namens Machacael gestellt. Aber eines Nachts entfernte sich der Riese so weit von seinem Posten, daß er vor Sonnenaufgang nicht wieder zurück war, so daß die Sonnenstrahlen in die Höhle drangen und die Menschen wußten, daß es das Licht gab. Von da an hatten sie keinen größeren Wunsch, als sich seiner ganz erfreuen zu können. Die Sonne war voll Zorns gegen den Riesen und versteinerte ihn mit ihrem Blick ...

Die Menschen wagten, trotzdem sie vom Riesen befreit waren, sich nur nachts heraus; so sehr fürchteten sie sich vor der Sonne. Einige Unvorsichtige wurden in Steine, Tiere und Pflanzen verwandelt, darunter auch der Freund des Häuptlings Vaguoniona. Dieser wurde in eine Nachtigall verwandelt, und dieser Vogel klagt nun immer in seinen Liedern über die Trennung von seinem Freunde.

[386] Vaguoniona wollte den Freund aufsuchen, der ihn so klagend rief, und wagte sich mit Frauen und Kindern hinaus, aber er wurde auch versteinert. Die Frauen wurden in wohlriechende Bäume verwandelt, und die Kinder, die »Toa, Toa« = »Mama, Mama,« riefen, in Kröten, die seitdem immer »Toa« quaken. (Später gelingt es den Menschen, dem Verderben der Sonne zu entgehen ...)


  • Literatur: Réville, Rel. d. Peupl. Non.-Civ. 1, 321.

Fußnoten

1 Diese Sage wird erzählt, wenn es lange regnet, und die Indianer glauben, daß es dann aufhören wird zu regnen.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 387.
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