4. Verschiedenes.

[428] 1. Rumänische Sagen.


a) Ein Ehepaar lebte mit seinen Zwillingen, einem Knaben und einem Mädchen, in Glück und Frieden, bis die Mutter starb. Um nun den Kindern, die sich aufs zärtlichste liebten, wieder eine Mutter zu geben, verheiratete sich der Mann wieder. Aber die Stiefmutter konnte die Kinder nicht ausstehen; sie brachte nach vielen vergeblichen Versuchen ihren Mann schließlich so weit, daß er die Kinder im Walde aussetzte. Als nun die Kleinen vergeblich auf die Rückkehr des Vaters gewartet und auch die Nacht im Walde verbracht hatten, machten sie sich auf den Weg, um allein den Heimweg zu suchen. Sie kamen an einen Stein, der die Form eines Tieres hatte; darauf ließen sie sich nieder, doch kaum hatten sie Platz genommen, so wurde der Stein lebendig und trug die Kinder durch den Wald an die Grenze ihres Heimatsdorfes. Dort stiegen sie ab; sogleich lief das Tier in den Wald zurück, da merkten die Kinder, daß ihre Mutter in Gestalt eines Rehes sie hierhergebracht. Sie kamen nach Hause zur Freude des Vaters, zum Arger und Entsetzen der Stiefmutter, die nun auf neue Pläne sann.

Eines Tages war der Vater auf dem Felde, die Kinder spielten in der Scheune. Da beschloß das Weib, ihren Plan auszuführen. Mit einem Strick und einem Messer ging sie in die Scheune und rief ihre Kinder herbei. Diese kamen arglos; als aber die Stiefmutter Hand an sie legen wollte, verwandelte Gott die unschuldigen Kinder in ein Paar Tauben, die sich auf dem Dache niederließen und so dem Verderben entgingen. Deshalb sind die Tauben so artige Tiere, weil sie vorher unschuldige Kinder waren; deshalb ist immer eine bei der andern, weil es Zwillinge waren; deshalb legt auch die Taube nur je zwei Eier.


  • Literatur: Reteganul, Povesti din popor, S. 201, 1895.

b) Ein Ehepaar wünschte sich schon immer ein Kind, aber vergebens. Da kam eines Tages eine bettelnde Zigeunerin zu der Frau und riet ihr, ein bestimmtes Kraut immer bei sich zu tragen; dann werde ihr Wunsch in Erfüllung gehen. Nach längerer Zeit bekam sie dann auch ein Kind, ein hübsches Mädchen, das Zina genannt wurde. Bald darauf starb die Mutter. Zinas Vater heiratete wieder, und nun begann für Zina eine traurige Zeit, denn die Stiefmutter, eine Zauberin, haßte das Mädchen. Schließlich verwandelte sie es in einen Vogel und entfloh selbst aus dem Hause. Als ihr Mann heimkam und das Haus verlassen fand, machte er sich auf den Weg, um Frau und Kind zu suchen. Er nahm unter anderem auch den Vogel in einem Käfig mit. Als er weit gewandert war, wurde er von dem Mädchen über seine Lage aufgeklärt. Nun hatte er nur den einen Wunsch, den Vogel wieder in das Mädchen zu verwandeln. Da kam er einmal an einen Garten, in dem er sich niederließ. Sogleich aber trat ein alter Mann auf ihn zu, der verzaubert war und jedem ihm zu nahe kommenden Menschen töten mußte. Der arme Vater erbat sich eine Frist von einem Jahre, dann wollte er zurückkehren. Er suchte auch dieses Jahr noch nach einem Mittel, Zinas Zauber zu lösen, fand aber keins. So kam er dann lebensüberdrüssig wieder zum verzauberten Alten. Hier sollte er nunmehr getötet werden, aber auf Bitten von drei vorüberkommenden Menschen wurde er erlöst, und auch von jenem Alten wich der Zauber, da drei schuldlose Seelen für den dem Tode geweihten Mann gebeten hatten. Aber auch später gelang es dem Mann nicht, Zina zu erlösen. Er starb, und Zina blieb ein Vogel, blieb die verzauberte Wachtel bis heute.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 2, 222.

[429] c) Es waren einmal zwei Brüder, die sich mit ihrer nicht unbedeutenden Habe auf die Wanderschaft begaben. Der Ältere war ziemlich dumm, der Jüngere um so klüger. Der Dumme zog nach Westen, während sein Bruder sich gen Osten wandte, und hatte nach längerer Reise sein ganzes Vermögen verzehrt. Mittellos bettelte er in einem Dorfe und nahm schließlich beim Dorfschulzen eine Schafhirtenstelle an. Wie er nun durch den Wald streifte, hörte er eines Tages eine herrliche Musik; er ging den Tönen nach und fand eine wunderbare Flöte, mit der er herrliche Lieder seinen Schafen vorspielen konnte. Ein andermal fand er einen wundervollen Schatz; dumm wie er war, wußte der Hirte das Geld nicht zu schätzen. Er nahm nur dreihundert Kettchen und legte sie seinen Schafen um den Hals. Da kamen einmal Kaufleute vorbei, die jene kostbaren Ketten sahen und den Hirten nach ihrem Herkommen fragten. Dieser führte sie bereitwilligst zu dem Schatz, wo jene sich aussuchten, was sie nur wollten, ja sie luden den ganzen Schatz auf ihre Tiere und nahmen sogar den dummen Hirten mit, mit dem Versprechen, ihm zur Belohnung eine hübsche Frau zu verschaffen. So kamen sie zur Residenz des Kaisers; sie schickten dem Herrscher einige Kleinodien, wurden daraufhin eingeladen und brachten es so weit, daß der dumme Hirt, den der eine Kaufmann für seinen klugen Sohn ausgab, die Kaisertochter heiratete. Dann drückten sich die Kaufleute heimlich und zogen mit ihren Schätzen weiter. Der Dumme hielt es aber auch nicht lange aus; auch er floh und kam zu einer Zauberin. Diese lehrte ihn allerhand Verwandlungskünste, verbot ihm aber, sich in ihrer Abwesenheit mit dieser Kunst zu beschäftigen. Der Dumme aber fand ein Glas mit einer roten Flüssigkeit; er trank daraus und wurde alsbald in einen Vogel verwandelt, in den Storch, dessen lange Beine, langer Hals und Vorliebe, sein Nest in der Nähe von Menschen zu bauen, noch heute an seinen menschlichen Ursprung erinnern.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 2, 315.

d) Einem armen Mädchen starben beide Eltern kurz aufeinander. Es nahm einen Dienst beim Bojaren an und lebte dort glücklich, bis ein Räuberhauptmann sich in das Mädchen verliebte und es auf sein Schloß entführte. Da die Geliebt(c) aber die Liebe nicht erwiderte, so verkaufte er sie an einen Gastwirt im Walde, der Fremde schlachtete und den Gästen vorsetzte. Hier mußte das Mädchen in der grausamen Wirtschaft helfen, bis eines Tages die Mutter des Gastwirts, eine Zauberin, die über den gottlosen Lebenswandel ihres Sohnes tief betrübt war, die Gefangene in eine Ente verwandelte und so befreite; durch ihre Zauberei bewirkte sie auch, daß das ganze Haus einstürzte und Sohn samt Zauberin selbst unter seinen Trümmern begrub. Deshalb konnte die Alte die Ente nicht wieder in das Mädchen zurückverwandeln.

Die Ente ist so fett, weil auch das Mädchen ziemlich wohlbeleibt war; deshalb kann sie nicht gut gehen, sondern wankt hin und her. Die Leute sagten, sie brauche Stützen, um nicht von einer Seite zur andern zu wanken. »Stützen« heißen in der Bukowina »raze« (rade); daraus wurde raţa = Ente. (Diese Etymologie ist aber wenig glaubwürdig, raţa wird vielmehr als slawisches Lehnwort angesehen.)


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 2, 385.

e) Die Turteltaube war ursprünglich eine junge Frau, die mit allen hübschen jungen Männern schön tat und liebäugelte. Zur Strafe verwandelte sie Gott in die Turteltaube, die nur ihren Gatten liebt und auch nach seinem Tode ihm noch treu bleibt: sie lebt dann zurückgezogen ohne einen zweiten Mann.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 2, 204.

[430] f) Während eines Gastmahls ging die Tochter eines Kaiserpaares in den Garten, um sich zu erfrischen. Im weichen Grase schlief sie ein, wurde schlafend von einem Engel durch die Lüfte getragen und an einem anderen Orte wieder heruntergelassen. Wie sie erwachte, fand sie sich in einem fremden Lande. Sie empfand Hunger und stillte ihn durch den Genuß einiger Äpfel; um den Durst zu löschen, mußte sie aber lange Wasser suchen, bis sie es endlich an einem riesigen Berge fand. Aber kaum hatte sie getrunken, so wurde sie in einen Geier verwandelt.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 1, 179.

g) Ursprünglich lebten die Geier nur in »jener Welt«. Eine Stiefmutter haßte ihren Stiefsohn und wußte den Vater dahin zu bringen, daß er seinen Knaben in einem Walde aussetzte. Dasselbe Schicksal hatte die Stieftochter eines reichen Mannes, der einem Diener befahl, das Mädchen im Walde zu töten und als Beweis dafür das rechte Auge mit heimzubringen. Der Diener ließ aber das Kind am Leben, setzte es im Walde aus und brachte das Auge eines Hundes.

Die beiden Kinder trafen sich nun im Walde; ein Engel in Gestalt eines Geiers brachte ihnen täglich zu essen, bis sie groß waren. Dann kam ein verirrtes Geierweibchen zu ihnen, das von der Schwiegermutter aus »jener Welt« verjagt worden war; dieser Vogel flog mit den beiden, die sich an den Geierfüßen festhielten, aus dem Walde hinaus in eine Stadt, wo der junge Mann wegen seiner Schönheit bald zum König erwählt wurde, und das Mädchen wurde seine Frau. – Das Geierweibchen lebte weiter am Königshofe, brütete einen männlichen und einen weiblichen Geier aus, die die Stammeltern der Geier in dieser Welt wurden. Schließlich starb der Vogel, und der König fertigte aus den Füßen einen Peitschengriff, wie es noch heute die Jäger tun.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 1, 182.

h) Ein Krämer, »ein wahrer Grünwanst«, betrog, wen er nur konnte, sowohl seine Kunden als auch die, welche von ihm Geld liehen. Schließlich wurde er ein solcher Betrüger, daß Gott ihn zur Strafe in den Gimpel verwandelte. Dieser Vogel hat einen großen Kopf und einen dicken Schnabel; denn schon jener Betrüger hatte einen Kopf von der Größe eines Kürbis und einen breiten Mund mit herabhängenden Lippen. Das Rote am Schnabel und Leib bedeutet das Blut, womit sich der Krämer durch den Betrug befleckt, und das Schwarze auf dem Kopfe seine Schafpelzmütze.

Wenn man einen Gimpel fangt und in einen Käfig sperrt, so lebt er nicht lange, sondern beißt sich die Zunge ab, um nicht dem Spott derer ausgesetzt zu sein, die er früher betrogen hat.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 1, 420.

i) Als eine Frau mit zwei Knaben und einem Mädchen zur Zeit der großen Hungersnot – Gott weiß, wann sie gewesen ist – Brot in den Backofen schieben wollte, aßen ihre beiden Jungen von Hunger gequält vom ungebackenen Brote. Die Mutter wurde sehr ärgerlich und verwünschte die Knaben, die sich entfernten und zu Adlern wurden. Wie nun das Mädchen heimkam und ihre Brüder vermißte, da sagte ihm die Mutter, die beiden Knaben seien in die Welt hinausgezogen, um sich ihr Brot selbst zu suchen. Sehr betrübt über diesen Verlust, beschloß das Mädchen, ihre Brüder zu suchen, und zog auch in die Weite.

Sie lief und lief und kam bis ans Ende der Welt; dort wollte sie vom Hunger überwältigt sich schon ihrem Schicksale übergeben, da sah sie auf einmal einen großen Wald, in den sie hineinging. Bald kam sie an einen gewaltigen[431] Palast, der von vielen Singvögeln bewohnt und von zwei Ungetümen bewacht wurde. Sie wartete, bis diese Wächter schliefen, und trat dann ein. Zuerst traf sie einen Fuchs, der sich über den fremden Eindringling nicht genug wundern konnte und dem Mädchen in Aussicht stellte, vom Herren des Schlosses aufgefressen zu werden. Die Kleine erschrak gewaltig, wurde aber von der dazukommenden Herrin in Schutz genommen, die schließlich auch den Herren, einen gewaltigen Löwen, von dem grausamen Vorhaben abbrachte. Der Löwe selbst fragte, ob jemand die beiden Brüder (das Mädchen wußte nichts von der Verwandlung in Adler) gesehen oder gefressen hätte. Da dies nicht der Fall war, ließ er das Kind gehen und weitersuchen.

Nun kam das Mädchen an eine Hütte im Walde, wo ein altes Weib ihr sagte, die Brüder seien in Adler verwandelt worden und wohnten auf einem sehr hohen Berge; dort sollte sie nur hingehen.

So kletterte denn die Kleine auf jenen Berg hinauf und gelangte in die Behausung der Adler, einen gewaltigen Palast, wo niemand zu sehen war. Sie aß von den aufgetragenen Speisen und versteckte sich dann. Als die Adler heimkamen und das Mädchen gefunden hatten, erkannten sie ihre Schwester, freuten sich über ihre treue Sorge und sagten ihr: Nur wenn sie sechs Jahre lang schweigen und mit niemandem reden könnte, würde sie ihre Brüder vom Fluche erlösen. Dann entfernten sich die Adler.

Fünf Jahre schwieg die Schwester; da sie die Brüder für tot hielt, glaubte sie wieder sprechen zu können. Aber kaum war das erste Wort über ihre Lippen gekommen, da kamen die Brüder und sagten ihr, daß sie nun auf ewig verloren wären, ewig Adler bleiben müßten. Darauf flogen die beiden in die Welt hinaus; sie sind noch heute Adler und fressen nie Brot, sondern nur Fleisch und Kinder unter sechs Jahren.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 1, 154. Vgl. Revue des trad. pop. 8, 42.

2. Aus Griechenland.


Einmal war der Adler ein Mensch und hütete Schafe. Die Lämmer ließen ihm das Herz platzen, denn sie liefen ihm davon. Da betete der Mensch zu Gott und sagte, wenn er ihn zu einem Adler machte, würde er das Herz der Lämmer fressen. Gott erhörte seine Bitte und machte ihn zum Adler; und darum, wenn der Adler ein Lamm erwischt, frißt er zuerst sein Herz auf.


  • Literatur: Politis Nr. 339.

3. Sage von der Isle of Man.


a) Es ist eine sehr alte Sage, daß einst eine Fee, die sich in eine schöne Frau verwandelte, viele der besten Männer der Insel bezauberte und sie über eine Klippe führte, bis in die See, wo sie den Tod fanden ... Diese Fee wollte der Rache der Inselbewohner entgehen und wurde in einen Zaunkönig verwandelt. Seitdem ist dieser Vogel an jedem St. Stephenstag (26. Dez.) in großer Zahl gejagt, gerupft und zu Tode geschlagen worden. Folgendes ist eine Version des Liedes, das bei dem darauffolgenden Umzug vor den Häusern gesungen wird (aus Christmastide in the Isle of Man in Monthly Packet 1868, 301).


1. We'll away to the woods, says Robin the Bobbin,

We'll away to the woods, says Richard the Robin,

We'll away to the woods, says Jacky the Land,

We'll away to the woods, says everyone,

2. What will we do there? says Robin the Bobbin etc.[432]

3. We'll hunt the wren, says etc.

4. Where is he? where is he, says etc.

5. In yonder green bush, says etc.

6. How can we get him? says etc.

7. With sticks and stones, says etc.

8. He's down, he's down, says etc.

9. How can we get him home? says etc.

10. We'll hire a cart, says etc.

11. Whose cart shall we hire? says etc.

12. Johnny Bill Tell's, says etc.

13. How can we get him in? says etc.

14. With iron bars, says etc.

15. He's at home, he's at home, says etc.

16. How will we get him boiled? says etc.

17. In the brewery pan, says etc.

18. How will we get him Raten? says etc.

19. With knives and forks, says etc.

20. Who's to dine at his feast? says etc.

21. The king and the queen, says etc.

22. The pluck for the poor, says etc.

23. The legs for the lame, says etc.

24. The bones for the dog, says etc.

25. He's Raten, he's Raten! says etc.


b) In Neufundland singt man:


The Wren, the Wren, the king of all birds

On St. Stephens Day was caught in the firs.

Though he be little, his honour is great;

Jump up; good people and give us a treat.

With your pocket full of money,

And your cellar full of bur,

We wish you a Merry Christmas,

And a happy New Year.


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore p. 66 u.p. 143 f.

c) Am 26. Dezember wird im County Leitrim gesungen:


The wren, the wren, the king of all birds

On St. Stephens Day he was caught in the furze,

Although he is little, his family's great,

So rise up, mistress, and give us a treat.


Die wohlbekannte Geschichte wird erzählt, wie der Zaunkönig sich auf des Adlers Rücken versteckte, über seinen Kopf hinausflog und sich zum König erklärte: »Nein, ich bin König!« Worauf der Adler ihm einen Schlag mit dem Flügel gab und ihn in einen Stechginsterbusch warf. Daher kann der Zaunkönig nur noch von Busch zu Busch fliegen.


  • Literatur: Folklore 5, 197. Vgl. Crooke, ebd. 11, 20:

d) Wren hunting which is done by fishermen in the Isle of Man to keep off storms was originally possibly a procession in honour of the sacred beast, which later turned into a hunt.[433]


4. Lettische Sagen.


a) Es war einmal ein Mädchen namens Nira, das gewann der eigene Bruder lieb und wollte es heiraten; auch die Eltern waren es zufrieden. Aber Nira konnte und wollte nicht zum Bruder gehen. Deshalb begab sie sich ans Seeufer, entkleidete sich (nur ein schwarzes Seidentüchlein behielt sie um den Hals) und sprang ins Wasser. Aber Gott hatte Wohlgefallen an ihr und rettete sie vom Tode: er verwandelte sie in einen Vogel – die Schellente (anas clangula).

(Nach einer Variante habe sie ein weißes Schnupftüchlein um den Hals gebunden, ehe sie in den See sprang.)


  • Literatur: Lerchis-Puschkaitis VI, 19.

b) In einem lettischen Märchen wird erzählt, wie die böse Stiefmutter, eine Hexe, zur Strafe dafür, daß sie der Stieftochter nach dem Leben getrachtet hat, samt ihrer Tochter von Pferden zerrissen wird. Dabei verwandeln sich beide in Elstern und fliegen davon.


  • Literatur: Lerchis-Puschkaitis IV, 4, Var. 3.

5. Aus Rußland.


Der Specht war einst ein Mensch. Dieser Mensch hackte beständig Holz, so daß er es sogar in der Karwoche tat. Da bestrafte ihn Gott. »Wenn du,« sagte er, »Holz hackst, meine Woche aber nicht achtest, so sei ein Specht, und wenn du schon hackst, so hacke ewig mit dem Schnabel!« Seht, Brüder, so geschieht es jedem, der Gottes Woche nicht ehrt und die Feste Gottes nicht heilig hält.


  • Literatur: B.D. Grinčenko, Is ust naroda S. 16.

6. Aus Bulgarien.


Die Tauben sind aus den Kindern eines Pfarrers entstanden, die im Frühling gar viel sangen. Ihr Gesang war aber nicht fromm, sondern sie verfluchten in bösen Verwünschungen den Pfarrer, ihren Vater, weil er sie nicht zum Lehrer geschickt hatte, damit sie aus Büchern lernen; und auch sich selbst verwünschten sie und wurden also Tauben. Folgendes sagten sie und verfluchten den Pfarrer: »Erblinden soll der Pfarrer, mag er kein Buch mir geben, daß ich daraus was lerne, damit aus mir was werde!«


  • Literatur: Strauß, Die Bulgaren, S. 74.

7. Aus Estland.


a) In alten Zeiten gab es fast in jedem Dorf eine Hexe. Von einer Hexe wird erzählt, daß sie einmal einem lebenden Wolf die Haut abgezogen habe. Sobald sie sich diese Wolfshaut anzog, wurde sie selbst zum Wolfe. In dieser Gestalt stahl sie Lämmer und Schafe und versorgte ihre Leute (sie war Gesindewirtin) immer mit Fleisch. Einmal gab sie ihren Leuten das Fleisch eines halben Fuchses. Die Leute erkannten, daß es Fuchsfleisch war, und wollten es nicht essen. Besonders ein schlauer Knecht wurde durch diesen Fall aufmerksam auf seine Wirtin und fing an, ihr aufzulauern.

Einmal sah der Knecht, wie seine Wirtin Butter schlug. Bald goß sie aber den Rahm aus der Buttermaschine; sie glaubte, der Knecht sehe sie nicht. Dann machte sie eine wunderliche Stimme, und bald darauf kam eine große, langhaarige, schwarze Katze, welche wohl ein »puuk« (geisteshaftes Wesen, welches angeblich Schätze zuträgt, auch den Kühen die Milch aussaugt) war. Die Katze erbrach das ganze Geschirr voll, und daraus machte die Hexe Butter. Der Knecht sah das alles und erzählte es den übrigen Knechten und Mägden. Das wurde auch unter den anderen Dorfbewohnern bekannt.

[434] Wenn die Hexe sich die Wolfshaut überwarf, konnte sie die verschiedensten Gestalten annehmen. Im Herbst stahl sie oft das Korn der übrigen Dorfbewohner aus der Trockenscheuer, indem sie die Gestalt eines Wirbelwindes annahm und unsichtbar war. Die Dorfleute wußten wohl, daß die Hexe ihr Korn stahl, aber sie konnten sie nicht ertappen. Bald gab es im Dorfe Hungersnot, während das Korn der Hexe sich in ihren Scheuern vermehrte. Einmal hatte die Hexe wieder einem reichen Bauern, während er das Korn in der Trockenscheuer windigte, das sämtliche Korn in einem Wirbelwinde fortgetragen. Da beschlossen die Bauern, eine List zu versuchen. Sie holten aus dem Walde einige Fuder Fichtenzweige, behandelten die Zweige ganz wie das Korn: sie wurden gedroschen und gewindigt. Plötzlich kam die Hexe im Wirbelwinde und trug die Fichtennadeln fort. Das hatten die Bauern erwartet. Als die Hexe das nächste Mal den Knechten Brot gebacken hatte, schmeckten sie einen starken Fichtengeschmack im Brot, etliche Nadeln kamen auch zum Vorschein. Nun war die Hexe überführt. Sie wurde verklagt und gefangen genommen. Das Gericht verurteilte sie zum Tode im Wasser. Der Gutsherr kam auch zu sehen, wie die Hexe ertränkt werden sollte. Aber sie sank nicht unter, und grinsend schwamm sie wie ein Holzstück auf dem Wasser. Endlich hieß der Gutsherr sie herausfischen und auf einen brennenden Scheiterhaufen stellen. Alles verbrannte an ihr: Kopf, Hände, Füße, Körper. Nur das Herz konnte das Feuer nicht verzehren. Mit einem sonderbaren Klang schwankte das Herz in den Flammen hin und her. Staunend sahen alle dieses Wunder. Da befahl der Herr einen Wacholderzweig zu holen, ihn mit der linken Hand zu fassen und auf das Herz der Hexe zu schlagen. Mit einem furchtbaren Krach platzte das Herz, und eine Elster flog aus ihr heraus. Das war die erste Elster, denn früher hatte es keine gegeben. (Aus d. Kirchspiel Neuhausen.)


b) Ein Hauswirt hatte mit seiner Frau ein Waisenkind erzogen; sie hatten aber auch eine eigene Tochter. Als die Mädchen zu Jungfrauen herangewachsen waren, hatte die Pflegetochter einen Freier. Weil der Freier ein wohlhabender junger Mann war, so verdroß es die Mutter, daß er ihre Tochter verschmäht und die Pflegetochter gefreit hatte.

Als der Bräutigam in den Hof fuhr, um seine Braut heimzuführen, da versteckte die Mutter, welche eine Zauberin war, die Pflegetochter im Schweinestall und schmückte ihre eigene Tochter als Braut aus. Schon fuhr der Bräutigam mit der falschen Braut fort, da befreite der Hund das arme Mädchen aus dem Stall. Das Mädchen lief dem Hochzeitszuge nach und rief singend: »Seisa, seisa, saekene!« (Steh, steh, Hochzeitszug!) Die falsche Braut antwortete singend: »Söida, söida saekene!« (Fahre, fahre, Hochzeitszug!)

Aber dennoch merkte der Bräutigam den Betrug. Sie waren gerade auf einer Brücke angelangt, da nahm er die falsche Braut und steckte sie unter die Brücke, die Pflegetochter aber setzte er neben sich.

Ein Jahr war vergangen. Die Mutter ging ihre Tochter besuchen. Sie kam über die Brücke, unter welcher ihre Tochter lag, und fand, daß ein langer Halm (putke) durch die Brücke gewachsen war.

Und sie sang:


»Kitkun putke, katkun putke,

Wim tütre tütrele mängiks.«


(Ich reiße den Halm ab und bring ihn meiner Großtochter zum Spielen.) Da sang die Tochter unter der Brücke:


»Ära kitku, ära katku,

Oma tütre naba wars.«


[435] (Reiß nicht, es ist deiner Tochter Nabelschnur.) Die Mutter erschrak, als sie das hörte; doch bald holte sie die Tochter unter der Brücke hervor, und nun gingen sie beide weiter. Das folgende wie in den sonstigen Märchen.

Die Hexe läßt durch die Kindermagd, welche mit dem Kinde auf dem Hofe ist, die Pflegetochter herausrufen und verwandelt sie in einen Wolf, indem sie ihr eine Wolfshaut überwirft. Die eigene Tochter verwandelt sie zur Pflegetochter. Die Tochter der Hexe, welche ebenfalls eine Hexe ist, soll auch dem Mann den Kopf krauen, hat aber kalte Finger. Das fällt dem Manne auf. Sie kann auch dem Kinde keine Muttermilch geben, ihre Brüste sind aus Birkenrinde, und die Warzen daran sind kupferne Nadeln.

Den Mann hat man gelehrt, wie er seine wirkliche Frau wiedergewinnen kann. Und er schickt die Kindermagd aufs Feld, und diese singt:

»Komm nach Hause, Mutter des Kindes, komm dein Kind nähren. Das Kind saugt an einer Brust aus Birkenrinde und nährt sich von kupfernen Nadeln.«

Auf diesem Ruf kam die Mutter, warf die Wolfshaut ab und fütterte das Kind. Das tat sie vielemal. Zuletzt machte der Mann den Stein glühend, auf welchen sie stets die Wolfshaut warf. Die Haut verbrannte. Sie wollte ohne Haut in den Wald rennen, der Mann lief ihr nach und hielt sie fest. So war sie gerettet.

Um die Hexe zu vernichten, hatte der Mann die Badestube geheizt. Vor die Tür der Badestube hatte er ein tiefes Loch graben lassen, dasselbe mit glühendem Pferdedünger gefüllt und mit einem reinen weißen Laken bedeckt. Die gerettete Frau wurde aber versteckt gehalten. Die Hexe fragte, was das für eine Bewandtnis mit dem Laken habe, und der Mann sagte:

»Bei uns ist es Sitte, daß man auf ein reines Laken tritt, wenn man aus der Badestube kommt, um sich die Füße nicht zu beschmutzen.«

Die Hexe ging in die Falle und verbrannte. An ihrer Stelle flog aber eine Elster aus dem glühenden Dünger und rief:

»Kätte kätte kätte kätte!«

Das war die erste Elster.

Es heißt, daß die Schlange, die Katze und die Elster vom Teufel geschaffen worden sind.

Die Schlange soll man nicht mit der Flinte schießen dürfen, sonst sei die Flinte nicht mehr zu gebrauchen.

Die Katze hat ein zähes Leben. Und die Gespenster zeigen sich meist in Gestalt einer Katze. (Aus d. Kirchspiel Klein-Marien.)


  • Literatur: a) und b) aus d. hdschr. Nachlaß von J. Hurt.

c) Die Taube ist früher ein frommes Mädchen gewesen, welches sich im Walde verirrt hatte. Ein Engel gab ihm ein Federkleid, daß es emporfliegen und so sich hinausfinden konnte.


  • Literatur: Wiedemann, Aus d. inn. u. äuß. Leben der Esten, S. 454.

8. Aus Pommern.


a) Der Bauer Hans Diebenkorn, ich weiß nicht, in welchem Dorfe er wohnte, hatte einen Sohn, der hieß Jochen. Das war ein schlimmer, ungeschlachter Junge voll Wildheit und Schalkstreiche, den keiner bändigen konnte. Sein Vater war ein stiller, ordentlicher Mann und ermahnte und züchtigte ihn oft und viel. Priester und Schulmeister hobelten und meißelten an ihm mit dem Ernst der Vermahnung und mit der Strenge der Strafe: es konnte ihn das alles nicht weich und geschmeidig machen, Jochen blieb Jochen, er blieb der freche und ungehorsame Gesell,[436] der er gewesen war, und wo er einen Schalkstreich konnte laufen lassen, war es seine Freude. Das Schlimmste dabei war, daß Jochen auch an Kräften unbändig war und sich schon in seinem fünfzehnten Jahre mit jedem Knechte im Dorfe im Ringen und Balgen messen konnte. Das machte auch dem Vater die meiste Sorge. Dazu kam, daß Jochen ein sehr schöner und schlanker Junge war, der das Maul so gut gebrauchen und so angenehm tun konnte, daß kein Mensch unter dieser Kappe den Schelm vermutete.

Desto besser konnte er seine Spaße und Schalkstreiche mit andern ausführen; denn er konnte sich so gut verstellen, daß auch die gescheitesten und klügsten Leute von ihm angeführt wurden. Der Vater, der seinen Vogel kannte, hielt ihn nun freilich sehr zur Arbeit an; aber sowie er nur einen freien Augenblick hatte, war auch der Schelm da und sogleich auf allen Gassen Geschrei über ihn. Indessen sagt ein altes Sprichwort: »Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht,« und das geschah auch bei Jochen.

Er hatte sein besonderes Vergnügen, alte Leute, die auf dem Wege vorbeigingen, und Arme, die ihr Brot vor den Türen mitleidiger Menschen suchten, zu necken, und tat es immer wieder, wie oft sein Vater ihn darüber auch hart gezüchtigt und erinnert hatte, es sei keine größere Sünde, als diejenigen zu verspotten, welche elend sind, denn ihr Elend komme von Gott, und Gott habe sie deswegen unter seinem besonderen Schutz.

Nun begab es sich, daß einmal eine arme, alte Bettelfrau gegangen kam mit einem Korbe auf dem Kopfe und einem Sack auf dem Rücken. Sie ging gar stümperlich und jämmerlich, stand alle drei Schritt still und ächzte und hustete sehr. Jochen sah sie kommen und machte sich an sie und bot ihr einen freundlichen guten Tag. Sie ward zutraulich und fragte ihn, wie sie über einen tiefen Bach, der vorüberfloß, ins Dorf kommen sollte. »O hier, Mutter, komm nur mit!« sprach Jochen, »hier ist ein Steg, den will ich dir zeigen.« Er ging, und sie folgte ihm, und er führte sie auf ein ziemlich schmales und schwankes Brett, das über den Bach gelegt war. Als die alte Frau aber mitten auf dem Brette war, da fing Jochen an mit dem einem Ende desselben aus allen Kräften zu wippen – er gebärdete sich aber, als taumele er – und wippte so arg, daß das Brett umschlug und die alte Frau mit Korb und Sack in den Bach fiel, so lang sie war. Er sprang nun zu und half ihr wieder aus dem Wasser und stellte sich, als sei er unschuldig an der Sache, heimlich aber lachte er in sich hinein. Die alte Frau dankte ihm noch und ließ sich nichts merken, zog ihre nassen Kleider aus und hing sie an Sträuchen auf, daß sie an der Sonne trockneten, und fing dann an, damit sie sich die Langeweile vertreibe, mit beweglicher und kläglicher Stimme einige Lieder zu singen. Jochen, der weggelaufen war, kam bald wieder und lauschte; die Lieder gefielen ihm, und er setzte sich zu ihr und sagte lachend: »Höre, Mutter, singe mir auch einen Vers.« »Das will ich tun, mein Sohn,« sprach die Alte, »aber du mußt auch acht geben und deinen Vers behalten.« Und sie sang:


»Dukatenkrut hinner'm Tuune1,

Leew in dem Pagellune2

Un in dem Sparling Treu,

Verstand im lütten3 Finger –

Dat sünt so sell'ne Dinger,

As Rosen unner't Heu.[437]

Hür nipp4 no to, min Jüngken,

Du makst so mennig Sprüngken,

Dat Gott vergewen mag:

Veel Müse freten den Kater –

Du denkst ens an dit Water,

Un din Juchhe watt5 Ach.«


Jochen lachte unbändig auf, als sie gesungen hatte, und rief: »Das ist ja ein dummes, närrisches Lied, Alte, ohne Sinn und Verstand, Höre, ich singe dir auch eines vor.« Und er sang mit heller, geschwinder und scherzender Stimme:


»De Kukuk up dem Tuune satt,

Datt wutt regnen6, un he wutt natt,

De Kukuk un de wutt natt.

Doon schreed he: Ach! min buntes Gatt!7

Wo natt! wo natt! wo natt! wo natt!

Min Gatt, wat büst du natt:

Kukuk! Kukuk!

De Kukuk flog na Hus –.«


Und darauf lief er davon, tat aber vorher ihrem Korbe und ihren Schuhen noch einen Schabernack an.

So machte Jochen es oft und konnte seinen unbändigen Mutwillen gar nicht halten. Eines Tages kam er aus dem Walde und sprang mit Trallala und Juchheida über das Feld daher, denn lustig war er fast immer. Es war ein kalter Wintertag, und es schneite und fror sehr. Als er so tralleiend und juchheiend einen Hohlweg hinablief, stand ein kleiner, schneeweißer Mann da, der sehr alt und jämmerlich aussah, und stöhnte und ächzte bei einem großen Korbe, den er sich auf den Rücken heben wollte und nicht konnte. Als er nun Jochen kommen sah, war er froh und bat den Burschen freundlich: »Lieber Sohn, bedenke, daß du auch einmal alt und schwach werden kannst, und hilf mir diesen Korb hier auf den Rücken hängen.« »Von Herzen gern,« sprach Jochen, sprang hinzu und hängte dem alten Manne die Henkel desselben um die Schultern; darauf riß er ihn mit dem Korbe um und ließ ihn im Schnee liegen und lachte und rief im Weglaufen: »Piep, Vogel, piep!«

Der alte Mann wühlte sich wieder aus dem Schnee auf und sammelte, was herausgefallen, wieder in den Korb und schrie mit zorniger Stimme hinter dem lachenden Jochen her: »Ja, piep, Vogel, piep! Gott wird dich piepen lehren, du gottloser Bube!« Und Gott hat den Vogel pfeifen gelehrt. Denn als Jochen am andern Morgen mit der Axt auf dem Nacken in den Wald gehen wollte, daß er Holz fälle, mußte er wieder durch diesen Hohlweg gehen. Doch wie er näher kam, ward ihm ganz wunderlich zumute, so wunderlich, als ihm in seinem Leben nicht ums Herz gewesen war. Und obgleich es heller, lichter Tag war und die Wintersonne eben feuerrot aufging, war ihm doch graulich, als wäre es Mitternacht gewesen. Das war sein böses Gewissen, und es deuchte ihm immer, als komme der alte Mann jeden Augenblick aus dem Hohlwege auf ihn zu und schreie ihn an: »Piep, Vogel, piep!« und er wäre gern einen andern Weg in den Wald gegangen.

Indessen wagte er es doch und ging in den schauerlichen Hohlweg hinein. Aber kaum hatte Jochen seinen Fuß auf die Stelle gesetzt, wo er gestern abend den alten Mann mit dem Korbe in den Schnee gestürzt hatte, so hat es ihn gefaßt und[438] geschüttelt, und in einem Augenblicke ist er weggewesen und ist auch nie wiedergekommen, und kein Mensch hat gehört, wohin er gestoben und geflogen ist. Die Leute haben aber geglaubt, daß der böse Feind ihn geholt habe wegen der vielen verruchten und gottlosen Streiche, die der übermütige Junge immer verübte.

Das ist es aber nicht gewesen, sondern des alten Mannes Piep! Vogel, piep! hat Jochen pfeifen lernen müssen, er ist in einen kleinen Piepvogel verwandelt und der allerkleinste Vogel geworden, der auf Erden lebt. Dies ist nun seine Strafe, daß er im strengsten Winter durch die Sträucher und Hecken fliegen und um die Häuser und Fenster der Menschen, meist aber der armen Leute, umherfliegen und hungern und frieren und piepen muß. Er hat ein graues Röckchen an, gleich dem grauen Kittel, den er trug, als er verwandelt worden, und muß bis diesen Tag aus schelmischen und spitzbübisch freundlichen, kleinen Augen lachen, auch wenn ihm weinerlich zumute ist. Er heißt der Zaunkönig, die Leute nennen ihn aber aus Spott den großen Jochen oder den kurzen Jan; auch wird er Nesselkönig genannt, weil der arme Schelm durch Nesseln und Disteln und kleine stachlichte Sträucher schlüpfen und fliegen muß und meistens in Nesselbüschen sein Nest baut. Da hat er nun Zeit, seine Sünden zu bedenken, wann der Wind pfeift und der Schnee stöbert und er in kahlen Hecken und Zäunen sitzen und piepen muß. Da hören die Kinder ihn oft mit seiner feinen Stimme singen und denken an die alte Geschichte von Jochen Diebenkorn. Er singt aber also sein Piep, Vogel, piep:


»Piep! piep!

De Äppel sünt riep8,

De Beren sünt gel9,

Dat Speck in de Tweel10,

De Stuw is warm,

Hans slöpt Greten im Arm.


Piep! piep!

Wo koold is de Riep11,

Wo dünn is min Kleed!

Wo undicht min Bedd!

Wo lang is de Nacht,

Wer hedd dat woll dacht!«


  • Literatur: U. Jahn, Volkssagen nach E.M. Arndt, Märchen u. Jugenderinn. 1, 416.

b) Rotkehlchen und Kohlmeischen waren einst ein paar hübsche Dirnen, Töchter einer alten frommen Witwe, die sich vom Spinnen, Nähen, Waschen und von anderer Arbeit knapp, aber doch ehrlich ernährte. Sie hatte nur diese beiden Kinder, von welchen die älteste Gretchen und die jüngste Katharinchen hieß. Sie hielt, wie sauer es ihr auch ward, die Kinder immer nett und reinlich in Kleidung und schickte sie fleißig zur Kirche und Schule, und als sie größer wurden, unterwies sie sie in allerlei künstlicher Arbeit mit der Schere und Nadel und hielt sie still in ihrem Kämmerlein in aller Ehrbarkeit und Tugend. Und Gretchen und Katharinchen gediehen, daß es eine Freude war, und wurden ebenso hübsch und fein, als sie fleißig und ehrbar waren, so daß alle Menschen ihre Lust an ihnen hatten und die Nachbarn sie ihren Töchtern als rechte Muster zeigten und lobten. Die Witwe starb, und die beiden Schwestern blieben in ihrem Häuschen und lebten, wie sie mit ihrer Mutter bisher getan, von ihrer Hände Arbeit. Aber es blieb nicht lange mehr so still in dem Häuschen, als es sonst gewesen war. Es fanden sich junge Gesellen ein, welche die Mädchen zu Tänzen und zu Spaziergängen auf die Dörfer verlocken wollten. Die beiden Schwestern wehrten sich einige Wochen tapfer, aber endlich ließen sie sich bewegen und dachten: es kann doch wohl keine Sünde sein, was so viele Frauen und Mädchen tun, die niemand unehrlich nennt. Zuerst freilich kam es ihnen bei diesen Tänzen doch zu wild vor, und sie sahen[439] nicht einmal lange zu, sondern gingen früh weg und waren vor Sonnenuntergang wieder zu Hause. Das zweite- und drittemal aber tanzten sie schon mit. Das vierte- und fünftemal blieben sie bis nach. Sonnenuntergang, und das sechste- und siebentemal hatte die Glocke zwölf geschlagen, als sie heim kamen, und sie mußten ihre Wirtin herauspochen, daß sie ihnen die Türe aufschlösse, und als die alte Frau sie ermahnte und sie an ihre selige Mutter erinnerte, lachten sie und sprachen: »Ach! die Mutter und Ihr! Wann die Mäuse keine Zähne mehr haben, schelten sie auf die Nußknacker. Ihr werdet auch getanzt haben, als Ihr jung waret!«

Die Mädchen waren zu Hause noch immer sehr fleißig, aber bald ward doch mancher kostbare Wochentag mit Nichtstun und Herumprangen vertändelt, den sie sonst auf nützliche Arbeit verwendet hatten. Auch in ihrem Kämmerchen mußte alles anders werden, die Vögel waren lustig und bunt geworden, es mußte alles blankere und zierlichere Federn anziehen: neue Tische, neue Stühle, neue Vorhänge, feinere Kleider und Schuhe. Aber mit dem alten Hausrat schien auch der mütterliche Segen, der bisher sichtbar auf den Kindern geruht hatte, aus dem Hause gezogen zu sein.

Gretchen und Katharinchen hatten immer viele schöne Arbeit und kostbare Zeuge unter den Händen, woraus sie Schmuck und Kleider stickten und nähten. Sie verbrauchten jetzt mehr Geld als sonst, sie fingen allmählich an zu mausen, ach! sie stahlen zuletzt. Einmal hatten sie einen bunten, seidenen Rock gestohlen, der in einem Nachbarhause am Fenster hing, und an einen herumziehenden Juden verkauft. Ein armer Schneidergesell, bei welchem man viele bunte Lappen und Streifen Zeug gefunden, die er auch wohl gemaust haben mochte, war darüber angeklagt, gerichtet und gehängt worden. Er hing und baumelte an dem lichten Galgen. Eines Abends spät kamen die beiden Dirnen mit anderen Gesellen und Gesellinnen von einem Dorftanze zurück, und der Weg ging an dem Galgen vorbei. Da rief einer aus der Schar, ein leichtfertiger Gesell: »Fritz Schneiderlein, Fritz Schneiderlein! wie teuer wird dir dein bunter Rock!« Kaum aber hatte er das Wort gesprochen, so schlug die Sünde wie ein Blitz in die beiden Dirnen, die schuld waren an des armen Schneiders Tod. Sie stürzten beide wie tot zur Erde hin, und die andern, die es sahen, liefen voll Schrecken weg, als hätten ihnen alle Galgenvögel schon im Nacken gesessen. Sie haben die Geschichte in der Stadt erzählt, und die Leute sind hingegangen, aber die beiden Mädchen haben sie nimmer gefunden.

Und wie hätten sie sie finden sollen? Sie waren in Vögel verwandelt und müssen nun in der weiten Welt herumfliegen. Gretchen ist ein Rotkehlchen geworden und Katharinchen ein Kohlmeischen. So müssen sie nun als kleine Vögel in den Wäldern herumfliegen und Hunger und Durst leiden, Hitze und Kälte aushalten und vor Sperbern und Falken, vor Schlangen und Ottern, vor Jägern und wilden Buben zittern. Daß diese kleinen Vögel einst Menschen gewesen sind, kann man noch daraus sehen, daß sie immer um die Häuser der Menschen fliegen, auch oft durch die offenen Fenster in die Zimmer kommen und sich da fangen lassen, auch daß sie im Walde, sowie sich nur Menschen da sehen lassen, sogleich um sie herumflattern und herumzwitschern. Sie haben auch die alte Unart im Vogelkleide noch nicht abgelegt und können das Mausen nicht lassen, sondern sind noch immer Erzdiebe, und wo. nur etwas Buntes und Schimmerndes ausgehängt wird, da fliegen und schnappen sie danach. Darum werden auch keine Vögel leichter in Fallen und Schlingen gefangen, als diese beiden, und müssen Gretchens und Katharin chens[440] gefiederte Urenkel noch entgelten, daß sie einst den bunten Rock gestohlen haben, darum der Schneider hangen mußte.


  • Literatur: E.M. Arndt, Märchen u. Jugenderinn. 1, 427.

c) Der Blaufuß war ehedem ein stolzer, verwegener Ritter in Pommern, ein rechter Menschenplager, so verhaßt bei den Leuten, daß die Bauern noch immer »Blaufuß« sprechen, wenn sie Junker sagen wollen oder verblümt einen Edelmann meinen. Dieser Blaufuß hatte zwar die schönsten Schlösser und Güter, aber dennoch war er ohne alles Mitleid mit den Armen, und kein Bettler wagte es, die Schwelle seines Hauses zu betreten. Ja, ich glaube, der Teufel aus der Hölle hätte sich nicht erdreistet, in seinen Wäldern einen Spazierstock zu schneiden. Die größte Freude bereitete es aber dem Unhold, wenn er seine Bauern und Tagelöhner beim größten Schneetreiben oder im heftigsten Hagelwetter in Feld und Wald auf die Arbeit treiben konnte. Dann schrie er dabei freudig sein: »Wôl! Wôl!« und das trieb er, solange er lebte.

Endlich traf ihn die Vergeltung; der Tod klopfte an seine Türe, und in seiner Gesellschaft erschien der Teufel mit einer Schar höllischer Geister, die ergriffen die Seele des Unmenschen und nahmen sie mit sich zur Hölle hinab. Aber das Andenken an ihn sollte auf Erden nicht verloren gehen, und deshalb verwandelte unser Herrgott den Sohn des wilden Junkers, der gleichfalls ein rechtes Teufelskind war, in einen Vogel, der eben der Blaufuß ist. Während der Vater in der Hölle schmachtet, muß der Sohn mit häßlichem Geschrei in der Luft umherflattern und hungern und frieren, wenn das übrige Volk der Falken und Weihen fröhlich und guter Dinge ist.

Denn wenn es kalt ist und der kahle, magere Winter kommt, so ziehen die meisten Vögel weit über See und Land dahin, wo es warm ist, und kommen erst im Frühjahr wieder, wenn Schnee und Reif weg sind. Der Blaufuß dagegen muß hier aushalten und über die weiten, schneebedeckten Flächen fliegen und lauern, ob er wohl irgendwo ein mageres Mäuschen oder einen kleinen Vogel erhaschen kann. Lauern muß der böse Schelm, denn erfliegen kann er nichts, Fettes und Gutes; Gott hat ihm zur Strafe zu schwere Flügel gegeben.

Wenn nun die Leute den schlimmen Junker fliegen sehen, so rufen sie ihm höhnend zu:


»Blagfoot! Blagfoot!

Wo bekümmt di de Kattenspise?

Wo smecken di de Müse?«


Das muß er ungestraft über sich ergehen lassen, und er muß in dieser Bedrängnis leben und seine Kinder und Kindeskinder mit ihm bis in alle Ewigkeit.


  • Literatur: U. Jahn, Volkssagen. Nach dem plattdeutschen Märchen bei E.M. Arndt, M.u. Jugenderinn. 2, 20.

9. Aus Annam.


Das Rebhuhn ist ein verwandelter Knabe, den sein Stiefvater Rebhuhn im Walde verhungern ließ.


  • Literatur: Landes, Contes annamites 141.

10. Aus Ceylon.


Der Fliegenschnäpper (?fly-catcher bird of Paradise) heißt der Baumwollendieb. Einst war er ein Seeräuber und plünderte die Tuchhändler. Zur Strafe wurde er in den Vogel verwandelt und dazu verdammt, ein Stück weiße Baumwolle an den Schwanz gebunden zu tragen.


  • Literatur: Folklore Journal 5, 353.

[441] 11. Indianersagen.


a) ... Als das getan war, ging Doak-a-batl weiter, und bald hörte er großen Lärm und wollte sehen, was das wäre. Da fand er einen Medizinmann, der tanzte einen närrischen Tanz und sang dazu: »Ki, ki, ki!«

Dieser Medizinmann war blau bemalt, und sein Haar war aufgebunden, so daß es aufrecht auf dem Kopf stand, und es war kein schöner Anblick, und Doak-a-batl fragte ihn: »Was machst du?«

Der Medizinmann sagte: »Ich zaubere!«

Da sprach Doak-a-batl: »Du bist närrisch und verstehst nichts vom Zaubern; du bist nicht weise wie Tah-mah-na-wis und nicht würdig zu den Mid-win-nie zu gehören. Darum verwandle ich deine Gestalt. Geh hin und werde ein blauer Vogel, Klale-kula-kula, und die Menschen sollen dich an deinem Sang ›Ki, ki‹ erkennen.«

So wurde der törichte Tah-mah-na-wis-Mann durch Doak-a-batl verwandelt, und Kiki, der Blauhäher, entstand, und er war der erste dieser Vogelart.

Und darum hat der Blauhäher einen Schopf, weil sein Haar aufrecht auf dem Scheitel gestanden hatte.


  • Literatur: Aus Philipps, Indian Fairy Tales, S. 200.

b) Vor langer Zeit kam Quaw-te-aht, der Verwandler, ins Land und wanderte durch die Wälder.

Auf seinen Wanderungen kam er an einen Ort, wo der Regen fiel, und blieb bei einer Pichte stehen, um zu warten, bis der Regen vorübergezogen wäre.

Während er dort stand, sah er einen Mann, der stand still und schwang die Hände schnell über seinen Kopf in der Luft hin und her und versuchte, auf diese Weise zu verhindern, daß der Regen auf ihn fiel.

Als Quaw-te-aht das sah, dünkte ihn dieser Mann sehr töricht, und er fragte: »Wozu machst du das?«

»Auf diese Art verhindert man, daß der Regen auf einen fallt,« sagte der Mann.

»Du bist töricht, und wegen deiner Torheit will ich deine Gestalt verwandeln« sagte Quaw-te-aht. »Gehe hin und werde Chee-chee-watah, der Kolibri, und schwinge deine Arme dein ganzes Leben lang.«

Und so wurde der Mann durch Quaw-te-ahts Zauberkunst in die Gestalt eines kleinen Vogels verwandelt, der mit seinen Flügeln lärmt, und du kannst ihn immer sehen, wenn der Regen gerade vorüber ist; oder wenn die Snoqualms, des Mondes Tränen, beim Nahen Polikelys, der Nacht, fallen, zur Strafe seiner Torheit, als er ein Mensch war.

Seitdem das geschehen, fürchtet sich kein Indianer vor dem Regen, und er macht sich nichts daraus, wenn er auf ihn fallt; denn er denkt an den Kolibri Chee-chee-watah.

Als der Regen vorüber war, wanderte Quaw-te-aht weiter durch die Wälder und traf einen kleinen Jungen, der war von seiner Mutter ausgeschickt, einen Korb voll Shot-o-lilies, Heidelbeeren, zu pflücken, und der kleine Junge weinte: »Hu, hu, hu!« weil er kein mutiger Junge war und an den braunen Bär, Hoots, dachte, der in den Wäldern wohnt.

Quaw-te-aht fragte: »Warum weinst du?«

»Weil ich mich vor Hoots, dem braunen Bären, fürchte und glaube, er wird kommen und mich fressen,« antwortete der Junge.

»Weil du kein mutiger Junge bist und immer weinst, so will ich dich aus einem Jungen in einen Vogel verwandeln,« sagte Quaw-te-aht, und durch seine[442] Zauberkunst verwandelte er den Knaben in eine Taube, die lebt jetzt in den Wäldern und ruft immer: »Hu, hu, hu!« gerade wie es der Knabe tat, als er Furcht hatte vor Hoots, dem Bären ...

Quaw-te-aht wanderte weiter, und bald traf er einen andern Mann, der schärfte sein Steinmesser, und zu diesem Mann sprach er: »Warum schärfst du das Messer?«

»Um Fleisch zu schneiden,« sagte der Mann.

»Das ist zweideutig gesprochen; du schärfst, Opitsah, das Messer, um mich zu töten, denn ich kenne dein Herz und sehe deine Gedanken. Gib mir das Messer,« sprach Quaw-te-aht und schritt auf ihn zu.

Als der Mann merkte, daß Quaw-te-aht seine Gedanken sah, fürchtete er sich sehr und wandte sich zur Flucht.

In der großen Eile ließ er das Messer fallen, und Quaw-te-aht hob es auf und warf es dem Manne nach, und es traf ihn in die Ferse.

Als das Messer in seiner Ferse stak, fing der Mann an herumzuspringen und lief in den Wald.

Quaw-te-aht sprach, um ihn für seine bösen Gedanken zu strafen: »Gehe hin und sei Mowitsch, der Hirsch, und springe immer in den Wäldern umher.« Und so wurde dieser böse Mann durch Quaw-te-ahts große Zauberkunst der erste Hirsch und springt noch immer in den Wäldern herum mit dem Messer in seiner Ferse, denn du kannst den Griff sehen; er steht gerade über dem Fuß des Hirsches heraus, wo er noch eine Zehe hat, und seine Füße sind in zwei gespalten, weil das Messer den Fuß des bösen Mannes spaltete.


  • Literatur: Philipps, Indian Fairy Tales, S. 91 ff. Vgl. oben S. 15.

c) Es war einmal ein Jäger, der war so ehrgeizig, daß er wollte, sein einziger Sohn solle sich durch Entbehrung auszeichnen, als dieser so alt war, sich durch. Fasten seinen Schutzgeist zu wählen. Nachdem er schon acht Tage gefastet hatte, drängte ihn der Vater, noch länger auszu halten. Am nächsten Tag aber, als der Vater in die Hütte trat, hatte sich die mißachtete Natur an seinem Sohn gerächt, und er flog gerade in Gestalt eines Rotkehlchens auf einen Holzblock. Doch ehe er in den Wald flog, bat er seinen Vater, nicht über die Verwandlung zu trauern. »Ich werde so glücklicher sein,« sagte er, »als ich als Mann je hätte sein können. Ich werde immer ein Freund der Menschen sein und werde in der Nähe ihrer Wohnungen bleiben. Ich konnte deinen Ehrgeiz als Krieger nicht befriedigen, aber ich will dich mit meinen Liedern erfreuen. Ich bin jetzt aller Sorgen und Schmerzen ledig, meine Nahrung finde ich in Feldern und auf Bergen, und die klare Luft ist mein Reich.«


  • Literatur: Swainson, Folklore of British Birds, p. 13 (Sage der Chippeway-Indianer).

d) Squaktktquaclt hört von einem Zauberer, der mit einem Zauberspeer auf die Schatten der Menschen wirft, die er dadurch tötet. Squaktktquaclt verwandelt sich in einen sehr schönen Fisch und verleitet den Zauberer, nach ihm mit dem Speer zu werfen, wobei dieser den Zauber verliert, denn die Spitze bleibt im Fisch stecken. Darauf kommt Squaktktquaclt als Mensch zu dem Zauberer, packt ihn beim Schopf und verwandelt ihn in einen Blauhäher, der darum einen abstehenden Federschopf auf dem Kopfe hat.


  • Literatur: Folklore 10, 213. (Aus British Columbia.)

e) ... Qäls ging weiter und kam nach K·umiē'k·en. Dort traf er einen Mann, namens Spâl. Dieser war im Begriffe, einen Hirsch abzuziehen, und Qäls sagte[443] zu ihm: »Sei vorsichtig beim Abziehen des Hirsches. Ich habe ihn getötet, mein Pfeil steckt noch drinnen. Zerbrich ihn mir ja nicht.« Spâl fuhr heftig in die Höhe und rief: »Was fällt dir ein. Ich selbst habe den Hirsch getötet. Mir gehört er, ich werde damit tun, was ich will, und du hast dich nicht darum zu kümmern!« Qäls sagte nochmals: »Hute dich und zerbrich meinen Pfeil nicht!« Aber Spâl kümmerte sich nicht um seine Worte, lud den Hirsch auf den Rücken und ging nach Hause. Qäls nahm nun vermodertes Holz und warf ein Stück auf den Rücken und eines auf das Geweih des Hirsches; dann nahm er einen Stein und zauberte ihn in den Magen des Hirsches. Als Spâl nach Hause kam, warf er seine Last nieder, nahm den Hirschmagen und ging ins Haus. Dort sagte er zu seiner Frau: »Sieh dir doch draußen den großen Hirsch an, den ich erlegt habe.« Seinem Kinde warf er den Magen zu, der gerade dessen Leib traf und es tötete, denn er war plötzlich Stein geworden. Die Frau aber fand draußen nichts als einen Haufen vermodertes Holz. Das hatte Qäls getan.

Dieser aber traf im Walde einen anderen Mann, der ebenfalls im Begriffe war, einen Hirsch abzuziehen. Qäls trat zu ihm und sprach: »Sei vorsichtig beim Abziehen des Hirsches. Ich habe ihn getötet, mein Pfeil steckt noch drinnen. Zerbrich ihn mir ja nicht.« Jener versprach darauf zu achten. Da sagte Qäls: »Lade den Hirsch auf deine Schultern und gehe nach Hause. Du wirst mich später noch wiedersehen.« Jener tat, wie ihm geheißen. Und der Hirsch wurde schwerer und schwerer, so daß er ihn schließlich kaum noch tragen konnte. Als er zu Hause ankam, rief er seine Frau und bat sie, ihm zu helfen, den Hirsch abzuladen. Da fanden sie, daß er während des Heimweges ungemein fett geworden war, und sie konnten viele Kisten mit dem Hirschfette füllen.

Als Spâl dies hörte, sandte er seinen Sohn zu seinem glücklichen Nachbar, ihm einen Fisch zu bringen, denn er hoffte, daß er etwas Fett als Gegengeschenk erhalten werde. Jener aber nahm den Fisch nicht an. Da ging Spâl selbst hinüber, ihm den Fisch anzubieten, aber er konnte den Nachbar nicht bewegen, denselben anzunehmen. Darüber schämte er sich so, daß er den Fisch fortwarf. Er ging wieder auf Jagd aus. Als er einen Hirsch erlegt hatte, trat wieder Qäls auf ihn zu und behauptete, sein Pfeil stecke in dem Hirsche. Wieder folgte Spâl nicht seinem Verlangen, auf den Pfeil zu achten, und daher verwandelte Qäls auch diesen Hirsch in vermodertes Holz. Der andere Mann dagegen folgte ihm, und er beschenkte ihn wieder, indem er das Fett des Hirsches sich vermehren ließ. Dann verwandelte er Spâl in einen Raben, den anderen aber in eine Möwe. (Sage der Cowitchin.)


  • Literatur: Boas, Indianische Sagen, S. 46.

f) K·'ā'nigyilak' kam an einen Fluß und fand dort ein Haus, dessen Tür offen stand. Drinnen erblickte er vier blinde Mädchen, die um ein Feuer saßen, in dem sie einen Stein erhitzten, um vier Wurzeln zu kochen, die in einem Holztopfe lagen. Als er näher kam, sagte die älteste: »Ich wittere K·'ā'nigyilak', er kann nicht weit von uns sein.« Er aber schlich heimlich ins Haus und nahm unbemerkt die vier Wurzeln fort. Als die Mädchen nun den glühenden Stein ins Wasser werfen wollten, fanden sie, daß ihre Wurzeln fort waren, und sie sprachen zueinander: »Wo sind unsere Wurzeln geblieben?« Da trat K·'ā'nigyilak' zu ihnen und sprach: »Wie kommt es, daß Ihr alle blind seid? Ich will Euch heilen,« und er nahm jede einzeln bei der Hand und führte sie ins Freie. Er nahm etwas Harz in den Mund, kaute darauf und spie ihnen dann auf die Augen. So wurden sie sehend. Und er[444] ergriff die Mädchen an den Beinen und warf sie in die Luft. Da wurden sie in Enten verwandelt. (Sage der Nak·o'mgyilisala.)


  • Literatur: Boas, S. 202.

g) K·'ā'nigyilak' folgte einer Einladung K·oā'k·oa's; er landete und ging ins Haus. Dort wies K·oā'k·oa ihm einen Platz am Feuer an, und K·'ā'nigyilak' setzte sich nieder. Er war eitel auf seinen Ohrenschmuck und drehte den Kopf hin und her, damit man ihn sehen sollte. Als K·oā'k·oa die Harpunenspitzen in den Ohren des Fremden erblickte, rief er: »Woher hast du deinen Ohrenschmuck bekommen?« »O«, antwortete K·'ā'nigyilak', »den trage ich schon lange, lange Jahre.« K·oā'k·oa aber schüttelte den Kopf und sagte zögernd: »Ich weiß nicht, ich habe etwas verloren, das gerade so aussieht, wie dein Ohrenschmuck.« Er war überzeugt, daß jener es ihm geraubt hatte, und ward sehr zornig. Er nahm einen Knochen, spaltete ihn in lauter dünne Nadeln und steckte diese in einen Lachs, den er K·'ā'nigyilak' vorsetzte. Als dieser anfing zu essen, blieben ihm die scharfen Splitter im Halse stecken. Er versuchte, sie auszuspeien, aber es gelang ihm nicht; sie setzten sich nur fester in seinen Schlund, und Blut quoll aus seinem Munde hervor. Da sprach er: »Warum betrügst du mich so? Ein gutes Mahl versprachst du mir zu geben, und nun machst du mich krank! Wenn du mich von den Knochensplittern befreist, will ich dir auch meinen Ohrenschmuck geben.« Da freute sich K·oā'k·oa. Er schüttelte K·'ā'nigyilak', und die Knochen fielen aus dessen Halse heraus. K·'ā'nigyilak' nahm nun die Harpunenspitzen aus seinen Ohren und drückte sie an K'oă'k'oa's Nase: »So,« rief er, »da sollen sie ewig sitzen bleiben«, und er ergriff ihn und warf ihn in die Luft. Da flog jener als Kranich davon. Seine Frau verwandelte er in einen Specht. (Sage der Nak·o'mgyilisala.)


  • Literatur: Boas, S. 201.

h) Am nächsten Morgen gingen die beiden Alten wieder zum Flusse hinunter, um zu sehen, ob Lachse gefangen wären. Und siehe, sie fanden vier Fische. Diese trugen sie nach Hause, und als sie nahe genug waren, schrie der Mann wieder. Da sagte K·'ā'nigyilak' zu seinem Bruder: »Laß uns doch sehen, wer eigentlich diese bösen Menschen sind! Komm, wir wollen uns hier, nahe dem Hause, verstecken und nicht in den Wald gehen.« Sie taten, wie K·'ā'nigyilak' geraten hatte, und da sahen sie, daß nur der Alte und seine Frau kamen, und daß sie vier schwere Lachse ins Haus trugen. Sie hörten, wie die Frau zu ihrem Manne sagte: »Nun mache rasch Feuer, wir wollen essen, ehe die Kinder zurückkommen.« Der Mann gehorchte, und dann kochten sie die Fische und fingen an zu essen. Da wurde K·'ā'nigyilak' zornig. Er nahm seinen Bogen und erschoß zuerst den Mann, dann die Frau. Dann nahm er ihre Leichname, warf sie in die Höhe, indem er sagte: »Nun fliegt davon als Vögel.« Da wurde der Mann in einen Reiher, die Frau in einen Specht verwandelt. (Nak·o'mgyilisala.)


  • Literatur: Boas, S. 195.

i) Qā'is, die Sonne, erschuf die Erde, das Meer, Menschen und Fische. Er heißt auch Qā'aqa oder slaā'lEk·am. Im Laufe der Zeit wurden die Menschen schlecht und folgten nicht mehr den Geboten Qā'is'. Da stieg dieser zur Erde herab und verwandelte alle, die schlecht oder töricht waren, in Steine und Tiere. Ein Mann hatte gehört, daß er kommen würde, und beschloß ihn zu töten. Er schärfte seine Muschelmesser auf einem Schleifsteine. Als Qā'is herankam und ihn sah, fragte er, was er tue. Jener antwortete: »Ich will Qā'is töten, wenn er kommt.« »Das ist[445] gut,« versetzte jener. »Laß mich doch deine Messer sehen.« Er gab sie ihm und dann schlug Qā'is sie ihm in die Stirn und verwandelte ihn in einen Hirsch. Der Vogel Sk·k·āk· war ein Krankenbeschwörer. Als Qā'is ihn sah, klatschte er nur in die Hände und verwandelte ihn so in einen Vogel. (Sage der Sk·qōmic.)


  • Literatur: Boas, S. 56. Vgl. S. 443.

Fußnoten

1 hinterm Zaume.


2 Pfau.


3 kleinen.


4 hör nun genau zu.


5 wird.


6 es begann zu regnen.


7 Kleid.


8 reif.


9 gelb.


10 Bauchfang.


11 Reif.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 446.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Platen, August von

Gedichte. Ausgabe 1834

Gedichte. Ausgabe 1834

Die letzte zu Lebzeiten des Autors, der 1835 starb, erschienene Lyriksammlung.

242 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon