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[43] In einigen Negermärchen, sowohl afrikanischen als auch nordamerikanischen, befreit sich der Gefangene zum Schluß aus seiner gefahrvollen Lage. Dabei weisen die Varianten 4 bis 7 verschiedene Erfindung auf, Nr. 12 begnügt sich mit einer dürftigen Andeutung. Andere dagegen stimmen in der List überein, daß sich der dem Tode Verfallene von den Tieren gerade dorthin werfen läßt, wo er entkommen kann. Dieser Schluß hat natürlich mit dem Stoff selbst nichts zu tun. Er findet sich sowohl in Afrika als auch in Amerika als selbständige Geschichte oder als Schluß zu anderen Geschichten, wie aus folgenden Beispielen hervorgeht:
1. Aus Angola.
Eine Schildkröte ist gefangen worden und soll getötet werden. Aber bei jeder Todesart, die ihr die Leute bestimmen, erklärt sie, daß sie auf diese Weise nicht sterben würde. Als man zuletzt daran denkt, sie ins Wasser zu werfen, erhebt sie zum Schein Wehklage. Im Wasser aber schwimmt sie wohlgemut davon, und seitdem lebt sie im Wasser.
[43] 2. Märchen nordamerikanischer Neger.
Der Fuchs hat das Kaninchen gefangen. Er sagt, er wolle es nicht auf die Art töten, die dem Kaninchen am unangenehmsten wäre. Das Kaninchen sagt, dann möchte er es ja nicht erst gut füttern und dann etwa an einem kalten Wintermorgen in den Schnee werfen. Der Fuchs sagt: »Grade das wollte ich tun.« Tut es, und das Kaninchen läuft fort.
Das Motiv, daß der Krebs zur Bestrafung ins Wasser geworfen wird, ist bekanntlich auch im Schildbürgerbuch (hg. von Bobertag S. 41) für einen hübschen Streich verwendet.
Die Annahme liegt nahe, daß diese Übereinstimmung zwischen den Geschichten der drei Erdteile auf ein gemeinsames Quellgebiet, das märchenreiche Indien, zurückzuführen sei. Von da aus sei das Motiv einmal nach Westen, das andere Mal über die See gewandert. In der Tat finden sich zwei Beweise dafür:
1. Aus Ceylon (Bhūridattajātaka).
... Als der König nach Benares kam, zog er in die geschmückte Stadt ein, und umgeben von 16 000 Tänzerinnen, von seinen Ministern usw. ließ er sich auf der Terrasse (?) nieder, hielt sieben Tage lang ein großes Zechgelage und ließ für seine Söhne einen Lotusteich anlegen; und diese spielten darin beständig. Eines Tages nun, als man Wasser in diesen Lotusteich ließ, geriet eine Schildkröte in denselben, und da sie keinen Ausweg sah, tauchte sie auf den Grund des Lotusteiches nieder. Als die Spielzeit der Knaben gekommen war, tauchte sie aus dem Wasser auf, streckte ihren Kopf heraus und tauchte bei ihrem Anblick wieder unters Wasser. Als die [Knaben] sie aber gesehen hatten, liefen sie entsetzt zu ihrem Vater und sagten: »Lieber Vater, im Lotusteich schreckt uns ein Yakkha«1. Der König befahl seinen Leuten: »Geht und fangt ihn!« Sie warfen ein Netz aus, nahmen die Schildkröte und zeigten sie dem König. Als die Prinzen sie gesehen hatten, schrien sie: »Das, Vater, ist der Pisāca [= Gespenst, Unhold].« Aus Liebe zu seinen Söhnen ward der König auf die Schildkröte zornig und befahl: »Geht und martert sie zu Tode (?)!« Da sagten einige: »Diese ist ein Feind des Königs. Wir sollten sie unter Mörserkeulen werfen und zu Staub zerstoßen.« Einige sagten: »Wir sollten sie dreimal kochen und dann essen.« Einige: »Wir sollten sie auf Kohlen rösten.« Einige: »Wir sollten sie in einem Topfe kochen.« Aber ein wasserscheuer Minister sagte: »Wir sollten sie in eine Stromschnelle der Yamunā werfen; dort wird sie einen schweren Tod finden. Keine ähnliche Marter2[44] gibt es für sie.« Als die Schildkröte seine Worte gehört hatte, streckte sie den Kopf heraus und sprach: »O, was habe ich dir zuleide getan, daß du mir einen so martervollen Tod ersinnst? Ich kann andere martervolle Todesarten ertragen; diese aber ist zu entsetzlich. So etwas hättest du nicht sagen sollen!« Als der König das gehört hatte, sagte er: »Eben das ziemt sich dir antun zu lassen«; und er ließ sie in die Stromschnelle der Yamunā werfen ...
Aus Jātaka No. 543, ed. Fausböll, 6. 161, 12. Die Übersetzung verdanke ich Joh. Hertel.
2. Indische Fabel aus China.
Ein Kind fängt eine Schildkröte und weiß nicht, wie es sie töten soll. Es fragt einen Mann, der ihm rät, sie ins Wasser zu werfen. Die Schildkröte wird dadurch gerettet.
Das Motiv des Brunnengrabens gehört ebenfalls einer andern selbständigen Geschichte an. Eine solche findet sich z.B. bei Jacottet, Contes populaires des Bassoutos. Hier weigert sich der Schakal, mit den andern grabenden Tieren zu arbeiten. Die Geschichte nimmt dann einen Verlauf, der hier nicht von Belang ist. Das gleiche Motiv ist uns aus Bd. III der Natursagen bekannt.
Wenig bekannt ist das folgende Märchen der Wakamba, Ostafrika.
Alle Tiere litten große Not, denn es war viele Monate Dürre. Und die Tiere kamen alle zusammen und überlegten: Was ist da zu machen? Da sagte der Löwe: »Wollen wir einen Brunnen graben, bis wir Wasser sehen, daß wir keine Not leiden?« – Da sprach das Kaninchen: »Ich bin ein König, ich werde nicht den Brunnen graben!« – Und es ging seiner Wege. Die Tiere begannen zu graben, bis sie Wasser sahen, und sie tranken dasselbe. Und des Nachts bewachte die Gazelle den Brunnen. Das Kaninchen kam und sagte zur Gazelle: »Geh' mir aus dem Wege!« Die Gazelle fragte: »Was hast du da?« – Das Kaninchen sagte: »Ein Tellerchen mit Honig.« – Die Gazelle sprach: »Gib mir doch ein wenig!« – Das Kaninchen sagte: »Lege deinen Arm auf den Kücken;« und gab ihr ein wenig. Die Gazelle schmeckte und sagte: »Das ist mal fein! Bitte noch ein wenig.« – Das Kaninchen sagte: »Lege beide Arme auf deinen Bücken.« Und sie tat so. Da band das Kaninchen die Hände zusammen und trank Wasser. So gings alle Tage. Alle Tiere wurden so von dem Kaninchen betrogen. Da hütete der Löwe den Brunnen und ergriff das Kaninchen. Der Löwe sagte: »Was soll ich dir tun?« – Das Kaninchen sagte: »Lege mich auf den Kücken und schüttle mich tüchtig, indem du mich auf die Erde wirfst; wenn du es so machst, dann werde ich sterben.« – Der Löwe tat es und warf es auf die Erde. – Da sprang das Kaninchen auf, kletterte auf einen Baum und lachte alle Tiere aus.
1 S. oben S. 28, Anm. 4.
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