13. Von Balai und von Boti

[70] Es war einmal ein König, der drei Söhne hatte. Nun geschah das, was wir erzählen wollen, zu einer Zeit, als der König schon tot war.

Also, die Söhne hörten einmal davon, daß im Süden ein König lebe, der eine Tochter habe und daß diese sich vorgenommen und ein Gelübde abgelegt habe, nur den zu heiraten, der sie im Zweikampfe besiegen würde. Der älteste Bruder beschloß, sein Glück zu versuchen; er putzte sich fein heraus, tat schöne Waffen um, setzte sich auf ein gutes Pferd und machte sich auf den Weg, nachdem er von seinen Brüdern Abschied genommen hatte.

Lange, lange war sein Ritt; breite Täler ließ er hinter sich und tiefe Schluchten, eine endlose Steppe durchquerte er. Da traf er auf seinem Wege einen alten Mann. »Wohin des Wegs, mein Sohn, wohin willst du, wenn Gott dir's erlaubt?« erkundigte sich der Alte. Der junge Mann erzählte ihm alles. »Was ist dir lieber?« frug der Alte wieder, »das Mädchen oder der Rat eines Greises?« »Ratschläge geben kann ich selber,« antwortete der Gefragte, »und das Mädchen ist mir lieber als dein Rat.«

»Gute Reise, mein Sohn.«

Weiter ritt der junge Mann und kam schließlich zur Stadt des Königs, dessen Tochter er freien wollte. Vor dem Stadttore stieg er ab und gleich kamen die Diener des Königs und nahmen ihm seine Waffen ab, führten sein Pferd am Zügel und zeigten ihm die Gastgemächer. Dann tischten sie ihm auf, was Bestes in der Küche war und brachten süßen Trank und der Vezier kam und unterhielt sich mit ihm. »Gast,« sagte dieser, als sie gegessen, getrunken und mit angenehmen Gesprächen sich die Zeit gekürzt hatten, »Gast, was ist dein Begehr?« »Ich wünsche mich mit der Tochter des Königs zu messen.«[71] »Wenn das wirklich dein Ernst ist, so wisse: morgen früh; bei Sonnenaufgang sei bereit und geh auf den Platz, wo du die Prinzessin finden wirst. Wenn dir das Glück hold ist, besiegst du sie; wenn sie aber dich besiegt, so schneidet man dir den Kopf ab und steckt ihn auf einen Pfahl.« Als er dies gesagt hatte, stand der Vezier auf und ging. Dem Gast aber gefielen diese Aussichten nicht besonders.

Die ganze Nacht konnte er nicht schlafen, aber er war am Morgen doch pünktlich zur Stelle. Und als die Sonne dem Meere entstieg, kam auch die Prinzessin an: heller als die Morgensonne glänzte ihre Rüstung. Sie trat vor, stellte sich ihrem Gegner gegenüber und entblößte ihre Brust. Der junge Mann sank ohnmächtig nieder; Sklaven eilten herbei, hieben ihm den Kopf ab und steckten ihn auf einen Pfahl.

Es verging einige Zeit, da machte sich eines Tages der mittlere Bruder auf den Weg, um sich nach seines Bruders Schicksal zu erkundigen und, wenn Gelegenheit sich böte, mit der Jungfrau zu kämpfen. Er schlug denselben Weg ein und traf denselben Greis, dem auch der älteste Bruder begegnet war. Aber wozu lange erzählen? Auch ihm kostete es den Kopf.

Lange wartete der Jüngste auf seiner Brüder Heimkehr. Schließlich wollte er selbst nachsehen, was aus ihnen geworden war; auch mit der Jungfrau sich im Zweikampf zu messen war er entschlossen. Tag und Nacht ritt er, bis er den Greis traf. »Wohin mein Sohn? Wohin des Wegs, wenn Gott dir's erlaubt?« frug ihn der Alte. Er erzählte, was er vorhabe, »Was ist dir lieber, das Mädchen oder der Rat eines Greises?« »Das Mädchen mißfällt mir nicht, aber auch den Rat eines alten Mannes höre ich gern«, gab der Jüngste zur Antwort. »So höre,« hub der Alte wieder an, »nicht durch Kraft besiegt sie ihre Gegner, sondern dadurch, daß sie ihr Hemd öffnet und ihre Brust zeigt. Das hält der stärkste Mann nicht aus. Darum, wenn sie mit dir dasselbe versucht, schlag' die Augen nieder und lauf sie an; du wirst sie leicht besiegen.«[72]

Der Jüngling dankte, trieb sein Pferd an und ritt weiter. Als er ans Tor der Königsstadt kam, stieg er ab. Und wie seinen Brüdern, so halfen die Diener auch ihm, speisten und tränkten ihn, und der Vezier kam und hielt angenehme Gespräche mit ihm ... kurz, es war alles so wie mit den beiden älteren Brüdern.

Vor Sonnenaufgang stand der Jüngste auf; mit der Sonne kam auch die Jungfrau. Ihr Hemd öffnete sie und zeigte ihre Brust; er aber sah sie gar nicht an, stürzte auf sie zu und warf sie. »Soll ich dich schonen, du Hündin oder soll ich dir den Kopf abschneiden?« frug er sie und setzte ihr den Dolch auf den Hals. »Verschone mich, ich bin dein«, bat die Besiegte. »Dann komm sofort mit mir, mich verlangt es schnell nach Hause zu kommen.« »Ich will wohl, wenn du einen Auftrag ausführst, den ich dir erteile; sonst gehe ich nicht mit und heirate dich nicht.«

»Wenn du mich besiegt hättest, so würde mein Kopf jetzt auf einem Pfahl stecken und jetzt willst du noch Dienste von mir verlangen. Es sei! Du bist ein Weib, und ich kann mich nicht wie du, auf Listen einlassen. Befiehl, was soll ich tun.« Da holte die Jungfrau aus einem Koffer einen goldenen Pantoffel heraus und warf ihn vor dem Jüngling hin. »Der andere ist verloren gegangen, such' ihn.« sagte sie.

Er steckte den Pantoffel in seinen Zwerchsack, stieg aufs Pferd und ritt weg. Lange ritt er, wenig ritt er, hohe Berge ließ er hinter sich und tiefe Schluchten, über breite Flüsse setzte er und endlose Steppen durchflog er, bis er zu einer schönen, mit Blumen bestandenen Ebene kam. Und inmitten dieser Steppe stand ein Garten, schön wie das Paradies, und im Garten waren wunderbare Zelte aufgeschlagen. An den Zelten stieg er ab, ließ sein Pferd laufen und trat ein. Alles war bereit, aber keine Menschenseele darin. In der Mitte des Zeltes plätscherte ein Brunnen. Er badete sich darin und legte sich schlafen.[73]

Nach einiger Zeit weckte ihn jemand mit einem Stoß auf. »He, Freund,« sagte der Neuangekommene, »ist es vielleicht der Garten deines Vaters, daß du dein Pferd darin herumlaufen läßt? Steh auf und zeige deine Kühnheit.« Auf sprang unser Held, sah sich um und vor ihm stand ein Jüngling mit hellstrahlendem Gesicht. »Wie willst du kämpfen, zu Fuß oder zu Pferd?« frug ihn dieser. »Zu Fuß«, lautete die Antwort. Sie faßten sich und zogen, zogen, aber keiner konnte den andern werfen. Weiter rangen sie ... es wurde Mittag, es wurde Nachmittag, schon neigte sich die Sonne dem Untergang entgegen und noch standen beide aufrecht. »Genug jetzt!« sagte der Unbekannte, »laß mich los, morgen früh komme ich wieder. Hinter jenem Hügel weiden meine Schafe, dort gehe heute abend hin und iß und trink, denn hierher kommt keiner, um dir aufzuwarten.« Sprach's und verschwand.

Unser Held ritt dahin, wo die Schafe weideten. Die Hirten kamen ihm entgegen, hielten ihm sein Pferd, nahmen ihm seinen Mantel ab, schlachteten ein Schaf, steckten die Bratspieße ans Feuer und bewirteten ihn aufs beste. Als er gegessen und getrunken hatte, gingen die Hirten weg; nur er und ein junger Mann blieben am Feuer sitzen. »Wem gehören diese Schafe?« frug unser Held. »Alle gehören sie einem Mädchen, deren Schloß nicht weit von hier ist, und dieses Schloß hüten zwei Drachen.«

Nachdem unser Held nun den Weg nach dem Schloß erfragt hatte, nahm er einen geschlachteten Hammel mit und ritt hin. Er öffnete das Tor und trat ein, da warfen sich ihm die beiden Drachen entgegen. Er riß den Hammel entzwei und warf jedem eine Hälfte hin; dann drang er weiter ins Innere des Gebäudes und fand zunächst den jungen Mann, mit dem er gerungen hatte, schlafend daliegen. Es war aber kein Mann, sondern ein Mädchen. »Steh auf, Hündin«, sagte unser Held und legte der Schlafenden die Hand auf die Brust, »ich will lieber Nachts mit dir kämpfen als am Tag.« Sofort stand das Mädchen[74] auf; sie packten sich und rangen, aber wieder konnte keiner den andern werfen. Als alle Mittel erschöpft waren, drückte unser Held des Mädchens rechte Brust – es krachte etwas, wie wenn man eine Nuß aufknackt und das Mädchen fiel nieder. »Jetzt bin ich dein, du kannst mit mir tun, was du willst,« sagte sie. Und kaum hatte sie's gesagt, da trat aus einer Ecke ein Mullah14, aus der andern dessen Budun und vollzogen die Trauung der beiden. Nun waren sie Mann und Frau.

Drei Nächte blieben sie zusammen; in der vierten machte sich unser Held fertig zur Abreise. »Wohin des Wegs, was eilst du so? Woher kamst du?« frug seine Frau. Da erzählte er ihr, was zwischen ihm und der Königstochter vorgefallen war, holte den Pantoffel aus seinem Zwerchsack und warf ihn ihr vor die Füße. »Dieser Pantoffel ist mir vom Fuße gefallen, woher hätte sie ihn sonst haben sollen«, sagte seine Frau. Suchte und gab ihm den andern.

Unser Held tat die beiden Pantoffel in seinen Sack, nahm Abschied von seiner Frau, schwang sich aufs Pferd und ritt davon.

Als er zur Königstochter kam, warf er ihr die Pantoffel hin und sagte: »Da, nimm sie!« »Gut; aber es gibt einen Mann, der heißt Balai und seine Frau heißt Boti, wenn du mir nicht erfährst, was zwischen ihnen vorgegangen ist, heirate ich dich nicht.« Unser Held schüttelte nur den Kopf, saß wieder auf und ritt einen Weg, den zuvor noch niemand betreten hatte.

Lange ritt er, kurze Zeit ritt er, Tag und Nacht ritt er, einen Weg legte er zurück von den Nüstern bis zum Mund15 und kam in ein Land, das ganz anders war, als das unsre, ein Land, in dem es Schmutz gab, wenn die Sonne schien und Staub, wenn es regnete. Er stieg ab und fesselte sein Pferd unter einem Baum, dessen Zweige sich im Himmel verloren. Er schaute sich um, er schaute hinauf und schließlich[75] sah er im Gipfel des Baumes ein Adlernest mit Jungen darin, jedes so groß wie ein Ochse. Er kletterte hinauf und hinter ihm drein ein dreiköpfiger Drache – mit einem Hieb aber schlug ihm unser Held alle dreie ab. Nach einiger Zeit kam das Adlerweibchen geflogen – von ihrem Flug schwankten Bäume und Berge – und setzte sich aufs Nest. »Willkommen Held!« rief ihm das Adlerweibchen zu, »laß mich jetzt deine Mutter sein und sei mein Sohn! Du hast den Feind meiner Kinder erlegt, befiehl! So groß auch dein Verlangen sei, ich will es erfüllen.« »Trag mich in Balais und Botis Haus«, sagte unser Held, »wenn du mir schon einen Dienst erweisen willst, so sei es dieser.« »Wenn wir dahin wollen, kehren wir beide nicht zurück, befiehl ein anderes,« sagte das Adlerweibchen, »du kannst einstweilen hierbleiben und ich werde inzwischen deinen Befehl ausführen.« »Ich habe dir keinen anderen zu geben,« antwortete unser Held, »wenn du selbst nicht mit willst, so zeige mir wenigstens den Weg dahin.« »Nein, wenn du schon in den sicheren Tod gehen willst, so darf auch ich nicht zurückbleiben; setz' dich auf meinen Rücken.«

Und das Adlerweibchen breitete seine Flügel, mit jedem Flügelschlag ließ es einen Berg hinter sich, einen Fluß, ein Land; schließlich setzte es sich auf einem hohen Hügel nieder. Vor dem Hügel stand ein Turm, der bis in den Himmel zu gehen schien. »In diesem Turm wohnen Balai und Boti,« sagte das Adlerweibchen, »geh zu ihnen, sag', was du zu sagen hast, frag', was du zu fragen hast und komm zur rechten Zeit hieher zurück; wenn du Glück hast, läßt er seine Pfeile auf dich nicht los, ehe du mich erreichst; wenn du kein Glück hast ... nun ja, vor dir ist auch keiner von ihnen je zurückgekommen und nach dir wird es keiner.« Unser Held ging zum Turm. »Nehmt ihr einen Gast auf?« frug er. »Warum denn nicht, Freund?« antwortete Balai, stand auf und nahm ihn bei der Hand, lud ihn ein sich zu setzen und frug ihn, woher er komme[76] und was sein Begehr sei. Unser Held erzählte alles aufs genaueste. »Nun, zuerst wollen wir essen«, erklärte Balai und danach erzähl ich dir, was zwischen mir und Boti vorgefallen ist. Man brachte zu essen und als die beiden fertig waren, gab Balai den Rest einem Windhund und was der übrig ließ, einer Frau, die schon halb in Stein verwandelt war und hinter der Tür stand. Sie wollte nicht essen, aber Balai nahm die Peitsche und bedrohte sie damit – und sie aß. Unser Held verlor die Geduld und frug, warum er der Frau die Reste des Hundes gebe und was ihre Schuld sei.

»Ich bin Balai,« antwortete der Hausherr, »und dies ist meine Frau.« Als wir geheiratet hatten, lebten wir lange in guter Eintracht. Dann aber wurde ihr Körper jedesmal, wenn ich mich zu ihr legte, kalt, kalt wie ein Schneehaufen, kalt wie ein Eiszapfen. (»Und wenn er weggeht, schieß ich ihm Pfeile nach«, sagte Balai dazwischen) – Ich fing an sie in Verdacht zu haben und beobachtete sie heimlich. Einmal machte ich mir nachts einen Schnitt in das Ende des Daumens und tat Salz auf die Wunde, um nicht einzuschlafen und legte mich neben sie, stellte mich aber schlafend. (Sowie er weggeht, laß ich Pfeile auf ihn los) ... Nach einiger Zeit sah ich, wie sie aufstand, sich anzog und das Haus verließ; ich stand gleichfalls auf, legte meine Waffen an und ging ihr nach. Im Stall hatte ich zwei Pferde; eines aus Wind, das andere aus Wolken; sie zog das Windpferd heraus und saß auf; ich tat dasselbe mit dem Wolkenpferd und ritt ihr nach. (So wie er weggeht, schieße ich auf ihn.) Sie voran, ich ihr nach, sie voran, ich ihr nach. Aber das Windpferd war schneller als mein Wolkenpferd; ich verlor sie zwar nicht aus den Augen, aber ich blieb doch zurück. So ritten wir und kamen zum Nartenturm. Boti band ihr Pferd unten an und stieg ins obere Stockwerk hinauf; ich tat dasselbe. (So wie er weggeht, schieße ich, auf ihn.) Sie öffnete eine Türe und ging hinein, ich stellte mich so auf, daß sie mich nicht sehen konnte, und sah ihr zu. Darin waren sieben Nartenbrüder[77] und unterhielten sich damit, sich meine Frau zuzuwerfen, wie Kinder es mit einem Ball machen. Als sie des Spiels genug hatten, aßen und tranken sie. Als sie auch damit fertig waren, kam einer der Brüder heraus; mit einem Schlag meines Schwertes hieb ich ihm den Kopf ab und so machte ich's mit sechsen von ihnen. (So wie er weggeht, schieße ich auf ihn.) Es blieben nur meine Frau und der jüngste der Narten im Zimmer. Mit dem einen werde ich sicher fertig, dachte ich und trat ein. Der Jüngste aber zog sein Schwert und lief mich an, Boti trat zur Seite und schaute uns zu. Ich schlug, er schlug; ich weiß nicht, ob ich mehr Glück oder mehr Geschick hatte, aber ich hieb ihm ein Bein ab; er fiel zu Boden und Boti lief aus dem Zimmer. (Sowie er weggeht, schieße ich auf ihn.) Ich ließ den Narten liegen und ging meiner Frau nach, aber ehe ich sie einholen konnte, hatte sie sich auf ihr Windpferd gesetzt und ritt davon. Ich auf mein Wolkenpferd und hinter ihr drein. Sie kam vor mir nach Hause, nahm meine Zauberpeitsche in die Hand und wartete auf mich; kaum war ich im Zimmer, als sie mich damit schlug und dazu sagte: ›Verwandle dich in eine trächtige Hündin‹, und ich ward zur Hündin. (So wie er weggeht, schieße ich auf ihn.) Sieben Jahre blieb ich als Hündin bei der Schafherde; im achten schlug sie mich wieder mit der Zauberpeitsche und sagte: ›Jetzt bist du lange genug eine Hündin gewesen, werde jetzt ein Maulesel.‹ Ich wurde ein Maulesel und schleppte sieben Jahre lang Holz für die Hirten. Dann schlug sie mich ein drittes Mal und ich verwandelte mich in einen Habicht. Ich flog gleich nach Hause; nach einiger Zeit kam auch Boti, hing die Peitsche an einem Nagel auf und ging hinaus. Ich flog an die Peitsche, schlug daran und sagte: ›Verwandle mich in den früheren Balai.‹ So geschah es. (Sowie er weggeht, schieße ich auf ihn.) Ich nahm die Peitsche und stürzte mich auf meine Frau; sie wich eilends zurück, tat einen schrecklichen Schrei und stürzte bewußtlos zu Boden.[78] ›Fürchte dich nicht,‹ sagte ich zu ihr, ›ich erschlage dich nicht, aber das sollst du erdulden, was ich durchgemacht habe. Verwandle dich in eine trächtige Hündin.‹ Und solange ich selbst die Schafe hüten mußte, solange mußte sie es tun. Dann verwandelte ich sie in ein Maultier, dann in ein halb menschliches, halb steineres Wesen, und das ist sie jetzt, und zu essen bekommt sie nach den Hunden. (Sowie er weggeht, schieße ich auf ihn.) Und jetzt wisse: Die Königstochter, die deine Brüder umgebracht hat, ist eine Schwester Botis. Und den Narten, dem ich ein Bein abgehauen habe, den halt sie sich heimlich als Mann, im Keller, unter dem Zimmer, in dem sie selbst wohnt, und einen Sohn hat sie von ihm. Jetzt weißt du, was zwischen Balai und Boti vorgefallen ist; aber ... (Sowie er weggeht, schieße ich auf ihn.)

Als Balai geendet hatte, sagte unser Held: »Darf ich jetzt dein Haus und deinen Hof sehen?« Er ging hinaus und lief so rasch er konnte zu der Adlerin. Gleich nahm sie ihn auf den Rücken und trug ihn mit mächtigen Flügelschlägen davon. Hohe Berge ließ sie hinter sich und tiefe Schluchten, sie flog, als ob der Sturm sie trüge.

Balai aber wartete immer noch auf seinen Gast, der Haus und Hof sich ansah, wie er glaubte. Lange wartete er, bis Mittag wartete er ... aber der Gast kam nicht. »Was wohl mit ihm geschehen sein mag?« sagte Balai und ging auf die Suche. Aber umsonst. Als Balai begriff, daß sein Gast verschwunden war, schoß er ihm einen Pfeil nach und der traf die Adlerin in den einen Flügel. Wie aus einem zerrissenen Kissen flogen die Federn. »Hat er dich getroffen?« frug die Adlerin unseren Helden. »Nein, unter dem linken Ohr ist der Pfeil vorbeigeflogen«, antwortete dieser, »und hat mir die Haare weggerissen; wie geht's dir?« »Die Knochen sind heil,« sagte die Adlerin, »wenn wir Glück haben, schießt er nicht mehr.« Und Balai schoß nicht mehr; die Adlerin trug unseren Helden in des Königs Stadt und flog dann nach Hause.[79]

Unser Held aber versammelte alle, die da in der Stadt waren; den König, die Veziere und alles Volk und führte sie zu der Prinzessin. Dort erzählte er alles, was er von Balai erfahren hatte. Die Prinzessin aber verlegte sich aufs Leugnen. »Das ist alles erlogen,« sagte sie, »du hast Balai gar nicht gesehen, denn niemand kann seinem Pfeil entgehen. Wie bist du seinem Schuß entkommen?« »Wenn du wissen willst, wer lügt,« sagte unser Held zum König, »so schau doch in den Keller unter dem Zimmer deiner Tochter, dort muß der sein, dem Balai ein Bein abgehauen hat und der jetzt der lahme Gatte deiner Tochter ist, dort muß auch ihr Sohn sein. Wenn ich gelogen habe, magst du mich töten; wenn ich aber die Wahrheit gesagt habe, so bring diese Hündin um.« Furchtbar erbleichte da die Prinzessin. Aber das half ihr nichts; man suchte nach und fand bestätigt, was unser Held erzählt hatte. »Du hast mir Schimpf und Schaden auf mein Haupt gebracht«, sagte der König und erschlug seine Tochter; unser Held aber machte dem Narten und seinem Sohn den Garaus.

Nach all diesen Taten und nachdem er unversehrt so vielen Gefahren entronnen war, holte sich unser Held seine Frau und wurde König in seinem Lande.

14

Mohammedanischer Geistlicher; der Budun ist dessen Gehilfe, Assistent.

15

Scherzhafter Ausdruck für einen sehr weiten Weg.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 70-80.
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