14. Die jungfräuliche Königin

[80] Es war einmal – die Sonne brannte heiß, der Regen floß in Strömen – es war einmal ein König. Selbst war er verständig und das Gesetz war streng; Volk und Land gehorchten ihm. Drei Söhne hatte er. Da geschah es einst, daß er blind wurde und eine Krankheit sich seines Körpers bemächtigte. Seine Söhne berieten sich miteinander und gingen dann zu ihrem Vater. »Vater,« sagten sie zu ihm, »gibt es denn kein Mittel, um dich wieder sehend zu machen?[80] Gibt es keine Arznei für deine Krankheit? Befiehl, und wenn wir auch das Leben lassen müßten, wir suchen und finden, was dir frommt.« »Bringt mir Früchte aus dem Garten der Jungfräulichen Königin, das ist das einzige Mittel für meine Augen und meinen Körper«, antwortete der König.

Zuerst schickte sich der älteste Sohn an, den Auftrag auszuführen. Er bestieg ein gutes Pferd, legte gute Waffen an und gab seinem Tier die Peitsche. Über unsern Berg ritt er, über fremde Berge ritt er, über den Elsterberg, den Dohlenberg, den Schneeberg, den Eisberg. Hinter diesem traf er einen Greis mit schneeweißem Bart, der saß da und nähte die Spalten im Wege zusammen, die sich von der Hitze gebildet hatten. »Sei gegrüßt, Alter; möge dir dein Werk nicht gelingen«, sagte der Reiter. »Sei auch du gegrüßt, mein Sohn, möge auch dein Werk nicht gelingen«, antwortete der Greis.

Weiter ritt, weiter galoppierte unser Reiter und kam schließlich in ein Land, wo Milchströme flossen und die Traube im Winter reifte. Wunderbare Gärten fand er dort und darin alle Früchte, die es auf der weiten Welt gab. »Wenn die Jungfräuliche Königin Gärten hat, so müssen es diese sein«, dachte er, füllte seine Satteltaschen mit allerlei Obst und ritt nach Hause.

»Sei gegrüßt, Vater!« sagte er und überreichte ihm die Tasche. »Sei auch du gegrüßt, mein Sohn! Warum so spät zurück, warum so schnell wieder da?« »S'ist wahr, Vater, ich war an einem Ort, wo Milchströme fließen und die Traube im Winter reift; dort fand ich wunderbare Gärten. Und wenn die Jungfräuliche Königin Gärten hat, so müßten es diese sein, dachte ich und pflückte Früchte, und da sind sie jetzt.« »O weh, mein Sohn! weit ist's bis zu den Gärten der Jungfräulichen Königin, der Ort, wo du warst, den kenn' ich auch; da war ich oft in meiner Jugend und kam in weniger Zeit hin, als bei uns die Klöße brauchen, um zu kochen.«[81]

Nun brach der mittlere Sohn auf; sein gutes Pferd bestieg er, seine besten Waffen tat er um, gab seinem Tier die Peitsche und ritt weg. Und hinter dem Eisberg fand er den Alten, der den Weg nähte. »Sei gegrüßt, Alter, möge dein Werk nicht gelingen!« sagte der Reiter. »Sei gegrüßt, mein Sohn, möge auch dein Werk nicht gelingen!« antwortete der Alte.

Weiter ritt, weiter galoppierte unser Reiter und ritt durch das Land, wo im Winter die Traube reift und kam in ein anderes, wo ein Ölstrom floß, wo zugleich Schmutz war bis ans Knie und Staub von der Trockenheit, Solche Gärten fand er dort, daß er alle Gärten vergaß, die er je gesehen hatte, und Obst gab es darin, wie man nur im Paradies welches finden kann. Er füllte seine Satteltasche damit und ritt heim. »Sei gegrüßt, Vater!« sagte er und reichte ihm die Tasche. »Sei auch du gegrüßt, mein Sohn! Warum so spät zurück, warum so schnell wieder da?« »S'ist wahr, Vater, ich ritt über den Milchfluß und durch das Land, wo im Winter die Traube reift und kam in eine Gegend, wo ein Ölstrom fließt, wo der Schmutz mir bis an die Knie ging und die Luft voller Staub war. Dort fand ich einen Garten, wie ein Paradies, der, dacht' ich, ist der Garten der Jungfräulichen Königin, und dort hab' ich Obst gepflückt, und da ist es jetzt.«

»O weh, mein Sohn!« antwortete der König, »in das Land, wo du warst, bin ich in meiner Jugend oft geritten, in weniger Zeit als man braucht, um eine Pfeife Tabak zu rauchen; von da ist's auch noch weit bis zu den Gärten der Jungfräulichen Königin.«

Und nun machte sich der jüngste Sohn auf den Weg. Als er hinter dem Eisberg war, fand er den Alten, der den Weg nähte. »Sei gegrüßt, Vater, möge dir dein Werk gelingen!« sagte er. »Sei auch du gegrüßt, mein Sohn, möge auch dir dein Werk gelingen!« antwortete der Alte. »Weißt du mir nicht einen Rat, Alter,« fuhr der Jüngste fort, »ich will in den Garten der Jungfräulichen Königin[82] und dort Obst holen.« »Gewiß, mein Sohn, nicht einen, sondern drei Ratschläge gebe ich dir. Hör' zu! Du kommst an den Milchfluß und an den Ölfluß und dann an den Honigfluß, dann hast du noch so weit wie von zu Hause bis dahin und dann kommst du an einen kristallenen, einen silbernen und einen goldenen Turm, die sind so hoch, daß sie bis zum Himmel zu reichen scheinen; das sind die Türme, in denen die Jungfräuliche Königin lebt. Du findest ein eisernes Schloß; glaub' nicht, du könntest es mit der Hand öffnen, nein, in einen Stock schlag einen Nagel und damit öffne es. Wenn du in den Garten kommst, wickle dir Gras um die Füße. Und die Früchte pflücke ja nicht mit der Hand, spalte einen Stock am einen Ende auf und damit pflücke die Früchte.« »Danke dir, mein Vater!« sagte der Jüngste und gab seinem Pferd die Peitsche.

Über den Milchfluß, über den Ölfluß, über den Honigfluß setzte er und erreichte in der Dämmerung die Türme der Jungfräulichen Königin. Er band sein Pferd an einen Pfosten, schlug einen Nagel in einen Stock und stieß ihn ins Schloß. »Eisen vergewaltigt uns, Eisen vergewaltigt uns«, rief das Schloß. »Wer soll denn Eisen vergewaltigen, wenn nicht wieder Eisen?« sagte drinnen im Turm die Jungfräuliche Königin, »schweigt und laßt mich schlafen.« (Sie glaubte nämlich, eine Hälfte des Schlosses habe auf die andere gedrückt.) Der Jüngste umwickelte sich die Füße mit Gras und trat in den Garten. »Gras vergewaltigt uns, Gras vergewaltigt uns!« wehklagten die Gräser des Gartens. »Natürlich, Gras vergewaltigt Gras,« sagte die Königin, »laßt mich schlafen.« (Sie glaubte nämlich, die Gräser des Gartens drückten selbst aufeinander.) Dann nahm der Jüngste ein Stück Holz, spaltete es an einem Ende auf und pflückte Obst damit. »Holz vergewaltigt uns, Holz vergewaltigt uns«, riefen da alle Bäume im Garten. »Nun, das versteht sich doch von selbst, daß Holz auf Holz drückt,« sagte die Königin, »laßt mich schlafen!« (Sie dachte eben, ein Ast schlüge den anderen.)[83]

Als der Jüngste sein Obst gepflückt hatte, bestieg er sein Pferd und wollte schon nach Hause, als ihm einfiel, daß er doch unbedingt die Jungfräuliche Königin sehen müsse und sollte es ihn auch das Leben kosten. Er ging also die Treppen hinauf und trat ein und sah sie: auf einem goldenen Bette lag sie, auf der Stirn hatte sie einen Stern und unter der Achsel glänzte ihr ein Mond; ihren Leib konnte man mit zwei Fingern umfassen und wenn man sie wieder los ließ, füllte sie die ganze Welt. Ihr zu Füßen und zu Häupten standen goldene und silberne Leuchter; in der Mitte war ein gedeckter Tisch und darauf ein gefüllter Becher; allerlei Speisen gab es da und allerlei Getränke, nur Widwidmilch16 schien zu fehlen. Und damit die Bewohner des Turmes auch wüßten, daß er dagewesen, ließ der Jüngste sich's gut schmecken, dann küßte er die Schlafende dreimal und biß sie in die Wange, aber sie wachte nicht auf.

Und dann ging's nach Hause, zum Vater. »Sei gegrüßt, Vater«, sagte er und reichte ihm die Tasche. »Sei auch du gegrüßt, mein Sohn! Warum so spät zurück, warum so schnell wieder da?« »Vater, ich war im Garten der Jungfräulichen Königin und habe Früchte für dich geholt; mögen sie dir als Arznei dienen.« Der Vater betastete die Früchte und sagte: »Gut, mein Sohn; meine Augen werden jetzt wieder sehend und mein Körper gesund werden.«

Als die Jungfräuliche Königin ausgeschlafen hatte, schaute sie in den Spiegel und sah den Biß auf ihrer Wange. Dann untersuchte sie die Speisen und die Getränke auf dem Tisch und bemerkte, daß jemand davon genossen hatte. Sie wandte sich an ihren Spiegel und frug ihn, wer dagewesen sei, und der Spiegel erzählte ihr alles. Sieben Reiche nannte sie ihr eigen, aus allen sieben sammelte sie die Heere und zog mit ihnen ins Land des blinden Königs. Vor dessen Hauptstadt schlug sie ihr Lager auf und sandte ihm Botschaft, er möge ihr sofort den herschicken, der in ihrem Garten Früchte gepflückt habe, Zuerst ging der älteste Sohn zu[84] ihr und behauptete, er sei es gewesen. »Höre, tapferer Recke,« sagte sie zu ihm, »wie hast du das Obst gepflückt?«

»Wie ich's gepflückt habe? Mit meinen Händen natürlich!«

»Stimmt nicht, Bester, geh nur wiederheim«, antwortete sie.

Nun meldete sich der mittlere Bruder, aber auch der wurde wieder heimgeschickt.

Zuletzt kam der Jüngste. »Höre, tapferer Recke, hast du Früchte gepflückt in meinem Garten?« »Wer denn sonst, als ich?« antwortete er. »Und wie hast du sie gepflückt?« fragte sie weiter. Er erzählte ihr genau, wie er's gemacht hatte. Dann stand sie auf, küßte ihn dreimal vor allem Volk und biß ihn in die eine Wange, dann küßte sie ihn noch dreimal und biß ihn in die andere Wange und sagte: »Nach Brauch und Sitte hat man das Recht, Gestohlenes doppelt zurückzuverlangen.«

Und dann gingen sie Arm in Arm zum blinden König. Die Jungfräuliche Königin fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und dann strich sie mit derselben Hand über Gesicht und Körper des alten Königs. Und sofort wurde dieser sehend und die Krankheit wich von ihm. Stark wie ein Büffel wurde er.

Dann aber heiratete der Jüngste seine Königin. Söhne bekamen sie, die dem Vater, und Töchter, die der Mutter glichen in allen Stücken. Und heute noch leben sie in Glück und Zufriedenheit.

16

Was das eigentlich ist, weiß niemand.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 80-85.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Cleopatra. Trauerspiel

Cleopatra. Trauerspiel

Nach Caesars Ermordung macht Cleopatra Marcus Antonius zur ihrem Geliebten um ihre Macht im Ptolemäerreichs zu erhalten. Als der jedoch die Seeschlacht bei Actium verliert und die römischen Truppen des Octavius unaufhaltsam vordrängen verleitet sie Antonius zum Selbstmord.

212 Seiten, 10.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon