16. Arsuman

[86] Es war einmal ein Ehepaar, das hatte einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn hieß Arsuman.

Eines Tages wurde die Frau krank und sagte zu ihrem Manne: »Ich will Fleisch haben.« »Was für ein Fleisch willst du?« fragte er. »Ich will Fleisch von Arsuman haben«, antwortete sie. Der Mann nahm seinen Sohn, schlachtete ihn und gab seiner Frau davon zu essen. Die Tochter sagte, als sie nach Hause kam: »Mutter, ich habe Hunger«. »Dort in der Wandnische steht deine Suppe, nimm sie dir und iß«, antwortete die Mutter. Als nun die Tochter ihre Suppe aß, sah sie darin einen kleinen Finger liegen. »Das ist der kleine Finger meines Bruders«, sagte sie, wickelte ihn in einen Lappen und trug ihn in die Kirche. Dort verwandelte sich der kleine Finger in einen Vogel.

Der Vogel flog weg und zuerst zu einem Stoffwarenhändler. »Was gibst du mir, wenn ich dir ein Liedchen singe«, frug der Vogel. »Ein Stückchen Seide«, antwortete der Kaufmann. Und der Vogel hub an zu singen:
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Ich bin ein kleiner Vogel, Vogel, Vogel,

Ich bin ein Tirilili, tirili!

Und geschlachtet hat mich Vater,

Und gegessen hat mich Mutter,

Schwesterchen mir Gutes tat17

Ich bin ein kleiner Vogel!


Als er seine Seide bekommen hatte, flog er zu einem Nadler und frug: »Was gibst du mir, wenn ich dir ein Liedchen singe?« »Ein Schächtelchen Nadeln«, war die Antwort. Und wieder sang der Vogel:


Ich bin ein kleiner Vogel, Vogel, Vogel,

Ich bin ein Tirilili, tirili!

Und geschlachtet hat mich Vater,

Und gegessen hat mich Mutter,

Schwesterchen mir Gutes tat.

Ich bin ein kleiner Vogel!


Als er seine Nadeln bekommen hatte, flog er zu einem Schuster, sang sein Liedchen und bekam ein Paar Schuhe. Von da flog er zu einem Stecknadelmacher, sang sein Liedchen und bekam ein Bündel Stecknadeln. Von da flog er auf das Dach seines väterlichen Hauses, setzte sich und rief: »Vater, schau doch herauf!« Der Vater sagte: »Möge ich dir ein Opfer sein. Ich fürchte mich.« »Fürchte nichts, halte dir ein Sieb vor das Gesicht und schau.«

Und als der Vater hinauf schaute, warf er ihm die Nadeln ins Gesicht und blendete ihn. Dann rief er seine Mutter und blendete sie mit den Stecknadeln. Dann aber rief er seine Schwester und sagte ihr, sie solle den Saum ihres Kleides aufheben, er wolle ihr etwas schenken. Und warf ihr die Seide und die Schuhe hinab und flog davon und ward nicht mehr gesehen.

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Im Text: lies: machte mich fliegen.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 86-87.
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