47. Tod des Chämyts

[175] In der Stadt Týnty lebte ein Mälik. Eines Tages kam Chämyts zu ihm und sagte; »Hier sind wir42 Herr, außer uns gibt es keinen Herrn«. Da befahl der Mälik seinen Leuten: »Bringt mir mal diesen Hundesohn her, der da gesagt hat, außer ihnen gäbe es keinen Herrn!« Aber wen er auch schickte, alle erschlug Chämyts und ließ ihm noch eine Botschaft überbringen, er gebe ihm eine Woche Zeit, dann solle er sich auf dem kabardinischen Feld stellen.

Drei Tage vor Ablauf der Frist aber überlegte sich der Mälik die Sache: »Ja, Chämyts ist stark, ich will doch lieber eine weise Frau fragen, vielleicht verrät sie mir ein Mittel.« Die weise Frau war gerne bereit und sagte ihm: »Chämytsens Pferd ist Teufelsbrut; nimm ein Wolfsfell und hänge es dem deinen an den Hals, dann kann Chämytsens Pferd sich dir nicht von vorne zeigen.«

Der Mälik befolgte den Rat und traf sich dann mit Chämyts am ausgemachten Ort. Das Pferd Chämyts aber wollte seine Vorderseite dem Mälik nicht zuwenden, sondern drehte sich um und floh im Galopp, ohne daß Chämyts es anhalten konnte. Der Mälik aber holte diesen ein, erschlug ihn und band seine Leiche auf dem Pferde fest. Dies lief mit dem Leichnam nach Hause, auf Chämytsens Hof, blieb an der Türe stehen und wieherte.

»Das ist das Wiehern unseres Pferdes«, sagten die Verwandten des Erschlagenen, »das kommt doch zu früh zurück.« Wie sie hinauskamen, sahen sie, was geschehen war; das Pferd stand da mit dem Leichnam.

»Wenn du von hinten erschlagen worden bist,« sagten sie, »so möge es dir in der Unterwelt gut gehen43, wenn von vorne, so mögen dich die Teufel holen! Aber von vorn[176] konnte dich niemand bezwingen, mit List haben sie dich hinterrücks erschlagen.« Nun kamen die Narten zum Schluß, sie müßten mit dem Mälik der Stadt Týnty Krieg führen, konnten das aber nicht gleich tun, weil Batrás nicht da war. Der war nämlich gerade bei Kurdálägon. Doch versammelten sie gleich ihren Heereshaufen und schickten den Abendwind zum Morgenwind, der Morgenwind solle zu Batrás gehen und ihm sagen: »Der Mälik hat deinen Vater erschlagen und wir greifen Týnty an; wenn du sitzest, steh' auf und komm, wenn du stehst, setze dich nicht mehr, komm' schnell!« Als Batrás vom Morgenwind erfuhr, daß sein Vater erschlagen sei, stand er auf, um seine Rüstung anzulegen. Aber die hatte ihm seine Geliebte im Schlafzimmer versteckt. Batrás brach die Türe auf, ging hinein und holte sich Gewehr, Schwert und Schild. Als er vom Himmel auf die Erde herabkam, brannte er; er brach sich einen halben Gletscher ab und legte ihn sich auf den Kopf. Dann ging er zu den Narten: »Zu was braucht ihr mich?« frug er, »scherzt ihr mit mir? Wann war je ein Mensch stärker als Chämyts?« »Warum sollten wir's dir nicht sagen?« antworteten die Narten, »deinen Vater hat der Mälik von Týnty erschlagen.«

Und Batrás machte sich auf, seinen Vater zu rächen.

42

Nämlich »die Narten«.

43

Damit geben wir den Sinn des ossetischen ruchsag u = sei hell wieder, das man dem Verstorbenen als Wunsch zuruft.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 175-177.
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