Totenlied.

[278] 1. Weh, du bist hingeschieden,

Wehe, du dahin mein Vater!

Was soll noch das Leben mir?

Hin ist deine edle Seele!

Und das Teil, das dir gewährt

Von des Allerhöchsten Hand,

Ist dahin und aufgezehrt,

Und kein weitres Teil beschieden.
[278]

2. Vor dem Tode graute dir,

Hingest liebevoll am Leben;

Doch umsonst war dein Verlangen,

Deine Seele ist dahin!

Alle, die geboren werden,

Sind zum Sterben nur geboren.

Rastlos eilen hin die Jahre;

Ach, wie schnell entflohen deine!

Wie der stolze Königsaar

Stattlich kreist im Himmelsraum,

Schweiftest du umher auf Erden.


3. Weh der Kranz der schönsten Perlen,

Unserer Kinder Halsgeschmeide,

Ist zerrissen und verstreut.

Weh! Der Spiegel klar und helle

Ist entfallen unseren Händen,

Ist in Stücke nun zerbrochen.

Weh! Des Höchsten Feuerflammen

Schlugen an der Berge Riesen,

Seinen Gipfel unversehens

In die Tiefe niederschleudernd.


4. Wie der Feinde böse Rotte.

Nachts in Friedensstätten einbricht

Und die Hausbewohner tötet,

So ist Gott der Herr gekommen,

Wie ein Dieb in finstrer Nacht.

Wie des Berges blum'ge Triften

In des Sommers heissen Tagen

Leergebrannt und öde stehen,

So ist unser Haus verödet

Vater, durch dein schnelles Ende!

Wie im Juni Sturmestoben

Der Bananen saft'ge Stämme[279]

Knickend niederstreckt zu Boden,

Also wardst du hingerissen!


5. Wenn des Regens schwere Fluthen

Uns die Hütte weggerissen,

Drinn wir unser Brennholz bargen,

Ist das ganze Haus voll Klage;A1

Wenn in Trümmer fällt die Halle,

Drin die Bürger sich versammeln,

Ist die ganze Stadt voll Klage;

Wenn gebrochen ist der Tempel

Und der Vorhof leer und öde,

Ist das ganze Land voll Klage:

Also Vater, hat dein Tod

Unser Haus erfüllt mit Klage!


6. Wie der Lampe schönes Licht

Ausgelöscht wird mit der HandA2,

Also, Vater, hat der Herr

Ausgelöscht dein Lebenslicht.

Wie des Urwalds stolzer Riese,

Den das Eisen nie berührt hat,

Mit der Wurzel ausgerissen,

Krachend niederstürzt zu Boden;

Wie das schönste Blatt der Krone

Von dem Blütenbaume Campak

Abgebrochen fällt zur Erde,

Also wardst du hingerissen.


7. In den Tagen deines Lebens

Warst du unsere starke Stütze;[280]

Unser Feld hast du bepflanzst,

Hast des Hauses Grund geleget,

Und den edlen Bau vollendet

Bis zum Dach mit seinem Schnitzwerk.


8. Wehe! Wehe! gestern, Vater,

Sankest stöhnend du darnieder;

Heute stehst du vor den Füssen

Des allmächt'gen Herrn und Schöpfers;

Morgen, gleich der goldnen Sonne

Scheidend in den Abendwolken,

Sinkest du hinab ins Grab!

Weh! du bist hingeschieden!

Wehe! du dahin mein Vater!


Fußnoten

A1 Wenn das im Sommer gefällte und in Schrippen aufgespeicherte Brennholz während der Regenzeit nass wird, ist es fast unmöglich dasselbe wieder zu trocknen.


A2 Die Hindus blasen nie ein Licht aus, sondern löschen dasselbe durch Wehen mit der Hand.


Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 281.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Feldblumen

Feldblumen

Der junge Wiener Maler Albrecht schreibt im Sommer 1834 neunzehn Briefe an seinen Freund Titus, die er mit den Namen von Feldblumen überschreibt und darin überschwänglich von seiner Liebe zu Angela schwärmt. Bis er diese in den Armen eines anderen findet.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon