III. Erzählung.

[16] Abermals gieng er in der früheren Weise hin und nachdem er am Fusse des Baumes die laut tönenden Worte gesprochen, kam Siddhi-k ýr herabgestiegen. Er steckte ihn in seinen Sack, band diesen mit dem Seile zu und lud ihn auf den Rücken; als Siddhi-k ýr während des Weges ebenso wie früher gesprochen, gab der Chân mit dem Kopfe das Zeichen. Da begann Siddhi-k ýr wieder eine Erzählung.

Früh vor Zeiten lebte einmal an einem grossen langen Fluss ein unverheirateter Mann. Dieser besass an Habe und Vieh nichts als eine einzige Kuh. Als er einst, um die Kuh zu befruchten, nach allen Seiten einen Stier suchte, ohne ihn gefunden zu haben, dachte er ganz traurig bei sich: »Wenn in dieser meiner Kuh kein Kalb sich bildet, so werde ich, weil Butter und Milch dann nicht zu Stande kommen können, vor Hunger und Durst sterben. Nun gibt es kein anderes Mittel mehr: ich selbst werde sie besteigen.« Indem er das so überlegte, bestieg er selbst seine Kuh. Als nun die Monde voll waren und die Zeit der Geburt herangerückt war, gieng er zu seiner Kuh hin, wobei er sich allerlei Gedanken darüber machte, was das wohl für eine Kalbsgeburt sein werde. Da war denn der Leib eines Menschen Leib, der Kopf aber war wie der Kopf eines Rindes gestaltet, dabei langgeschwänzt: solch ein Wesen wurde zur Welt gebracht. Bei dessen Anblick ward der Vater sehr ungehalten und indem er eben im Begriffe stand ihn mit einem Pfeile zu tödten, da sprach der Sohn: »Mein Vater, tödte mich nicht, ich werde es dir gewiss lohnen.« Nach diesen Worten machte er sich davon in den Wald. Als er dort angekommen, sah er[16] am Fuss eines Baumes einen schwarzfarbigen Menschen sitzen. Massang mit dem Rinderkopf fragte diesen: »Wer bist du?« »Ich bin«, erwiederte jener, »ein dem Walde entstammender vollkommen ausgewachsener Mensch.« Massang sagte weiter: »Wohin willst du gehen? ich will dein Gefährte werden.«

Indem nun beide als Gefährten mit einander wanderten, erblickten sie auf einem grossen Rasenplatze einen grünfarbigen Menschen sitzen. »Wer bist du?« fragten sie ihn. »Ich bin«, antwortete er, »ein dem Rasen entstammender Mensch, ich will euer Gefährte werden.« Alle drei schlössen nun Freundschaft.

Auf ihrer weiteren Wanderung gelangten sie zu einem Krystallhaufen. Da gewahrten sie einen weissfarbigen Menschen; sie fragten ihn: »Wer bist du?« »Vom Krystall«, sprach er, »bin ich geboren, ich will mich euch gleichfalls anschliessen.«

Indem nun alle vier als Gefährten dahinzogen, gelangten sie an einen grossen öden Fluss. Daselbst befand sich niemand; aber auf der Randspitze eines Berges sahen sie eine kleine Hütte stehen. Als sie dahin kamen, fanden sie darinnen Essen und Trinken, alle nothwendigen Bedürfnisse und Gegenstände für das Innere, und im Hofe Vieh und andere dergleichen Habe in Menge. Davon ergriffen sie Besitz und liessen sich da nieder. Alle Tage giengen je drei auf die Jagd und immer einer hütete das Haus.

Eines Tages hütete der waldentsprossene Grossjährige das Haus. Eben hatte er Butter geschlagen und sass mit dem Kochen des Fleisches beschäftigt da, als an der Thüre ein Geräusch machend eine Alte auf einer angesetzten Leiter herankam. »Wer da?« rief er, und als er aufblickend hinsah, war es eine spannenlange Alte, die mit einem Bündel so gross wie eine Bohne von Eselsmist auf dem Rücken daher kam. »Ah«, rief sie aus, »so ein Bursche sitzt Fleisch kochend da!« »Lass doch«, sprach sie zu ihm, »deine gesäuerte Milch und dein Fleisch kosten.« Kaum hatte er ihr aber ein wenig zu kosten gegeben, da war das Essen verschwunden und die Alte auch sofort wieder hinabgestiegen. Weil nun seine gesäuerte Milch und sein Fleisch weg war, so schämte er sich; bei der Durchmusterung all seiner Habseligkeiten fand er zwei Pferdehufe; damit machte er rings um das Haus viele Spuren und schoss die eigenen Pfeile in den Hof. Bald darauf kamen die Jäger zurück. »Wo ist«, fragten sie, »deine aus der Milch gestampfte Butter und das Fleisch?« Jener antwortete: »Heute sind[17] Männer mit einem Hundert Pferde gekommen, sie umringten unsere Behausung, nahmen Milch und Fleisch weg und liessen mich, nachdem sie mich so lange geschlagen, bis ich mich nicht mehr rühren konnte liegen. Geht alle hinaus und sehet nach.« So sprach er. Da giengen die Gefährten hinaus und als sie sich umschauten und die Pferdespuren und im Haushof die Pfeilschüsse gewahrten, da sprachen sie zu einander: »Seine Worte sind wahr«.

Den folgenden Tag, als der vom Rasen stammende Gefährte das Haus hütete, gieng es ebenso, wie es am vorigen Tage gegangen. Mit zwei Rinderklauen aber machte er zahlreiche Spuren wie von Rindertritten in den Boden, und seinen Gefährten erzählte er die Lüge: »Männer mit einem Hundert beladener Rinder sind gekommen, haben mich niedergeschlagen und das Essen geraubt.«

Tags darauf hinwiederum, als der Krystallgeborne das Haus hütete, und sich dasselbe wie früher zutrug, führte dieser die Gefährten durch runde in die Erde eingedrückte Spuren von Maulthierklauen irre und erzählte ihnen die Lüge: »Männer mit einem Hundert beladener Maulthiere sind gekommen, haben mich geschlagen und mein Essen weggenommen.«

Den folgenden Tag als Massang zu Hanse blieb und so dasass frisch drauf los seine gesäuerte Milch ausspülend, kam die Alte wieder. »Ah, solch ein Bursche«, rief sie, »sitzt heute da! Lass gesäuerte Milch und Fleisch kosten.« Doch Massang dachte im Herzen: »Sicherlich ist diese Alte auch zu den andern drei gekommen; wenn ich ihr zu kosten gebe, so kann man nicht wissen, wie es ablaufen wird.« Er sprach daher zu der Alten: »Hole mir erst Wasser, bevor du das Essen kostest.« Mit diesen Worten reichte er ihr einen durchlöcherten Eimer. Als die Alte Wasser zu holen weggegangen war, da sah Massang, indem er ihr verstohlen nachblickte, wie die im Umfang nur eine Spanne messende Alte wie zu einem Sack in die Luft sich emporreckend mit dem Eimer Wasser schöpfte, dieses sich aber immer wieder verlor, und wie sie dann jedesmal wieder von neuem schöpfte. Inzwischen durchstöberte er das Bündel der Alten, nahm daraus einen Sehnenstrick und einen eiserne Zange und vertauschte sie mit einem morschen Hanfstrick, einem hölzernen Hammer und einer hölzernen Zange. Als darauf die Alte zurückkam, sprach sie: »In deinem Eimer bleibt kein Wasser haften. Wenn du mir jetzt deine Speisen nicht zu kosten gibst, so sind alle diese Sachen sammt dem Essen mein. Wir[18] beide wollen es auf eine Probe unserer Kraft ankommen lassen.« Die Alte band nun Massang mit dem morschen Hanfstrick, aber Massang drehte ihn um und riss ihn entzwei. Nachdem aber Massang die Alte mit dem Sehnenstrick so fest gebunden hatte, dass sie sich nicht mehr rühren konnte, da sprach die Alte: »Hierin hast du gesiegt. Jetzt aber wollen wir uns mit den Nägeln kneifen.« Die Alte zwickte nun mit der hölzernen Zange Massang in die Brust, ohne dass ihm ein Leid geschah. Als aber Massang der Alten Brust mit der eisernen Zange packte, sie umdrehte und anzog, da ward ihr ein topfgrosses Stück Fleisch herausgerissen. Die Alte rief unter gewaltigen Schmerzen: »Wahrlich, du bist ein grobfäustiger Kerl! Jetzt wollen wir hauen.« Als sie aber auf Massangs Brust mit dem hölzernen Hammer loshieb, brach der Stiel ab und es geschah ihm nicht das geringste Leid. Nun schlug er mit dem eisernen Hammer, den er im Feuer glühend gemacht, auf Leib und Kopf der Alten los; da strömte ihr das Blut hervor und eiligst hinabspringend ergriff sie die Flucht.

Inzwischen waren die Gefährten, die auf die Jagd gegangen, zurückgekehrt. »Nun,« fragten sie, »Massang, du hast sicher was ausgestanden?« »Ihr armen Wichte«, rief er, »ihr habt Lügen gesprochen und euch nicht als Männer benommen, ich habe diese Alte gebändigt; jetzt lasst uns aufbrechen ihre Leiche zu suchen.« Als sie den Blutspuren folgend durch eine gewaltige furchtbare Felsenspalte hineinsahen, erblickten sie auf dem Grunde in einer Tiefe gleich einem zehn Stock hohen Hause die Leiche der Alten unter Gold und Edelsteinen, Panzern und dergleichen unzählbaren kostbaren Dingen liegen. Bei diesem Anblick sprach Massang: »Steigt ihr drei hinab und reicht mir die Schätze, sie an ein Seil bindend, in die Höhe, ich werde sie heraufziehen; wo nicht, so zieht ihr sie herauf und ich werde sie euch reichen.« Die drei erwiederten: »Jene Alte ist eine weibliche Schumnu, wir können nicht gehen, Massang, du musst dich dran machen.« Da liess sich Massang an einem Seile hinab und reichte ihnen die Sachen nach oben. Kaum war er damit fertig, so verabredeten sich die drei Gefährten in böser Absicht unter einander und sprachen: »Wenn wir den Massang heraufziehen, so lassen wir die Sachen ihm zufallen; wenn wir drei allein davon Gebrauch machen, das wäre das richtige.« Und so liessen sie den Massang, ohne ihn heraufzuziehen, in der Felsenhöhle zurück. Da dachte Massang in seinem Innern: »Die drei haben in böser Absicht gehandelt. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben.«[19] Indem er aber daran dachte, ob sich wohl in diesem Felsengewölbe etwas zu essen vorfinde, da fanden sich, als er nachsuchte, Kirschkerne. Diese grub er in die Erde ein und sie verscharrend befeuchtete er sie mit seinem eigenen Wasser und sprach: »Wenn ich wirklich und wahrhaftig Massang bin, so mögen bei meinem Erwachen diese drei Kirschkerne drei grosse Bäume sein! Wenn ich dagegen ein anderer bin, so möge ich sterben!«

Nachdem er diesen Wunsch ausgesprochen, legte er sich, die Leiche der Alten als Kopfkissen benutzend, zum Schlummer nieder. Da aber die Berührung mit der Leiche ihn gewaltig verunreinigt hatte, schlief er viele Jahre lang. Als er beim Erwachen drei Kirschbäume bis zur Öffnung der Felshöhle emporgewachsen sah, freute er sich in seinem Herzen, kletterte hinauf und stieg hinaus. Er schritt jener früheren Behausung zu, doch war niemand darin; dagegen gewahrte er seinen eigenen eisernen Bogen sammt Pfeilen, diesen nahm er und gieng weiter. Von seinen früheren drei Gefährten aber hatte sich jeder ein Weib genommen, ein Haus gebaut und sich darin niedergelassen. Indem er zu ihren Wohnungen gelangte, keiner von den dreien aber da war, fragte er die Frauen: »Wohin sind eure Männer gegangen?« »Auf die Jagd«, war die Antwort, »sind sie gegangen.« Da nahm er seinen eisernen Bogen sammt Pfeilen und gieng sie aufzusuchen. Diese kamen eben von der Jagd mit Wildpret zurück; Massang beabsichtigte schon seinen eisernen Bogen auf sie abzuschiessen, als die drei also zu ihm sprachen: »Du bist im Recht; nimm du unser Haus und Vieh; wir wollen dir alles abtreten und fortziehen.« Doch Massang erwiederte: »Von euch Freunden war die That nicht schön; indess ich muss aufbrechen, um dem Vater meinen Dank abzustatten; lebet fort in der bisherigen Weise.« Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg.

Auf seiner Wanderung traf er ein reizendes Mädchen, das aus einer Quelle Wasser geholt; indem sie dahin wandelte, sah er mit Verwunderung, wie unter jedem ihrer Tritte immer eine Blume nach der andern hervorsprosste. Ihr folgend gelangte Massang in den Götterhimmel. Da sprach der gewaltige Churmusta: »Dass du gekommen, ist sehr gut. Gegenwärtig haben wir jeden Tag mit den schwarzen Schumnu Kämpfe zu bestehen; morgen kannst du es mit ansehen, den nächsten Tag musst du unser Gefährte werden.«

Tags darauf nun verfolgten die weissen Stiere in der Frühe die schwarzen nach jener Seite hin, gegen Abend aber trieben die schwarzen[20] Stiere die weissen nach dieser Seite zurück. Churmusta sprach: »Die weissen Stiere sind die Götter, die schwarzen Stiere sind die Schramm. Wenn heute die schwarzen Stiere uns hieher zurücktreiben, so spanne deinen eisernen Bogen, während du sie bis auf Spannweite einholst; auf der Stirne eines der schwarzen Stiere befindet sich ein Strahlenauge, auf dieses ziele du los.« Also gebot er. Diesem Befehle gemäss schoss Massang den Pfeil ab und traf den Augen strahl auf der Stirne des schwarzen Stieres, welcher unter fürchterlichem Geheul eiligst die Flucht ergriff. Darüber hatte Churmusta eine grosse Freude und sprach zu Massang: »Du hast eine hohe Belohnung verdient, so wohne denn bei mir immerdar.« Trotz dieses Anerbietens war Massang nicht dazu zu bewegen. »Ich muss«, sprach er, »mich auf den Weg machen, um dem Vater meinen Dank abzustatten.« Als er, zur Belohnung einen göttlichen Talisman in Empfang nehmend, aufzubrechen im Begriffe war, sprach Churmusta zu ihm: »Unterwegs wirst du vom Schlaf übermannt dich verirren; und wenn du nun zu der Schumnu-Pforte gelangst, so wirst du dir dadurch, dass du fliehen willst, die Sache nicht leichter machen; klopfe vielmehr an die Pforte und sage: ›Ich bin ein Arzt.‹ Kommst du dann zum Schumnu-Chân, um den Pfeilschuss zu untersuchen, so stelle dich, als wollest du den Pfeil herausziehen, streue aus der Hand sieben Körner gen Himmel, stoss dann aber den Pfeil so tüchtig, dass er in den Kopf eindringt und tödte auf diese Weise den Chân.« Also gebot er ihm.

Massang brach auf, verfehlte, wie ihm vorausgesagt worden, den Weg, gelangte vor die Schumnu-Pforte und klopfte an das Thor. Da trat eine Feuer aus dem Munde flammende weibliche Schumnu heraus und fragte: »Was verstehst du?« Auf seine Antwort: »Ich bin ein Arzt«, liess sie ihn in das Haus eintreten und zeigte ihm den vom Pfeile getroffenen Chân.

Kaum hatte er an dem Pfeile gezogen, so sagte der Chân freudig: »Ein wenig fühle ich mich schon erleichtert.« Doch plötzlich stiess Massang den Pfeil tiefer hinein, so dass er bis mitten in das Gehirn drang. Auf das Streuen der Gerstenkörner kam vom Himmel klirrend eine eiserne Kette herabgefallen. Kaum aber hatte die weibliche Schumnu nach derselben ihn greifen lassen, da schlug sie mit einem eisernen Hammer ihn auf die Lenden, so dass vom Schlage die Funken aufsprühten, die aufgefangen und als sieben Sterne (Siebengestirn) an den Himmel entrückt wurden.[21]

»So hat er also,« fragte bei diesen Worten der Erzählung der Chânssohn, »dem Vater nicht mehr seinen Dank abgestattet?«

Da sprach Siddhi-k ýr: »Sein Glück verscherzend hat der Chân seinem Munde Worte entschlüpfen lassen« und mit dem Ausruf: »In der Welt nicht zu bleiben ist gut!« stürmte er, sich losmachend, flugs davon.

Aus Siddhi-k ýr's Erzählungen das dritte Capitel: Massang's Abenteuer.

Quelle:
Jülg, B[ernhard]: Kalmükische Märchen. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1866, S. 16-22.
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