XVII. Erzählung.
Der Vielfrass.

[16] Abermals verfuhr er in der Art und Weise den Weg zu wandeln wie bisher; an Ort und Stelle gelangt, lud er sich den Siddhi-K ýr auf den Rücken und zog mit ihm dahin. Da der Tag lang war. so wurde ihnen die Zeit lang. Auf Siddhi-K ýr's Aufforderung an den Chân, eine schöne Geschichte zu erzählen, antwortete dieser nichts. Da sagte Siddhi-K ýr: »Wenn du erzählen willst, so gib ein Zeichen; willst du dagegen zu mir sagen: ›erzähle du‹, so gib mir das durch eine auf mich weisende Rückbewegung mit dem Hinterhaupt zu verstehen«. Und nachdem der in Wohlstand und Glück wandelnde Chân das Hinterhaupt rückwärts bewegend auf Siddhi-K ýr hingedeutet, so machte es dieser wie früher das erste Mal. Desshalb musste der Chân abermals in den kühlen Todtenhain, um den Siddhi-K ýr zu holen. Dort angelangt nahm er ihn auf den Rücken und während sie des Weges zogen, erzählte Siddhi-K ýr folgende Geschichte.[16]

Wieder einmal früh vor Zeiten lebten in einer Stadt Nordindiens mit Namen Tabun Minggan (die 5000 zählende) ein Greis mit seiner Frau, die kinderlos waren. Sie besassen keine andere Habe als bloss neun Kühe. Da der Alte ein Liebhaber von Fleisch war, so pflegte er alle Kälber, sobald sie zur Welt gekommen waren, zu schlachten und zu verzehren; die Alte aber pflegte sich nur von der aus der Milch geschlagenen Butter zu nähren. Einmal dachte der Alte bei sich: »Ich will von den neun Kühen eine schlachten und das Fleisch verzehren. Zwischen der Zahl acht und neun, was ist da für ein Unterschied? Wenn es die andern Leute bemerkt haben, wird es heissen: ›acht bis neun Kühe‹; was ist das für ein Unterschied?« Und so schlachtete er eine von seinen Kühen und verzehrte sie. Als er mit dem Verzehren des Fleisches derselben zu Ende war, schlachtete er abermals eine seiner Kühe. »Sieben oder acht, was macht das wohl für einen Unterschied?« sagte er, schlachtete eine und verzehrte sie. Abermals dachte er: »Zwischen sechs und sieben, was ist da für ein Unterschied?« Und so schlachtete er ausser einer Kuh die übrigen ohne Ausnahme und verzehrte sie. Da nur noch eine einzige von ihren Kühen übrig war, so konnte es die Alte nicht mehr länger aushalten; wo sie nur immer hingieng, da führte sie ihre Kuh mit sich. Einstmals aber, da der Alte betrunken sich schlafen gelegt hatte, gieng die Alte aus, um Wasser zu holen, bei welcher Gelegenheit sie die Kuh zu Hause zurückliess.[17] Kaum war sie fortgegangen, so stund der Alte auf und schlachtete die Kuh. Als die Alte mit dem Wasser zurückkam und sah, dass ihre Kuh geschlachtet sei, so brach sie in Weinen aus und versank in bittern Kummer. »Womit«, sprach sie, »soll ich auf dieser Welt mein Leben fristen? eine einzige Kuh war mir noch übrig geblieben, und die hast du geschlachtet und aufgezehrt!« Während sie bei diesen Worten hastig davon lief, schnitt der Alte von der Kuh seiner Frau noch ein Euter ab und warf es vor sie hin. Die Alte hob das Euter auf, begab sich in ihrem Kummer in eine Einöde und gelangte dort zu einer Felsenhöhle. Hier wendete sie sich in aufrichtigem Gebete an die drei kostbaren Kleinodien und an die Beherrscher des Himmels und der Erde und flehte zu ihnen also: »Jetzt hast du, mein Alter, mich um das letzte gebracht, was mir zum Unterhalt auf dieser Welt noch übrig geblieben. Gewähret nun ihr, ihr drei kostbaren Kleinodien an der Spitze, und du, Himmel und Erde, im Vereine mit einander mir gnädig das erforderliche Mass an lebenfristendem Unterhalt!« Dabei schlug sie mit dem Kuheuter an den Fels, allein sie war nicht mehr im Stand, das Euter abzunehmen. Wie sie daran melkte, strömte Milch heraus; indem sie, diese Milch rührend, Butter zu gewinnen suchte, kam in der That Butter in reichlicher Menge zum Vorschein.

Einstmals dachte die Frau: »Mein Alter könnte vielleicht Hungers sterben« und machte sich mit einem[18] Schlauch Butter auf den Weg. Sie stieg auf das Dach der Wohnung und als sie durch ein oben befindliches Loch hinab blickte, da sass eben der Alte damit beschäftigt, Asche mit einem hölzernen Löffel zu schöpfen und sie in seine Schale zu thun, wobei er die Worte sprach: »Das esse ich heute, und das esse ich morgen«. Da warf sie ihren Butterschlauch von der Decke der Hütte hinab und eilte rasch von dannen. Der Alte aber dachte: »Wer beschert mir diese Grabe, der Himmel oder die Erde?« Nach einiger Zeit kam ihm der Gedanke: »Gewiss hat meine liebreiche Alte, indem sie dachte, dass ihr Alter hätte Hungers sterben können, mich damit überrascht! Wenn heute Nacht Schnee gefallen, will ich ihren Spuren nachgehen«. Und als in der That in dieser Nacht Schnee gefallen war, gieng er auch sofort den Spuren nach. Er gelangte zu der Felsenhöhle und fand daselbst von der Frau aufgehäufte Butter in reichlicher Menge. Als er das am Felsen haftende Euter gewahrte, schnitt er es unwillkürlich mit dem Messer ab und verzehrte es. Die Alte, hierüber aufgebracht, lief ihm eiligst davon, er aber lud sich sofort die Butter der Frau auf den Rücken und trug sie nach Hause.

Die Frau war, nachdem sie flüchtig geworden, an einen ausgedehnten unzugänglichen quellreichen Wiesengrund gelangt, wo ein Rudel Hirschkühe weidete. Obgleich die Alte an die Hirschkühe herantrat, so ergriffen diese doch nicht die Flucht; und wiewohl sie sie an Nase und Mund anfasste, wurden sie doch nicht scheu. Desshalb[19] machte sie sich daran die Hindinnen zu melken, und gewann daraus Butter in reichlicher Menge. Nach einiger Zeit nahm die Alte einen Schlauch Butter und gieng damit abermals zu ihrem Mann. Als sie in gleicher Weise wie früher zusah, und ihn abermals damit beschäftigt fand, die Asche in Portionen für morgen und übermorgen mit dem Löffel einzutheilen, da warf sie ihm durch den Rauchfang der Hütte ihren Schlauch mit Butter zu und eilte rasch davon. Da aber in dieser Nacht Schnee gefallen war, so war er auf den Spuren folgend ihr nachgegangen und gelangte zur Melkstätte der Hirschkühe. Kaum war er angelangt, als er sein Messer hervorzog und den Hindinnen den Garaus machte. Abermals floh die Alte in heftige Klagen ausbrechend auf und davon und gelangte auf einer grossen sonnigen Berghalde in eine Felskluft, in welcher sie Häute und Fleisch fand, woran sie sich sättigte, so gut es eben für sie angieng. Da sie daselbst keine Stelle finden könnte, um sich heimlich zu bergen, so kroch sie in das Heu, das in der Höhle ausgebreitet war, und lagerte sich darin. Diese Felskluft war eine Höhle, wo alle wilden Thiere sich versammelten. So erschienen denn auch in dieser Nacht Löwe, Tiger, Bär und alle dergleichen reissenden Thiere dort zur Versammlung. Der Wächter der Höhle war aber ein Hase. Nach dem Abendessen, da der Hase nichts davon ahnte, dass die Alte sich eingeschlichen, als bereits alle versammelt waren, knisterte das Heu in der Nähe des Hasen. Da sprach[20] er zum Tiger: »Mein theurer, was war das wohl hier?« »Hast du denn nicht«, erwiederte der Tiger, »das Haus gehütet? morgen bei Licht wollen wir die Sache aufklären und untersuchen«. Als es hell geworden, wühlten sie im Heu umher und hielten Nachforschung. Und wie sie da die Alte im Heu entdeckten, gerieth der Tiger in Zorn und verschlang die Alte mit Haut und Haaren. Da sprach der Hase: »Wenn du die Alte nicht verschlungen hättest, so hätte sie die Wächterin unserer Höhle werden können. Was für einen Vortheil hast du davon, sie verschlungen zu haben?« Der Tiger fand diese Bemerkung des Hasen richtig und würgte die Alte wieder heraus. Weil sie noch lebendig zum Vorschein kam, so bestellten sie die Alte als Wächterin, wobei sie ihr einschärften, über die Felsenhöhle strenge Aufsicht zu führen, und wer auch immer komme, niemanden einzulassen.

In der Folge machte sich die Alte wieder einmal bei einer Gelegenheit auf und gieng in derselben Weise wie früher zu ihrem Mann, indem sie für ihn einen Wildschlägel mitnahm. Als sie vom Dache der Hütte hinab sah, war der Alte auch diesmal wie früher damit beschäftigt, die Asche mit dem Löffel einzutheilen. Die Alte warf die Keule durch den Rauchfang hinab und eilte wieder von dannen. Da rief der Alte: »Wer sollte diese Gabe hieher spenden, der Himmel oder die Erde? Gewiss hat meine liebreiche Alte sie mir beschert«. Da in dieser Nacht Schnee gefallen war, so folgte er wieder[21] den Spuren der Alten und gelangte zur Wildhöhle. Die Alte aber sprach grollend zu ihrem Manne: »Warum bist du hieher gekommen? Hier ist ja der Sammelplatz der reissenden Thiere; sie werden uns alle beide sicherlich auffressen«. »Wenn sie dich nicht aufgefressen haben«, versetzte der Alte, »warum sollten sie da mich auffressen?« Mit diesen Worten trat er ihr entgegen. Sie versteckte den Alten ins Heu. Als nun in der Nacht die wilden Thiere wieder daselbst zusammen gekommen waren und sich lagerten, sagte auf einmal der Hase zum Tiger: »Mein theurer! in unserer Behausung muss irgend etwas liegen, sieh doch einmal zu«. Abermals versetzte dieser: »Was auch immer hier sein mag, wir wollen morgen früh zusehen«. Als es sich nun neuerdings regte, wiederholte der Hase dasselbe wie zuvor. Wiederum sagte der Tiger: »Bei Tagesanbruch wollen wir die Sache aufklären und untersuchen«. Als sie in der Frühe, nachdem es hell geworden, zusahen, fand sich natürlich der Alte. Man zog ihn hervor und die Versammlung der Thiere erkannte zu Recht: »Wenn noch mehr Menschen ausser ihm kommen, so werden sie uns nur Nachtheil bringen«. In Folge dieses Urtheilsspruches zerfleischten sie beide, den Alten und die Alte, und zerstreuten sich dann, ein jedes nach seinem Lieblingsplatz.

Bei diesen Worten der Erzählung rief der mit Glück und Wohlstand gesegnete Chân: »Weil dieser Mann unsere Freundin gänzlich dem Elend preisgegeben hatte,[22] so haben die wilden Thiere zuletzt die Alte zerfleischt!« und Siddhi-K ýr versetzte: »Sein Glück verscherzend hat der Chân seinem Munde Worte entschlüpfen lassen!« und mit dem Ausruf: »In der Welt bleibe ich nicht!« flog er durch die Lüfte davon.

Quelle:
Jülg, Bernhard: Mongolische Märchen. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Universitäts-Buchhandlung, 1868, S. 16-23.
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