IV.

[14] Es waren einmal zwei, die liebten einander. Da sagten die Verwandten zu dem Mädchen: »Wir wollen dich in die Familie des Ḥadschi-Bek verheiraten«. Sie antwortete: »Ich mag keinen andern als den, welchen ich liebe«. Aber man weigerte sich, sie dem jungen Manne, dem Ssêfdîn-Agha, zur Frau zu geben. Jedoch die beiden liessen nicht von einander. Da kam ein Statthalter in ihre Gegend und zwar in das Haus des Ḥadschi-Bek. Dessen Leute sagten zum Statthalter: »Jener Ssêfdîn-Agha ist militärpflichtig, stecke ihn unter die Soldaten«. Der Statthalter tat dies und steckte ihn unter die Consignirten in ein Haus, an dessen Thüre Schildwachen waren. Ssêfdîn-Agha aber hatte einen Dolch bei sich; einmal ging er heraus, um ein Bedürfniss zu befriedigen, und entfloh; als die Soldaten ihn verfolgten, tödtete er sechs derselben mit seinem Dolche; aber man packte ihn und tat ihn wieder unter die Consignirten. Da ging Särîfe (so hiess seine Geliebte) zum Statthalter und sprach: »Statthalter!« »Was gibt's?« »Ich verlange von dir und flehe dich an, dass du Ssêfdîn-Agha[14] freilässest«. »Das geht nicht an«, erwiderte dieser, »denn er hat sechs Männer getödtet«. Sie sagte: »Ich will dir dafür einen halben Scheffel voll Goldstücke zum Geschenk geben«. »Es geht nicht an«, antwortete er. – Darnach machte sich der Statthalter mit seinen Soldaten auf und liess auch die Consignirten mit sich ziehen; so reisten sie von Stadt zu Stadt. Särîfe aber zog mit ihnen, und in jeder Stadt, wohin sie kam, flehte sie den jeweiligen Statthalter an, aber sie drang mit ihren Bitten nicht durch, bis sie nach Kars gelangten an der Grenze der Russen. Da gingen sie zum Oberstatthalter, der direct unter dem Befehl des Sultans steht. Särîfe aber schlich sich unter die Consignirten und sagte zu Ssêfdîn-Agha: »Gib mir deine Kleider und nimm die meinigen«. Ssêfdîn-Agha tauschte mit ihr seine Kleider; er zog Weiberkleider an, und sie zog Soldatenkleider an. Sie gab ihm die Weisung: »Geh in die Stadt, miete dir ein Haus und wohne darin, bis wir sehen, wie die Sache sich gestaltet«. Hierauf ging er hin und mietete ein Haus in der Nähe des Regierungspalastes. Weli-Pascha (der Oberstatthalter) aber sprach zu Kerîm-Pascha, den Obersten und Hauptleuten: »Holt die neuen Soldaten herbei und exercirt sie ein«. Da brachten sie dieselben heran, und unter ihnen befand sich Särîfe in Soldatenuniform; jeder Unterofficier nahm sich zehn und exercirte dieselben ein, wärend Weli-Pascha die Soldaten und das Exerciren der Rekruten inspicirte. Der Unterofficier aber, der die Särîfe unter sich hatte, gab ihr viel Schläge; denn er wusste nicht, dass sie ein Weib war; wenn die Soldaten den rechten Fuss vorsetzten, so setzte Särîfe den linken vor und brachte Fehler in's Exerciren. Da, sagte der Wachtmeister zu den Hauptleuten: »Kommt und seht; dieser Mann da will gar nichts lernen«. Die Hauptleute sagten es den Obersten, auch diese kamen und sahen zu, und wärend Weli-Pascha inspicirte, gingen die Obersten auf das Mädchen los und schlugen es heftig mit der flachen Klinge; da griff sie an ihre Brust und entblösste dieselbe; so ging sie an den Sitz des Oberstatthalters heran und rief: »Verzeihung, Herr, ich bin ein Weib«, indem sie auf ihre Brust wies. Da wurde Weli-Pascha zornig und wollte fünf Statthaltern den Kopf abschlagen lassen, indem er sagte: »Steckt ihr denn nun auch noch die Weiber unter die Soldaten!« Sie aber sagte: »Nein, mein Herr, ich will es dir erzälen, gib mir die Erlaubniss dazu«. »Rede«, befal er. Sie erzälte: »Ich hatte einen Verlobten, der nicht militärpflichtig war, den aber die Leute des Dorfes unter die Soldaten brachten. Da habe ich die Statthalter angefleht; aber sie haben[15] ihn nicht losgelassen; ich jedoch liess nicht von ihm ab, bin bis hierher mit ihm gekommen und habe mich an seinen Platz gestellt«. »Wo ist er?« fragte der Pascha. »Er wohnt hier«, antwortete sie. »Rufe ihn«, befal er; »wenn er schön ist, wie du, so will ich ihn freilassen; wenn er aber hässlich ist, so stecke ich ihn unter die Soldaten«. »So möge es geschehen«, entgegnete sie und rief ihn. Da legte jener seine Kleider an und trat vor den Statthalter; dieser betrachtete ihn und sagte: »Warlich, es ist ein schöner Jüngling; der passt zum Soldaten, aber ich habe ihn dir zum Geschenk gemacht«. Darauf küsste sie die Hand des Statthalters und sagte: »O Herr, ich habe noch die Bitte an dich, dass du mir einen Schein ausstellst und darauf das Siegel der Regierung drückst, damit Niemand ihn wieder ergreifen lasse«. Da schrieb er ihr den Schein und gab ihn ihr; sie aber kehrte nach Hause zurück, und sie heirateten einander.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 14-16.
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