XLVII.

[192] Es war einmal einer Namens Ḥassan, der hatte keine Eltern mehr, sondern stand ganz allein in der Welt. Jeden Tag pflegte er auf Raub auszugehen. Einst kam eine Karavane; einem Manne derselben fiel die Last [vom Maultier] hinunter, und während er sie wieder auflud, zogen seine Gefährten weiter und liessen ihn hinter sich zurück. Als er mit Aufladen fertig war und ihnen nachzog, kam er an einer durch einen Blitzschlag entstandenen Grube vorbei und entdeckte in derselben einen eisernen Spiess. Er stieg in die Grube hinab, holte den Spiess heraus und schlug damit seinem Maultiere auf den Rücken, [um schneller weiter zu kommen]. Der aber zerbrach. Wie er nun gerade über dieses Unglück zu weinen anfing, da kam Ḥassan auf einem Gaul herangeritten. »Wesshalb weinst du?« fragte er ihn. »O Gott!« antwortete er, »ich fand einen Spiess in dieser Grube da, holte ihn heraus und schlug damit meinem Maultiere auf den Rücken; davon zerbrach der Rücken; meine Gefährten sind weiter gezogen und haben mich zurückgelassen.« »Nimm dir meinen Gaul,« entgegnete Ḥassan »und gib mir dafür den Spiess und das Maultier.« »Topp!« sagte der Mann. Ḥassan gab ihm den Gaul, sie luden ihm die Last auf, und jener zog seines Weges. Ḥassan aber nahm das Maultier und den Spiess mit nach Hause – er hatte erkannt, dass er aus Blitzmaterie war. Dort holte er zehn Goldstücke, begab sich nach Sse'ört, ging zu den Schwertfegern und sagte ihnen: »Macht mir aus diesem Eisen ein Schwert!« Aber alle, die es ansahen, erklärten, sie könnten das nicht. Da brachte er es zu einem Meister und fragte den: »Kannst du hieraus ein Schwert machen?« »Ja.« »Sag, wie viel du dafür haben musst.« »Zehn Goldstücke!« »Einverstanden! aber mach mir vorher einen Pfriem davon, und dann will ich gehen.« Als der Meister ihm den Pfriem gemacht hatte, steckte Ḥassan ihn zu sich und begab sich nach Hause. Dort blieb er zehn Tage, dann wollte er nach seinem Schwerte sehen und kam zum Schmied. »Meister!« sagte er. »Ja!« »Hast du das Schwert gemacht?« »Ja!« »Dann hol's heraus.« Da brachte er ihm ein schönes Schwert, Ḥassan aber schlug mit dem Pfriem darauf, und[192] dieser durchbohrte es. »Das ist nicht mein Schwert, Meister!« erklärte er. »Gewiss!« »Nein! hol mir mein Schwert heraus.« Da brachte ihm der Schmied das Schwert; Ḥassan schlug wieder mit dem Pfriem darauf, diesmal drang er nicht durch. »Das ist mein Schwert!« sagte er, nahm es, bezalte den Schmied und ging nach Hause. Dort holte er vierhundert Piaster, ging nach Sse'ört und kaufte sich ein Füllen. Dieses fütterte er gross und zog es auf, bis dass es geritten werden konnte; dann kaufte er ihm einen Sattel, legte ihn ihm auf, bestieg es, hing sich sein Schwert um die Schulter und zog auf die Landstrassen, um zu plündern.

Einmal kam ein alter Mann von der Mühle; Ḥassan überfiel ihn und nahm ihm die Säcke und den Esel ab. »Ḥassan!« sagte der Alte, »ich bin arm, Familienvater, und du nimmst mir meine Säcke, du, der du doch ein Ritter bist; es gibt einen, Gändsch-Chalîl-Agha nennen sie ihn, unter den Druſen, er hat die Tôren-'Aischane geheiratet, jener ist ein tapferer Held, ich bin ein armer Teufel.« Da gab Ḥassan dem Armen den Esel samt der Last zurück, machte sich auf und ging nachfragen, wo die Druſen wohnten. »Immer, gerade aus!« sagte man ihm, »da ist Gändsch-Chalîl-Agha, ein trefflicher Mann.« –. In jenen Tagen sagte Tôren-'Aischane zu Gändsch-Chalîl-Agha: »Ritter, es gibt einen Namens Ḥassan unter den Alekî, tapferer als dieser ist Niemand; wollte Gott er käme her und ihr zwei schlösset Brüderschaft, dann vermöchte die ganze Welt nichts gegen euch.« »Wo ist der denn?« fragte jener. »In seinem Lande.« –. Ḥassan aber war unterwegs; er begegnete einer Karavane – »Holla! Reitersmann!« warnten ihn deren Leute »wohin eilst du so wie besessen? Wenn dich Gändsch-Chalîl-Agha trifft, tödtet er dich und nimmt dir dein Pferd weg.« »Ich suche ihn«, erwiderte er. »Ganz nach Belieben,« sagten die Leute. –. Als Ḥassan weiter auf's Gebirge kam, sah er eine Lanze in der Erde stecken und an ihr ein Pferd angebunden; und Gändsch-Chalîl-Agha lag da neben dem Pferde und schlief. Im Schlafe merkte er nicht, wie Ḥassan zu ihm kam. Der aber stieg vom Pferde und packte ihn am Fusse, da sprang Gändsch-Chalîl-Agha auf, bestieg sein Pferd, auch Ḥassan sass wieder auf, sie zogen die Schwerter und Gändsch-Chalîl-Agha rief: »Ich bin Gändsch-Chalîl-Agha.« »Ich dagegen bin Ḥassan«, sagte dieser. Da küssten sie einander und gingen zu Tôren-'Aischane. Die sass unter einem Baldachin; jener hatte sie nämlich ihrem Vater mit Gewalt geraubt und ihr einen Baldachin ausserhalb der Stadt aufgerichtet. Gändsch-Chalîl-Agha sprengte nun voraus und sagte ihr: »Mache[193] einen Sitz zurecht und setze Kaffe aufs Feuer, Ḥassan ist zu uns gekommen.« Da ging Tôren-'Aischane hinaus an die Thüre, schaute aus und sah, wie Ḥassan zu Pferde angekommen war: da brach sie in Jubel aus. Nun stieg Ḥassan ab, sie setzten sich, tranken Kaffe, assen und vergnügten sich mit Lachen und Tändeln. Tôren-'Aischane aber sagte: »Ihr zwei seid jetzt zusammengekommen, ich wünsche nichts mehr in der Welt.« –.

Nach einiger Zeit kam Ḥadschi-Bedrân-Agha, das Haupt einer Karavane, und brachte Waren von Baghdad nach Stambul. Der hatte zehn Lasten süsser Aepfel mit sich. Tôren-'Aischane sagte zu ihren beiden Helden: »Meine Augäpfel sollt ihr werden, wenn ihr diesem Kaufmann Aepfel stehlt.« Er war vor dem Stadtthore abgestiegen, sie hatten die Säcke abgeladen und sich schlafen gelegt. Als es Mitternacht war, kamen Ḥassan und Gändsch-Chalîl-Agha, stalen die Säcke mit den Aepfeln und brachten sie unter den Baldachin. Bei Tagesanbruch erhob sich Ḥadschi-Bedrân-Agha und befal seinen Dienern aufzuladen. Als sie sich dazu anschickten, konnten sie die Säcke mit den Aepfeln nicht finden. »Herr!« sagten sie. »Ja!« »Man hat die Säcke mit den Aepfeln gestolen.« Da zog er seine Stiefel an und begab sich zum Fürsten der Stadt. »In deiner Stadt«, sagte er ihm, »hat man mir zehn Lasten süsser Aepfel gestolen.« Da schickte der Fürst die Ausrufer durch die Stadt, sie forschten in der ganzen Stadt umher, aber da war keiner, der gestolen hatte. »Freundchen«, sagte der Fürst, »Niemand aus der Stadt hat etwas gestolen, aber da sind zwei draussen vor der Stadt, das sind Räuber, die plündern die Leute aus, und wir können nicht gegen sie an, die haben deine Aepfel gestolen.« »Wo sind sie?« fragte der Kaufmann. »Sie wohnen da in der Bingôle.« –. Am Morgen waren Gändsch-Chalîl-Agha und Ḥassan auf die Jagd gegangen. Ḥadschi-Bedrân-Agha ging nun mit den Soldaten, die er bei sich hatte, zum Baldachin der Tôren-'Aischane und fragte diese nach den Beiden. Sie antwortete, sie seien auf die Jagd gegangen. Ḥadschi-Bedrân-Agha befal, sie und den Baldachin aufzuheben und auf die Maultiere zu binden. Seine Leute banden den Baldachin auf die Maultiere, Tôren-'Aischane sass darunter, und so führte Ḥadschi-Bedrân-Agha sie fort als Ersatz für die Aepfel. Unterwegs erblickte Tôren-'Aischane einen Grindkopf, den rief sie an: »Grindkopf.« »Ja!« »Geh in's Gebirge, wenn du Gändsch-Chalîl-Agha und Ḥassan findest, so sage ihnen: Warhaftig, Ḥadschi-Bedrân-Agha hat Tôren-'Aischane und den Baldachin geraubt, eilt ihnen nach.« Der Grindkopf ging hin, suchte und fand[194] die Beiden. »Ihr Ritter!« sagte er. »Nun!« »Ḥadschi-Bedrân-Agha hat Tôren-'Aischane nebst dem Baldachin geraubt als Ersatz für die Aepfel.« »Wohin ist er gezogen?« fragten sie. »Auf Kôtschḥassar zu.« Da eilten sie ihm nach. Unterwegs wurde Gändsch-Chalîl-Agha's Pferd müde, und so erreichte Ḥassan sie zuerst, als sie sich um die Mittagszeit gerade auf einer Wiese gelagert hatten. Auf sprangen sie und griffen Ḥassan an, der aber tödtete vierzig von ihnen, dagegen wurde sein Pferd verwundet. Nun kam auch Gändsch-Chalîl-Agha an und kämpfte mit ihnen, wärend Ḥassan zum Baldachin ging, Heilpulver herausnahm und seinem Pferde auflegte. Inzwischen war auch Gändsch-Chalîl-Agha verwundet worden, da bestieg Ḥassan dessen Pferd. Tôren-'Aischane aber pflegte Ḥassan's Pferd und den Gändsch-Chalîl-Agha. Als den beiden wieder wol war, stieg Gändsch-Chalîl-Agha auf und schlug mit Ḥassan die Soldaten Ḥadschi-Bedrân-Agha's in die Flucht. Tôren-'Aischane und die Maultiere, welche den Baldachin trugen, nahmen sie mit und kehrten nach Hause zurück. Als sie dort bei einander nassen, hob Gändsch-Chalîl-Agha an: »Hast du gesehen, Ḥassan, wie ich mit den Soldaten verfahren bin?« »Ich hab's getan,« erwiderte jener, »ich habe die Soldaten todtgeschlagen.« So stritten die beiden mit einander, da zog Ḥassan sein Schwert: er zückte es nur gegen Gändsch-Chalîl-Agha's Kopf, da war dieser schon auf der Stelle todt. Ḥassan aber liess Tôren-'Aischane auf dessen Pferd steigen und zog in seine Heimat. Dort baute er ihr Schlösser und heiratete sie. Sein Name würde in der ganzen Welt berühmt. Sie gebar ihm einen Sohn, einen Tollkopf.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 192-195.
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