LIX.

[232] Mîr Kanûn, der Fürst der Katzen, war gestorben, und die Katzen waren ohne Fürst. Da kam drei Jahre lang Teuerung über das Land, nichts blieb mehr zum Essen übrig. Die Kamele starben, und sie assen deren Fleisch, die Knochen trockneten sie, mahlten sie und machten Brot daraus. In dieser Not beriefen die Grossen unter sich eine Versammlung und sagten: »Lasst uns Rat schaffen für das Land.« Da sagten einige: »Es ist da ein Grindkopf, ruft den, damit wir sehen, was er sagt; der Grindkopf hat[232] Verstand.« Sie suchten also den Grindkopf auf, um ihn herbei zu rufen, und trafen ihn, wie er gerade ein Bedürfniss befriedigte, zugleich ein Stück Weizenbrot ass und mit der einen Hand seinen Kopf kratzte. »Auf, Grindkopf!« sagten sie zu ihm. »Wohin?« »Zur Rats Versammlung.« »Wozu soll ich dorthin kommen?« wandte er ein. Sie nahmen ihn aber mit, und er trat in die Versammlung ein. »Grindkopf!« sagten sie. »Ja!« »Schaffe uns Rat; das Land stirbt vor Hunger.« »Wer ist denn der Fürst?« fragte er. »Wir haben keinen Fürsten.« »Dann macht Seidîn zum Fürsten, er soll einen Ort aufsuchen, wo keine Teuerung herrscht.« Da machten sie Seidîn, den Sohn Mîr Kanûn's, zum Fürsten. Er brach nebst zwei andern auf und zog in der Welt umher, um einen Ort ausfindig zu machen, wo sich billig leben liesse. Nach einer Reise von zehn Tagen kamen sie zu einem grossen Flusse, den sie nicht zu überschreiten vermochten. Sie legten sich an demselben schlafen. In der Nacht, als sie schliefen, kam ein Wolf an den Rand des Wassers und rief den Wölfen zu. Diese antworteten: »Was willst du?« »Ich sterbe vor Hunger auf dieser Seite des Wassers.« Da rief diesem hungrigen Wolfe, wärend Seidîn lauschte, ein anderer vom jenseitigen Ufer zu: »Geh durch's Wasser und komm zu uns, wir leben hier im Ueberfluss.« Der Wolf ging also durch's Wasser, an einer Stelle, wo es nicht tief war. Seidîn aber machte ein Zeichen an dem Orte, wo der Wolf hinübergegangen war. –. Am Morgen standen die beiden Kater und Seidîn auf, gingen über das Wasser, bestiegen die Kamele und kamen vor eine Stadt, die Stadt der Mäuse. Der Fürst der Mäuse hiess Senâti. Er hatte eine Tochter, die wohnte für sich allein mit zwei Mäusen als Dienern. Sie hatte einen Garten, auf welchen ihre Fenster gingen. Gerade vor diesem Garten stieg Seidîn mit den Katern ab; sie lagerten sich, schliefen ein und kümmerten sich nicht um die Kamele, welche sich im Garten zerstreuten. Als die Tochter des Senâti hinausschaute, sah sie die Kamele im Garten zerstreut denselben abweiden. Als nun Seidîn die beiden Kater ausschickte, nach den Kamelen zu suchen, sagte man ihnen, die Tochter des Senâti habe die Kamele wegbringen lassen. Sie begaben sich zu dieser und fragten: »Wo sind unsere Kamele?« »Die sind bei mir«, gab sie zur Antwort. »So gib sie uns«, baten sie. »Warum habt ihr sie in den Garten gelassen?« warf sie ihnen vor. »Wir schliefen.« »Sie haben den Garten verwüstet.« Darauf liess sie die beiden in's Gefängniss werfen; sie aber baten: »Lass uns frei, damit wir[233] zu unserm Fürsten, dem Seidîn, gehen.« »Wo ist denn Seidîn?« fragte sie. »Er sitzt da beim Garten.« Da befal sie den Mäusen: »Ruft ihn!« Sie gingen ihn rufen, und Seidîn kam zu dem Mädchen. Sie fragte ihn: »Wesshalb hast du die Kamele in den Garten gelassen?« »Wir schliefen«, gab er zur Antwort. »So bleibe du bei mir als Pfand für den Garten, und diese beiden will ich aus dem Gefängnisse hinauslassen und ihnen die Kamele geben.« Sie liess sie frei und gab ihnen die Kamele, Seidîn aber blieb als Pfand gefangen. Er sagte zu den beiden Katern in einer andern Sprache: »Geht, lasst alle Katzen der Stadt aufbrechen, sie und ihre Familien, sie sollen in dieses Land kommen, hier ist's billig.« Da gingen die beiden Kater, nahmen die Kamele mit sich und stiegen jeder auf eines; das Kamel Seidîn's, welches leer blieb, zogen sie hinter sich her. So kamen sie in das Katzenland. »Wo ist Seidîn?« fragte man sie. »Der ist dort geblieben«, entgegneten sie. Aber die Einwohner der Stadt glaubten ihnen das nicht, sondern sagten: »Man hat ihn wol getödtet.« Da beschworen die beiden Kater, dass man ihn nicht getödtet habe. Darauf veranlassten sie alle Katzen, nebst ihren Familien aus der Stadt weg zu ziehen. Unterwegs stiessen sie auf das Heer der Maulwürfe und liessen sich in eine Schlacht mit ihnen ein. Aber die Maulwürfe tödteten viele von den Katzen, nahmen zweihundert nebst ihren Familien gefangen, und führten sie vor ihren König. Da flohen die übrigen Katzen. Als sie in das Land kamen, in welchem Seidîn gefangen sass, schlugen sie ihre Zelte bei jener Stadt der Mäuse auf. –. Die Tochter des Senâti hatte inzwischen den Seidîn zum Manne genommen. Ihr Vater, der Senâti, hatte zwar gesagt: »Es will mir nicht in den Sinn, dass du den Seidîn heiratest«, aber sie hatte geantwortet: »Ich nehme ihn«, und so hatte sie ihn geheiratet, ohne auf ihren Vater zu hören. Seidîn aber sagte zu ihr: »Ich will deinen Vater und die Mäuse tödten; ist's dir recht? oder nicht?« »Tödte sie, du hast die Erlaubniss dazu«, antwortete sie. Nun hatte sie eine Maus als Diener bei sich. »Diese tödte nicht«, bat sie, »aber die andern tödte alle, sie und meinen Vater.« Da schickte er die Maus, seinen und seiner Frau Diener, nach den Katzen und sagte: »Sie sind in den Zelten, sage ihnen: Kommt alle ohne eure Familien zum Seidîn, lasst die Familien dort.« Der Diener, die Maus, begab sich zu den Katzen. Als diese aber die Maus sahen, sagten sie: »Wir wollen sie tödten.« Sie erklärte jedoch: »Ich bin der Diener des Seidîn.« Da tödteten sie sie nicht, sondern fragten: »Wesshalb[234] bist du gekommen?« »Mich hat Seidîn zu euch geschickt«, erwiderte er, »er lässt sagen: sie sollen kommen, aber die Familien und die Weiber sollen sie da lassen.« Da gingen die Katzen mit der Maus, in der Nacht kamen sie zum Seidîn, und das Schloss Seidîn's füllte sich mit Katzen. Das Mädchen, die Frau Seidîn's, fragte ihn: »Sind viele in deinem Heere?« »Viele«, antwortete er. »In der Stadt meines Vaters sind auch viele«, entgegnete sie. »Schon gut!« beruhigte er sie. Sie schliefen nun bis zum Morgen, am Morgen standen Seidîn und die Katzen auf, fielen über die Stadt der Mäuse her und tödteten den Senâti und die ganze Stadt; von der ganzen Stadt blieb Niemand übrig, ausser der Frau und dem Diener. Seidîn aber entsandte die Katzen mit dem Befehl: »Holt eure Familien, damit wir hier in der Stadt wohnen.« Da brachten sie ihre Familien in die Stadt, Seidîn gab jedem von ihnen ein Haus, und sie bauten die Stadt wieder so auf, wie sie früher war. Darauf fragte er: »Wo sind die andern Katzen?« Man antwortete ihm: »Wir kämpften mit den Maulwürfen, die tödteten einen Teil von uns, und einen Teil nahmen sie gefangen, die sitzen bei ihnen gefangen.« Da bildete er ein Heer aus den Katzen und zog in das Land der Maulwürfe, auch die Maus, den Diener, nahm er mit sich. Er befal ihr: »Begib dich zum König der Maulwürfe und sieh zu, ob er unsere Gefangenen getödtet hat oder nicht?« »Ich gehe«, erwiderte die Maus. Gegen die Mäuse haben die Maulwürfe nichts, so konnte sie ungestört bis in den Palast des Königs durchdringen, dort sah sie die Katzen gefangen, kehrte zurück und berichtete dem Seidîn: »Sie sind noch gefangen, man hat sie noch nicht getödtet.« Darauf führte Seidîn die Katzen zum Kampfe gegen die Maulwürfe. Der Palast des Königs war vor der Stadt gelegen, die Katzen drangen in denselben, nahmen ihn ein und tödteten den König. Seidîn befreite die Gefangenen nebst ihren Familien; die Kinder des Königs und seine Frauen erwürgte er. Der König hatte aber eine schöne Tochter, die tödtete Seidîn nicht, sondern liess sie für sich am Leben. Darauf kam er in die Stadt selbst; dort tödteten sie viele von den Maulwürfen; einige aber flohen unter die Erde, und die Katzen konnten sie nicht herausholen. Als Seidîn darauf mit seinen Katzen in's Land der Mäuse in die Stadt zurückkehrte, fanden sie Niemand in derselben. Es waren nämlich die Mäuse, welche draussen vor der Stadt wohnten, die Dorfbewohner, gekommen und hatten die Stadt geplündert und die Tochter des Senâti weggeführt. Als nun Seidîn in die Stadt kam, fragte er: »Wer hat uns[235] geplündert und meine Frau weggeführt?« Man antwortete ihm: »Die Mäuse.« Da zog er mit seinen Katzen vor die Stadt und steckte jedes Dorf, zu welchem immer er kam, in Brand. Nachdem er alle Dörfer der Mäuse verbrannt und seine Frau zurückbekommen hatte, kehrte er nach Hause in die Stadt zurück und hatte nun zwei Frauen, die Tochter des Königs der Maulwürfe und die Tochter des Senâti. Einst sagten die beiden in seiner Abwesenheit zu einander: »Er hat unsere Väter getödtet; wie sollen wir uns an ihm rächen?« Da sagte die Tochter des Maulwurfskönigs: »Wir wollen ihm Gift in's Essen tun.« Sie taten ihm Gift in's Essen, Seidîn ass davon und starb. –. Von den Katzen wagte Keiner seine Frauen zu nehmen, die beiden blieben daher allein im Schlosse, wärend die Katzen in der Stadt wohnten. Darauf schrieben die beiden einen Brief, gaben ihn der Maus, dem Diener, und sagten: »Bringe ihn zu Abu Derwisch, dem Fürsten der Eichhörner«, und sprich: so lassen dir die Tochter des Königs der Maulwürfe und die Tochter des Senâti sagen: ›Komm du mit den Eichhörnern in die Stadt des Senâti und kämpfe mit den Katzen, denn sie haben unsere Väter getödtet; wenn du kommst, so nehmen wir dich zum Manne.‹ Die Maus ging hin und überbrachte den Brief dem Abu Derwisch. Dieser las denselben und küsste ihn; dann erhob er sich und bot die Eichhörner insgesamt auf, zog gegen die Stadt des Senâti und lieferte den Katzen eine Schlacht. Die Eichhörner schlugen die Katzen, Abu Derwisch nahm die Stadt ein und heiratete die beiden Frauen. –.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 232-236.
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