IX.

[28] Es war einmal ein Mann, der hatte weder Mutter noch Vater mehr; aber er besass viel Geld, sein Name war Ḥosein der Jäger; denn jeden Tag ging er auf die Jagd. Die Leute rieten ihm zu heiraten; er aber sagte: »ich mag nicht heiraten«. Da bekam sein Oheim eine Tochter; und sobald diese zur Welt gekommen war, nahm er sie an sich und trug sie nach Hause. Dort liess er sie auferziehen, indem er sie einer Amme übergab. Als das Mädchen herangewachsen und mannbar geworden war, rief er den Molla und liess sie sich antrauen. Darnach traf er einen schwarzen Sclaven und sagte zu ihm: »Willst du nicht als Diener bei mir bleiben?« »Ja«, antwortete dieser, »für wie viel den Monat?« »Dreihundert Piaster«. »Schön«. Da blieb der Schwarze. Wärend aber Ḥosein auf der Jagd war, schlief der Schwarze bei seiner Frau. Diese gebar darauf ein schwarzes Knäblein, und in Folge dessen tödtete Ḥosein sie, warf den Schwarzen zum Hause hinaus und blieb mit dem Knaben allein. Als dieser gross geworden war, liess er ihn sich verheiraten. Der Junge hütete den Fruchtgarten; als er einst Abends nach Hause kam, fand er seine eigene Frau in der Umarmung des Alten. Er griff zum Schwert und tödtete den Alten nebst der Frau. Darauf wurde sein Name weltberühmt, er hiess Kander, Kander mit dem Horn. Der Rat versammelte sich nicht ohne ihn; denn er besass vieles und zalloses Eigentum. Da sagte man ihm: »O Kander!« »Ja!« »Für dich passt die Tochter des Königs von Persien«. »Wo ist sie?« fragte er. »Im Perserland«, antwortete man ihm. Darauf traf er einen Derwisch; »Derwisch«, rief er. »Ja, Herr«. »Wohin willst du gehen?« fragte er. »Ich will in das Land der Perser«, entgegnete dieser. »Wenn ich dir einen Brief gebe, willst du ihn wol überbringen?« »Freilich«. »Ich will dich auch dafür belohnen,« sagte Kander. »Schön«, antwortete jener. Da schrieb er einen Brief, setzte seinen Namen darunter und versiegelte ihn mit seinem Siegel. »Gib diesen Brief«, sagte er, »der Tochter des Königs von Persien«. »Schön«, sagte er. »Von meiner Hand in deine Hand und unmittelbar in ihre Hand«. »Schön«, sagte der Derwisch und ging fort. Als er in's Perserland gekommen war, erkundigte er sich nach dem Aufenthalte des Königs von Persien, und man berichtete ihm: »Dort in der Stadt Schât-u-Ben'ât ist sein Palast«. Da ging der Derwisch fort und gelangte zu jener Stadt. Er erkundigte sich nach dem Palaste. Zu demselben gekommen,[29] ging er hinein und fragte: »Wo ist die Tochter des Königs?« »Im Zimmer des oberen Stockwerkes« antwortete man ihm; »warum (willst du zu ihr)?« »Ich komme von der Wallfahrt«, antwortete jener, »und habe ihr einen Gruss mitgebracht von dem (geistlichen) Schêch des Wallfahrtsortes«. »Dort ist die Prinzessin«, sagte man. Wie er nun hinaufgestiegen war und an die Thüre kam, sah er zwei Diener, ihre Leibwächter, vor derselben sitzen. »Wohin?« fragten diese; aber die Leute im Hofe riefen: »Lasst ihn zu unsrer Herrin hineingehen.« Er trat ein und begrüsste sie. »Tritt näher, Derwisch!« sagte sie. Da zog er den Brief hervor und übergab ihn ihr. Als sie ihn gelesen hatte, küsste sie ihn und legte ihn auf ihren Kopf. »Derwisch!« rief sie. »Ja!« »Gehe nicht fort, du hast keine Erlaubniss dazu«. Dann rief sie ihrem Diener. »'Osmân!« »Ja!« »Lege dem Derwisch Brot vor, damit er esse, und du Derwisch iss und bleibe bei mir«. »Schön«, antwortete dieser, ging und ass. Sie aber schrieb einen Brief, des Inhalts: »Kander, werde mein Mann und komm mich entführen«. Als sie den Brief geschrieben hatte, zog sie den Fingerring von Gold und Edelsteinen ab, legte ihn in den Brief, faltete denselben zusammen, rief dem Derwisch und sagte ihm, indem sie ihm denselben übergab: »Ueberbringe ihn und gib ihn dem Kander; ich will dir den Lohn dafür geben« Da nahm der Derwisch den Brief mit sich, machte sich auf den Weg und gelangte nach Môçul zu Kander. Er trat vor ihn, indem er seine Arme über der Brust kreuzte. »Willkommen, o Derwisch«, sagte jener, »erzäle!« Da zog er den Brief heraus und gab ihn dem Kander. Dieser las ihn, küsste ihn und legte ihn ebenfalls auf seinen Kopf; da kam der King im Brief zum Vorschein; Kander beschaute ihn und lachte; darauf küsste er ihn und steckte ihn sich an den Finger. Nun machte sich Kander auf und stieg zu Pferde; auch den Derwisch nahm er mit und liess ihn zu Pferde steigen. So reisten sie und gelangten in die Stadt Schât-u-Ben'ât. In einem Baumgarten liessen sie sich nieder und mieteten denselben vom Gärtner, indem sie ihm auftrugen, er solle an diesem Tage keinen Menschen in den Garten hineinlassen. Dieser willigte ein. Dann sandte Kander den Derwisch mit dem Auftrag: »Geh, rufe meine Herrin, sage ihr, sie möge heute den Garten besuchen, um sich zu vergnügen. Kander sitzt im Garten, auf dich wartend«. Der Derwisch ging hin, aber er musste Gewalt anwenden, dass sie ihn zur Prinzessin hineinliessen; diese jedoch rief von innen: »Lasst den Derwisch nur zu mir hineinkommen; sonst lasse ich euch den Kopf[30] abhauen«. Als der Derwisch vor sie getreten war, redete sie ihn an: »Nun? Derwisch!« »Auf!« sagte dieser, »Kander sitzt im Garten deiner harrend«. »Geh«, antwortete jene, »ich werde gleich erscheinen«. Da rief die Prinzessin ihrer Dienerin und sagte ihr: »Mache uns Butterwecken und Baqlâwa und sonstige Speise und fülle eine Flasche mit Brantwein; wir wollen in den Garten hinausgehen, um uns zu vergnügen«. In Begleitung ihrer Dienerin ging sie in den Garten und sah Kander mit dem Derwisch dort sitzen. Da traten die Prinzessin und ihre Dienerin näher, setzten sich zu ihnen, assen und tranken und vergnügten sich mit ihnen höchlichst. »Derwisch«, sagte Kander. »Ja!« »Hier nimm Geld, gehe, kaufe uns noch zwei Pferde«. Der Derwisch tat das und brachte die Pferde; und als sie sich in Bereitschaft gesetzt hatten, stiegen sie auf, Kander und der Derwisch jeder auf sein Pferd, und die Prinzessin nebst ihrer Dienerin jede auf ein Pferd, und ritten davon; als sie fünf Tage lang gereist waren, gab es Tumult in der Stadt und bei den Persern. Man fragte: »Was gibt's?« »Man hat die Tochter des Königs entführt«, hiess es. Der König in Begleitung von Soldaten stieg zu Pferde und verfolgte sie; eilig zogen sie ihnen nach und holten sie ein. Da liess sich Kander mit den Soldaten in einen Kampf ein; und wärend die Prinzessin mit ihrer Dienerin nach Môçul weiter zog, blieben Kander und der Derwisch zurück und kämpften. Kander tödtete viertausend von den persischen Soldaten; aber jene brachten den Derwisch in ihre Gewalt und tödteten ihn; denn sie sagten: »Dieser ist es, welcher die Frau entführt hat«. Kander aber zog weiter und holte die Prinzessin mit ihrer Dienerin ein. Darauf gelangte er nach Hause und wohnte daselbst. Er veranstaltete ein Hochzeitsfest mit Lustbarkeit und Tanz, und der Molla traute sie ihm an. Da kamen die Leute der Stadt herzu und sagten: »Gott, wie sie doch wunderbar schön ist!« Kander aber blieb fortan zu Hause und regierte über die Stadt.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 28-31.
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