[71] Der erste Teil dieses Stückes teilt uns eine kulturhistorisch interessante, sehr verbreitete Lokalsage mit; vgl. BSCHMIDT, GrM p. 26 f. und SARTORI, Die Sitte der Alten- und Krankentötung, Globus LXVII p. 107 ff. Der zweite Teil enthält den bekannten Schildbürgerstreich von der Ausmessung eines Brunnens, der sich auch in der indischen Schwanksammlung Bharaṭakadvátrinṣiká findet; vgl. über diese AUFRECHT, Cat. cod. sanscr. bibl. Bodl. Oxon. p. 155 f. und WEBER in den Monatsberichten der Kgl. Preuss. Ak. d. Wiss. 1860 p. 68 f. In der von SOCIN in ZDMG XXXVI p. 16 f. mitgeteilten Geschichte sind Kurden die Helden.
Es giebt im Gebiet der Ṭiâri einen Ort, der Qarqirjane genannt wird, und dieser Ort ist eine sehr tiefe Höhle. Die Ṭiâri hatten nun folgende Gewohnheit. Sobald jemand sehr alt wurde, nahm ihn sein Sohn auf den Rücken, ging hin und warf ihn in jene tiefe Schlucht Qarqirjane. Denn im Altertume herrschte bei ihnen diese Sitte.
Eines Tages war einer sehr alt geworden, und da kam sein Sohn und nahm ihn auf den Rücken, um hinzugehen und[71] ihn in die Qarqirjane zu werfen. Und als er ihn hinauftrug und an der Mitte ..... des Berges angekommen war, setzte er sich hin, um auszuruhen. Da schüttelte sein Vater den Kopf und seufzte. »Vater, warum seufzest du?« fragte der Sohn. Da antwortete ihm der Vater: »Mein Sohn, auch ich ruhte auf diesem Steine aus, als ich hinaufstieg, um meinen Vater in die Qarqirjane hinabzuwerfen.« – »Dann wird wohl auch mein Sohn mich herabwerfen«, fragte der Sohn. »Jawohl, mein Sohn«, erwiderte der Vater, »auch mit dir wird dein Sohn verfahren, wie du mit mir verfährst.« Sogleich trug er seinen Vater zurück nach Hause, und von jenem Tage an kam dieser Brauch ab.
Ein andermal verabredeten sich die Ṭiâri und sprachen: »Wir wissen nicht, wieviel Menschenhöhen die Qarqirjane tief sind. Auf! wir wollen sie ausmessen, damit wir es erfahren.« Stracks gingen einige Leute hin, um die Tiefe auszumessen. Oben an der Qarqirjaneschlucht stand eine Terebinthe. Da kam einer von jenen Leuten, fasste mit seinen Händen die dort stehende Terebinthe an und hängte sich unten an sie an. Dann kam ein anderer, der sich wiederum an seinen Freund anklammerte, indem er mit seinen Händen dessen Füsse festhielt, und so hing auch er herab. So hingen sie denn beide an einander. Dann kam noch einer, umfasste den oberen, dann den zweiten, und auch er hängte sich unten an die Füsse seines Freundes an.
Da wurden aber dem obersten die Hände sehr schlaff, und er rief seinen Genossen zu: »Haltet euch fest, damit ich mit meinen Händen die Terebinthe gut anfassen kann.« »Wir halten uns fest«, riefen sie. Da liess er seine Hände los, um hineinzuspucken und sie dann wieder an den Baum zu legen. Da stürzten aber alle drei herab, wurden zerschmettert und starben.