III
16. Die Zunge.

[144] Eine alte Anekdote. Sie findet sich bereits im Midrasch (Leviticus Rabbah. cap. 33 Anf.). Diese Stelle hat bereits GRÜNBAUM (Neue Beiträge p. 47 Anm.) mit ZAMACHŠARI und BEIDHÂWI zu Sure 31,11 verglichen. Sie wird auch von Äsop erzählt (EBERH., Fab. Rom. I p. 259 ff.). Die Mağâni (I p. 77) bringen sie aus QALYÛBI.1


Ein reicher Mann wollte einmal allen seinen Freunden ein Gastmahl geben. Zu diesem Zwecke rief er seinen zuverlässigen Diener und befahl ihm, alles zu kaufen, was zu einem guten Essen nötig sei. Der Diener ging, kaufte nur Zunge und bereitete daraus Speisen. Als nun die Freunde des Herrn sich zur Mahlzeit eingefunden hatten, fanden sie anfangs [die Speisen] sehr gut, schliesslich aber missfiel es ihnen, dass sie nur aus einem Gerichte bestand. Da zürnte der Herr über den Diener und sagte zu ihm: »Ich befahl dir doch, etwas Gutes und Wohlschmeckendes zu kaufen; warum machtest du es so, dass du ausschliesslich Zunge kauftest?« »Mein Herr!« antwortete der Diener, »ich habe nie etwas Besseres und[144] Angenehmeres gesehen als Zunge. Denn die Zunge ist das Band des Lebens, der Schlüssel zur Bildung und ein Werkzeug der Wahrheit und des Verstandes. Durch, sie bilden sich2 die Menschen und preisen sie Gott.«

Ein andermal befahl ihm sein Herr, etwas Schlechtes und Abscheuliches zu kaufen, da am folgenden Tage seine Freunde [wieder] bei ihm speisen würden. Da ging er und kaufte wieder ausschliesslich Zunge. Als sie nun zusammenkamen und beim Essen dasselbe fanden, geriet sein Herr in grossen Zorn und wollte ihn schlagen und züchtigen. Aber der Diener sprach: »Mein Herr! zürne nicht! denn es giebt nichts Schlechteres und Abscheulicheres als die Zunge. Ist sie doch die Ursache aller Wirren und Kämpfe, die Quelle des Mordes und das Werkzeug der Sünde und der Lüge. Auch lästert man mit ihr den Namen Gottes.« Als die Anwesenden dies hörten, sagten sie: »Fürwahr, dieser Diener könnte eine Philosophengeduld auf die Probe stellen.«3

1

Dieser verfasste ein Buch Nawâdir, d.h. Anekdoten; † 1069 d.H. (1659 n. Chr.).

2

Der Fellîḥitext hat »bilden«, aber die Übersetzung hat besser das Reflexiv.

3

Vgl. oben den ersten Satz in Anm. 1 auf p. 142.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 144-145.
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