VIII
Die entführte Frau.1

[195] Vgl. oben p. 108 ff.


Es war einmal eine Frau und ein Mann, die hatten zwei Kinder. Da sie sich in einer bedrängten Lage befanden, verliessen sie ihren Wohnort, um nach einem andern zu ziehen. Als sie ihres Weges zogen, überraschte sie der Sonnenuntergang in der Wüste. So blieben sie denn da. Nach einiger Zeit kam eine Karawane eines jüdischen Kaufmannes und lagerte in ihrer Nähe. Nun kamen die Knechte des Juden, um zu sehen, was für Leute das wären. Als sie hinkamen, sahen sie da eine über alle Maassen schöne Frau. Sie gingen zurück und erzählten es ihrem Herrn. Der Jude schickte dann etwa vier Diener, die kamen, nahmen die Frau mit Gewalt und[195] gingen weg. Und ihr Mann und ihre Kinder setzten sich hin und begannen zu weinen [und weinten], bis es hell wurde. Früh morgens liess der Jude seine Karawane aufbrechen, nahm die Frau mit und zog ab.

Die Kinder und der Mann blieben da und weinten. Sie weinten, bis sie [fast] erblindeten. Dann rafften sie sich auf und zogen ihres Weges, bis sie an einen Fluss kamen. Der Vater liess einen Sohn am Ufer des Flusses zurück und nahm den andern auf die Schultern,2 um den Fluss zu überschreiten. Als er in der Mitte des Flusses angekommen war, kam ein Wolf, packte den Knaben, der am Ufer des Flusses war, und lief weg. Der andere Knabe, der vom Vater getragen wurde, rief: »Vater! Vater! mein Bruder ist von einem Wolfe ergriffen worden.« Als der Vater das sah, erschlafften seine Arme, und er begann ein Geschrei und einen Lärm gegen den Wolf zu erheben. Dieser packte aber den Sohn und lief weg.

Infolge des Schmerzes und der Verwirrung des Vaters glitt der Sohn von dessen Schultern herab und fiel ins Wasser. Und der Vater wurde verwirrt und begann zu weinen. Er lief dem Wolfe nach, holte ihn aber nicht ein. Er folgte dann dem, der ins Wasser geraten war, doch auch diesen konnte er nicht mehr erreichen. Da ging er nach dem andern Flussufer hinüber, setzte sich da hin und begann zu weinen. So war die Frau weg, und die Kinder waren weg, und er blieb allein und hatte keine Tröster!

Wir wollen den Vater dort zurücklassen und uns zu den Kindern wenden. Der eine Knabe, der ins Wasser gefallen war, wurde von Müllern an einer Mühle aufgegriffen, und der andere, der von dem Wolfe weggetragen worden war, wurde diesem von Hirten aus dem Maule gerissen. Die Hirten und die Müller waren aus einem und demselben Dorfe. Ein jeder[196] wurde von einem der Dorfbewohner angenommen und erzogen, und sie wuchsen beide zu Jünglingen heran.

Lassen wir die Kinder und wenden wir uns dem Vater zu. Der Vater ging nach einer Stadt, wie die Stadt Mossul, und blieb da einige Tage. Der König jener Stadt starb nach einigen Tagen, und die Bewohner wollten einen neuen König einsetzen. Da liessen sie den Vogel der Herrschaft los,3 und dieser schoss auf jenen Armen herab. Aber die Bewohner der Stadt waren mit ihm nicht zufrieden, sondern nahmen den Vogel und liessen ihn ein zweites Mal los. Und wiederum schoss er auf jenen Armen herab. Aber sie sagten: »Wir nehmen ihn noch nicht an« bis zum dritten Male. Als er sich aber wiederum auf ihn herabliess, sagten sie: »Das ist von Gott.« Nun nahmen sie ihn und machten ihn zum König über die Stadt.

Als er König geworden war, sagten die Bewohner des Dorfes, in dem die Knaben lebten: »Auf, wir wollen die beiden Knaben dem neuen König als Geschenk bringen.« Sie nahmen die beiden Knaben und brachten sie als Geschenk zum König, und sie blieben bei ihm. Aber er wusste nicht, dass es seine Kinder waren, und sie bedienten ihn, bis eines Tages der erwähnte Jude kam, derjenige, der die Frau gefangen hatte. Seine Karawane lagerte vor der Stadt, und er kam zum König, um ihn um Wächter zu bitten, die ihm in der Nacht Wächterdienste leisten sollten. »Aber ich verlange, dass es zuverlässige Wächter seien«, sagte er. Der König bestimmte dazu seine beiden Kinder, und diese gingen des Nachts hin und setzten sich zur Wacht vor jenem Kasten nieder, in dem sich ihre Mutter befand. Daselbst sassen sie, bis die Nacht anbrach. Da sagte einer zum andern: »Erzähle uns ein Abenteuer, das dir begegnet ist.« Der andere sprach: »O, was soll ich dir sagen, Freund! Was mir widerfahren ist, ist noch keinem Menschen widerfahren. Was soll ich dir erzählen?[197] Den Fall, dass ein Jude meine Mutter weggeführt hat? Oder den Fall, dass ich und mein Vater einen Fluss überschreiten wollten, und dass da mein Bruder von einem Wolfe gepackt wurde? und als ich es dann meinem Vater sagte, ich infolge seiner Angst und seines Schmerzes von seinen Schultern herabfiel und davonschwamm, dann von Müllern an einer Mühle aufgegriffen wurde und nach dem Dorfe kam, in dem ich dann lebte?« Bevor er noch mit seiner Erzählung fertig war, sprang sein Bruder auf, fiel ihm um den Hals und begann ihn zu küssen. »Du bist mein Bruder!« rief er, »und ich bin jener dein Bruder, der vom Wolfe davongetragen wurde!«

Ihre Mutter hörte ihren Sohn. Da erbrach sie den Kasten, sprang heraus, fiel ihren Kindern um den Hals, umarmte sie und begann sie zu küssen. In dem Augenblicke wachte der Jude auf. Da erhob er sich, ging zum König und beklagte sich über sie, nämlich: »Jene zwei Diener, die du beauftragt hast, meine Karawane und meine Habe zu bewachen, erwiesen sich als unzuverlässig. Denn sie erbrachen den Kasten meiner Frau und schliefen bei ihr.« Er setzte zehn in vierzehn.4 Da ergrimmte der König sehr und schickte sofort nach ihnen, liess sie vor sich bringen und sprach zu ihnen: »Was habt ihr da gethan?« Sie antworteten: »Effendim! erlaube uns unseren Fall zu erzählen. Nun erzählten sie ihren Fall von Anfang bis zu Ende. Als sie mit ihrer Erzählung fertig waren, wusste auch der Vater, dass sie seine Kinder und jene seine Frau war. Sofort konfiszierte er das ganze Vermögen des Juden und liess ihn an die Schwänze von vier Pferden binden. Seine Kinder und seine Frau blieben bei ihm, und sie freuten sich über einander, und die Bewohner der Stadt freuten sich mit ihnen. Dann priesen sie Gott, der sie noch in dieser Welt, vor dem Tode, wiedervereinigt hatte.«

1

Im Texte: »Geschichte eines Mannes und einer Frau«.

2

B hat hier noch »und schlug« den Text hineingeraten ist.

3

Vgl. oben p. 101 und n. 2.

4

Randglosse in C: »Er machte viele Worte in der Zeit« (?).

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 195-198.
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