IX
Der Holzhauer und die vierzig Dünnbärte.1

[198] Es war einmal eine Wittwe, die hatte einen Sohn. Täglich pflegte er eine Last Holz zu bringen und sie für Brod für sich und seine Mutter wegzugeben. Eines Tages, als er Holz fällte, fing er einen Vogel, der alle Farben der Welt an sich hatte. Als er sich dann nach der Stadt begab, begegnete er vierzig Dünnbärten. »Was hast du da?« fragten sie ihn. »Diesen Vogel habe ich«, antwortete er, »ich möchte ihn verkaufen.« »Gieb ihn her«, sagten sie, »wir wollen ihn kaufen.« Nun nahmen sie ihn ihm ab, und einer reichte ihn dem andern und liessen ihn verschwinden: dahin, dorthin sei sein Vogel geflogen. »Ihr sollt mir auf den Bauch treten«, sagte er, »wenn ich euch nicht den tausendfachen Preis des Vogels abnehme; dann erst will ich von euch lassen.« Er ging dann hinter ihnen her und hörte sie sagen: »Morgen wollen wir in das und das Bad gehen, um zu baden.« Dastand er am folgenden Tage früh auf, begab sich in jenes Bad und sagte zum Badebesitzer: »Um welchen Preis willst du mir für heute das Bad überlassen? Nimm dir zwanzig Piaster mehr als du täglich einnimmst.« Der Badebesitzer überliess ihm darauf das Bad und entfernte sich. Als es Tag war, kamen sie, zogen ihre Kleider aus und traten ins Bad, um sich zu waschen. Nun auf, du Vogler! raff ihre Kleider zusammen und entferne dich! Als sie mit dem Baden fertig waren, gingen sie heraus: da, dort sollten ihre Kleider sein, aber ihre Kleider waren weg, und der Badebesitzer war auch weg. So standen sie denn im Bade nackt da. Da kam er, als ob er von der Sache keine Ahnung hätte und nicht wüsste, was da los wäre. Da riefen sie nach ihm und sprachen: »Sei so gut,[199] kennst du nicht unsere Wohnung?« »Gewiss«, sagte er. »Dann geh«, baten sie, »sage unsern Angehörigen, dass sie dir vierzig Anzüge geben und die bringe hierher. Unsere Sachen sind im Bade gestohlen worden.« Er lief nun in aller Hast nach ihrer Wohnung und erzählte ihren Angehörigen: »So steht es, das ist vorgefallen: Eure Kinder wuschen sich im Bade, da wurden ihre Sachen gestohlen. Gebet mir vierzig Anzüge, damit ich sie ihnen hintrage.« Da gaben sie ihm vierzig Anzüge. Er ging aber nach Hause und liess jene nackt im Bade. Sie blieben da bis spät in den Nachmittag hinein, und als sie sahen, dass ihre Sachen nicht ankamen, legte ein jeder seine Hände auf die Hoden, und sie schlichen sich durch eine Seitengasse nach Hause. Hier begannen sie mit ihren Frauen zu zanken. Aber diese sagten: »Es kam ein Mann, dem gaben wir Kleider, und er ging weg.« Da sahen sie, dass an der Hausthür geschrieben war: »Ich bin der Vogler, das ist erst das Präludium2, nachher kommt noch das Finale3.« An der Thür des Bades wiederum fand man folgendes geschrieben: »Sehet zu, dass ihr euch nicht an den Hals des Badebesitzers oder sonst eines Menschen haltet. Ich bin der Vogler, das ist erst das Präludium, nachher kommt noch das Finale.« Sie wurden traurig; was sollten sie thun, was sollten sie lassen: sie irrten herum, und er immer hinter ihnen her und liess sie nicht los, denn er wollte sehen, was sie sagen, was sie erzählen würden. Sie verabredeten nun, sich am folgenden Tage nach der Wüste zu begeben, um da spazieren zu gehen und ihren Ärger zu vertreiben. Sie befahlen darauf ihren Frauen, ein gutes[200] Essen zu bereiten und es demjenigen zu geben, der den grossen Finger der grössten unter ihnen anfassen würde. Der Vogler hatte aber gehorcht. Sie begaben sich am folgenden Tage nach der Wüste, und ihre Frauen machten sich daran, das Essen zu bereiten. Als nun der Vogler, vermutete, dass das Essen gekocht war, rief er ungefähr dreissig, vierzig kleine Jungen zusammen, ging ans Haus jener Dünnbärte, trat ein, fasste den Finger der grössten unter den Frauen an und sprach: »Eure Männer sind hungrig; sie schicken mich, dass ich ihnen Essen bringe.« Die Frauen legten dann die Speisen [in Gefässe], gaben sie dem Vogler, und der gab sie den kleinen Jungen zu tragen, und sie gingen weg. Als sie mitten auf den Markt kamen, sagte er zu den Knaben: »Gehe ein jeder nach Hause, und was man ihm übergeben hat, gehört ihm.« Die Knaben gingen alle nach Hause, und auch er ging nach Hause. Er schrieb aber an die Thür ihres Hauses: »Dass ihr euch ja nicht an den Hals eines der Knaben haltet. Ich bin der Vogler. Das ist erst das Präludium, nachher kommt noch das Finale.«

Die Leute wurden hungrig und schickten nach Hause nach Essen, als aber ihr Bote ins Haus kam, sagten ihm die Frauen: »Seit wann haben wir nicht schon das Essen geschickt!« Sie warteten auf das Essen, es kam aber kein Essen, so dass sie [beinahe] Hungers starben. Darm gingen sie nach Hause und zankten und schimpften auf die Frauen. Diese aber sagten: »Was sollen wir thun? Es kam ein Mann, ergriff einen Finger der grössten unter uns und sprach: ›Ich bin von ihnen geschickt worden. Gebet mir das Essen, dass ich es hintrage.‹ Und er nahm das Essen und ging weg.« Da sahen sie, dass an der Hausthür geschrieben stand: »Haltet euch ja nicht an den Hals irgend jemandes. Ich bin der Vogler, das ist erst das Präludium, nachher kommt noch das Finale.« »Was sollen wir anfangen?« fragten sie einander, »der Mensch wird uns noch den Garaus machen.« »Auf! verklagen wir ihn!« sagten sie. Das hörte er aber.[201] Da machte er sich auf, übernahm einen Laden in der Strasse, in der sich der Justizpalast befand, und setzte sich dort hin. Als sie nun hingingen, um sich zu beklagen, sagten sie zu einander: »Kommt, wir wollen uns erst mit einem verständigen Manne beraten, und dann wollen wir gehen, um uns zu beklagen. Sie sahen dann nach dieser Seite und nach jener Seite und erblickten den Mann in einem abseits liegenden Laden sitzen. ›Traun!‹ das ist ein kluger Mann!« riefen sie aus. »Auf! wir wollen uns mit ihm beraten.« Sie gingen hin, setzten sich neben ihm hin und sagten: »Unsere Lage und Geschichte ist die. Ein Mann ärgert uns fortwährend und hat uns auch schon grossen Schaden zugefügt. Nun wollen wir ihn verklagen gehen.« »Wie wollet ihr ihn verklagen gehen«, erwiderte er, »während ihr diese kostbaren Gewänder traget? Der Gerichtshof wird zu euch sagen, dass ihr betrügen wollet. Wenn ihr vielmehr ihn verklagen wollet und auch wollet, dass der Gerichtshof auf euch hört, dann ziehet eure Gewänder aus und lasset sie hier und behaltet nur die Untergewänder an. So gehet euch beklagen, dann wird der Gerichtshof auf euch hören und sagen: ›Sie sind im Recht‹.« »Traun! das ist ein kluger Mann, und er hat Recht«, riefen sie aus. Alle zogen nun ihre Gewänder aus, legten sie bei ihm nieder und gingen dann nach dem Gerichtspalast, um Klage zu führen. Nun auf, du! raffe alle ihre Gewänder zusammen, schliesse den Laden und schreib' an die Ladenthür: »Ich bin der Vogler, dass ihr euch ja nicht an den Hals des Inhabers des Ladens haltet. Das ist erst das Präludium, nachher kommt noch das Finale.«

Als sie sich im Gerichtspalast beklagt hatten, kamen sie an den Laden zurück, aber siehe da, der Laden ist geschlossen, und kein Mensch ist da. Nun fragten sie die Leute, die dort waren, nach dem Inhaber des Ladens, aber die sagten ihnen: »Dieser Laden steht leer, und es ist kein Mensch darin. Erst heut kam jemand, öffnete ihn auf kurze[202] Zeit und ging dann wieder weg.« Nun sahen sie nach der Ladenthür, und da stand folgendes geschrieben: »Dass ihr euch ja nicht an den Hals irgend jemandes haltet. Ich bin der Vogler, dieses ist erst das Präludium, nachher kommt noch das Finale.« Nun machten sie sich auf und gingen in den blossen Untergewändern nach Hause. Da fragten sie einander: »Was sollen wir anfangen und wie?« Sie sagten: »Auf! wir wollen nach Baghdad fliehen, damit wir ihm entrinnen, sonst macht er uns noch den Garaus.« Er hatte ihnen aber gelauscht. Am folgenden Tage früh band er nun einen Kelek zusammen und machte sich zur Abfahrt bereit. Als sie dann kamen, sahen sie einen Kelek, der zusammengebunden und zur Abfahrt bereit war. »Wohin soll dein Kelek abgehen?« fragten sie ihn. »Nach Baghdad«, sagte er. »Willst du uns nicht darin aufnehmen?« – »Ich fürchte euch alle darin aufzunehmen«, sagte er. »Ihr seid solche Kerle, und ihr trampelt noch auf dem Kelek herum, und dann kippt er um. Wenn ihr aber damit einverstanden seid, dass ich euch mit diesem Strick aneinander binde und gerade hinlege, dann her, setzet euch; wo nicht, nehme ich euch nicht auf.« Sie erklärten sich damit einverstanden, dass er sie alle mit dem Stricke festbinde und sie hinlege, wie er wolle. Nun band er sie ordentlich fest, legte sie auf den Kelek und machte sich daran, nach Baghdad abzufahren. Als sie sich eine Strecke von der Stadt entfernt hatten, sagte er zu ihnen: »Wie wollt ihr nun aus meinen Händen entkommen? Ich bin der Vogler.« »Um Gottes- und deinetwillen«, riefen sie. »Wir haben [wohl dir etwas an]gethan, aber thue du [uns] nichts.« Er sprang aber sogleich aus dem Kelek, trat unter denselben und warf ihn um. Sie ertranken alle im Wasser, er aber ging nach Hause und sass da ungestört.

1

Im Texte: »Geschichte einer Frau und ihres Sohnes«.

2

? – Die arabischen Übersetzungen haben auch nur trnînî und trnânâ. Doch hat Cod. 148 hinter dem ersteren Worte noch (ѕlba) und 147 am Rande nau' ġanâ–zmârâ. tirnînî scheint also den Anfang eines bestimmten oder überhaupt eines Liedes zu bezeichnen, und tirnânâ dann wohl das Ende oder sonst einen Teil in demselben. Sind die Wörter nun bedeutungslose Lautkombinationen, oder darf man sie mit rannana in Zusammenhang bringen?

3

? – Die arabischen Übersetzungen haben auch nur trnînî und trnânâ. Doch hat Cod. 148 hinter dem ersteren Worte noch (ѕlba) und 147 am Rande nau?ġanâ–zmârâ. tirnînî scheint also den Anfang eines bestimmten oder überhaupt eines Liedes zu bezeichnen, und tirnânâ dann wohl das Ende oder sonst einen Teil in demselben. Sind die Wörter nun bedeutungslose Lautkombinationen, oder darf man sie mit rannana in Zusammenhang bringen?

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 198-203.
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